Das Sprachverständnis des Paulus im Rahmen des antiken Sprachdiskurses

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Das Sprachverständnis des Paulus im Rahmen des antiken Sprachdiskurses
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Nadine Treu

Das Sprachverständnis des Paulus im Rahmen des antiken Sprachdiskurses

Narr Francke Attempto Verlag Tübingen

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© 2018 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

www.francke.de • info@francke.de

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E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen

ePub-ISBN 978-3-7720-0011-9

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Inhalt

  Meinen Eltern

  Vorwort

 I. Einführung in die Themenstellung, den Stand der Forschung und die Vorgehensweise1. Einführung in die Themenstellung2. Stand der Forschung3. Von der antiken Sprachphilosophie über Philon zu Paulus: Begründung der Vorgehensweise

 II. Die Entwicklung der Sprachphilosophie von ihren Anfängen bis zur Stoa: Eine Einführung in die zentralen Fragestellungen und Autoren der antiken Sprachphilosophie1. Vorbemerkungen2. Die magisch-mythische Sprachauffassung und die Anfänge sprachphilosophischen Denkens3. Die Vorsokratiker Heraklit und Parmenides4. Platon5. Aristoteles6. Die Stoa7. Zusammenfassung der zentralen Fragestellungen

 III. Das Sprachverständnis Philons von Alexandria unter besonderer Berücksichtigung des Traktats De confusione linguarum1. Vorbemerkungen2. Einführung in die Forschungsliteratur zum philonischen Sprachverständnis3. Analyse von De confusione linguarum § 9–153.1 De confusione linguarum im Gesamtwerk Philons3.2 Das Thema ‚Sprache‘ in De confusione linguarum3.3 Übersetzung von De confusione linguarum § 9–153.4 Nachzeichnung der Argumentation von De confusione linguarum § 9–154. Entstehung, Voraussetzungen, Funktionen und Aufgaben der Sprache bei Philon4.1 Entstehung und Ursache der Sprache4.2 Voraussetzungen für die Wirksamkeit der Sprache4.3 Der Zusammenhang von Sprache und Erkennen4.4 Sprache als Namensgebung4.5 Sprache als Kommunikationsmittel4.6 Sprache als Kennzeichen einer Gemeinschaft und eines Sicherheitsgefühls4.7 Sprache als Bindeglied zwischen menschlichem Denken und Handeln und die daraus resultierenden Aufgaben4.8 Der Zusammenhang von Sprache, Gott und Mensch und die Rolle der prophetischen Rede4.9 Die Grenzen der Sprache4.10 Zusammenfassung der Funktionen von Sprache und Darstellung der daraus resultierenden Aufgaben und Ziele5. Das philonische Sprachverständnis im Rahmen der antiken Sprachphilosophie

 IV. Das Sprachverständnis des Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 141. Vorbemerkungen2. Analyse von 1 Kor 142.1 Übersetzung von 1 Kor 142.2 Kontextanalyse und Gliederung von 1 Kor 142.3 Grammatisch-argumentative Analyse von 1 Kor 142.4 Die Äußerungen des Paulus in ihrem thematischen Zusammenhang: Die Charismenlehre3. Entstehung, Voraussetzungen, Funktionen, Wirkungen und Ziele sowie Grenzen der Sprachgaben bei Paulus unter besonderer Berücksichtigung von 1 Kor 143.1 Entstehung und Ursache der Sprachgaben: Die Wirkung des πνεῦμα3.2 Verständlichkeit als Voraussetzung für die Wirksamkeit der Sprachgaben3.3 Funktionen, Wirkungen und Ziel verständlichen Sprechens3.4 Die Grenzen der Sprachgaben3.5 Zusammenfassung der Merkmale, Funktionen und Ziele des paulinischen Sprachverständnisses

  V. Das paulinische Sprachverständnis im Vergleich: Kontexte und Erträge 1. Das paulinische Sprachverständnis im Rahmen des antiken Sprachdiskurses 2. Das philonische und das paulinische Sprachverständnis 3. Das paulinische Sprachverständnis als eigene Stimme im gesamtantiken Sprachdiskurs 4. Der Ertrag des paulinischen Sprachverständnisses für das intellektuelle Profil des Paulus

  VI. Literaturverzeichnis 1. Quellen und Übersetzungen 2. Hilfsmittel 3. Sekundärliteratur

Meinen Eltern

Vorwort

Die vorliegende Arbeit wurde im Jahr 2016 als Dissertation der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg angenommen und für die Drucklegung leicht überarbeitet. Eine solche Arbeit kann nicht ohne Unterstützung erfolgen. Deshalb möchte ich mich bei den Personen bedanken, die mich in der Entstehungszeit der Dissertation in irgendeiner Weise begleitet und unterstützt haben:

Prof. Dr. Dr.h.c Oda Wischmeyer, herzlichen Dank für das Angebot zur Promotion, für die fachliche Unterstützung und für jede nette Unterhaltung über Philon, Paulus, Reisen, Kindererziehung u.Ä. Ich hoffe, wir führen diese Gespräche auch in Zukunft fort.

Prof. Dr. Lukas Bormann, danke für die Erstellung des Zweitgutachtens der Arbeit und für die langjährige Begleitung vom Grundstudium in Bayreuth an bis hin zur Promotion in Erlangen.

Dr. Maximilian Paynter, danke für die viele gemeinsame Zeit, die wir zusammen in unserem Zimmer in der Bibliothek verbracht und gearbeit haben; danke aber auch für die gemeinsamen Kaffeepausen und die fachlichen Unterhaltungen.

Dr. Daniel Wanke, danke für das Korrekturlesen der Arbeit und für das Mutmachen in allen Lebenssituationen.

Nina Irrgang, M.A., danke für das Korrekturlesen der Arbeit, stundenlanges Tüfteln über Philotexten und die langjährige Freundschaft.

Vom Narr Francke Attempo Verlag danke ich Isabel Johe und Vanessa Weihgold für die unkomplizierte Zusammenarbeit.

Den Herausgebern von NET danke ich herzlich für die Aufnahme in die vorliegende Reihe.

Für die finanzielle Unterstützung der Drucklegung bin ich der Evang.-luth. Kirche in Bayern, der Vereinigten Evang.-luth. Kirche Deutschlands und der Ilse und Dr. Alexander Mayer-Stiftung zu Dank verpflichtet.

Jana Kraus, Pia Neidhardt und Daniela Wallner, euch gilt ein ganz besonderer Dank für eure Freundschaft, in der ihr immer viel Geduld mit mir und meinen Fragen und Problemen beweist.

Ganz herzlich bedanken möchte ich mich bei meiner Familie, meinen Eltern Rosemarie und Gerhard Wedel, meiner Schwester Nicole Wedel und meinem Ehemann Tobias Treu für die Unterstützung in jeder denkbaren Lebenslage. Schön, dass wir eine solche enge Bindung haben und dass ihr immer für mich da seid.

Altenthann, Juni 2017

Nadine Treu

I. Einführung in die Themenstellung, den Stand der Forschung und die Vorgehensweise
1. Einführung in die Themenstellung

Eine Welt ohne Sprache wäre (…) eine sehr arme Welt. Aber vermutlich mehr noch: Es wäre eine Welt, in der es vieles, was uns in unserer Lebensform als wesentlich gilt, nicht gäbe. Eine menschliche Lebensform ohne Sprache ist wohl keine menschliche Lebensform.1

Was Georg W. Bertram in seiner Einführung in die Sprachphilosophie schreibt, gilt im 21. Jahrhundert ebenso wie für die Autoren der gesamten Antike und für Paulus im ersten nachchristlichen Jahrhundert. Nicht nur die Tatsache, dass Sprache zum Wesen des Menschen gehört, ist festzuhalten, sondern auch, dass es seit der Antike einen intensiven Diskurs über Sprache und ihr Wesen gibt; dieser stellt – die Stoa ausgenommen – allerdings keinen eigenständigen Bereich der Philosophie dar, sondern ist eingebettet in den der Ontologie, der Metaphysik oder der Erkenntnislehre.2 Auch für Paulus spielt die Sprache eine große Rolle; sie ist das Handwerkszeug, mit dem er arbeitet – ungeachtet dessen, dass er in 2 Kor 11,6 als unkundig in der Rede angefeindet wird. Sie ermöglicht es ihm, in Form von mündlicher Kommunikation, das Evangelium weiterzugeben, und dient ihm in schriftlicher Form dazu, mit seinen Gemeinden in Kontakt zu bleiben. Diese praktische Sprachtätigkeit des Paulus liegt nicht im Interesse der Untersuchung, sie kann und soll nicht in Bezug zu der aktiven Sprachtätigkeit der antiken Philosophen oder Philons gesetzt werden, obgleich auch Philon gelehrt und Vorträge gehalten hat. Es soll auch nicht erarbeitet werden, was Inhalte des paulinischen Sprechens und der paulinischen Verkündigung sind und wie die praktische Verwendung von Sprache durch Paulus aussieht. Es stellt sich vielmehr die Frage, ob Paulus, wenn er selbst in derart hohem Maß mit Sprache konfrontiert ist, sich auch auf einer theoretischen Ebene mit Sprache auseinandersetzt, ob er Fragen des antiken Sprachdiskurses aufgreift, und ob er als eigene Stimme in diesem Diskurs positioniert werden kann. Im Allgemeinen ist das für die paulinischen Briefe nicht der Fall. Paulus reflektiert Sprache auf theoretischer Ebene kaum, obwohl er fortwährend mit Sprache zu tun hat. Eine Ausnahme scheint 1 Kor 14 zu sein: Im Rahmen der Charismenlehre in 1 Kor 12–14 verwendet Paulus besonders konzentriert Vokabular aus dem Bereich ‚Sprache’. Das zeigt die folgende Übersicht, ohne dass dabei eine vollständige Untersuchung des lexikalisch-semantischen Paradigmas erfolgen kann und soll.3

 



Die Übersicht zeigt, dass Paulus zwar nicht alle Lexeme des Wortfelds ‚Sprache’ verwendet, dass die Lexeme dieses Wortfelds in 1 Kor 12–14 insgesamt aber gehäuft vorkommen. Das gilt v.a. für γλῶσσα, λαλέω, διδαχή, φωνή, ἑρμηνεύω/διερμηνεύω, ἑρμηνεία und διερμηνευτής. Die vier zuletzt genannten Lexeme werden ausschließlich in diesen drei Kapiteln verwendet. Die Lexeme γλῶσσα, λαλέω und φωνή sind auch in weiteren Paulusbriefen belegt, treten in 1 Kor 12–14 aber konzentriert auf. Besonders verdichtet ist das Vokabular aus dem sprachlichen Bereich in 1 Kor 14,6–12. Bereits im ersten Vers wird durch die Wendungen γλώσσαις λαλεῖν, λαλεῖν ἐν ἀποκαλύψει/ἐν γνώσει/ἐν προφητείᾳ/ἐν διδαχῇ der Fokus auf die sprachlichen Äußerungen gerichtet. In 1 Kor 14,7–11 finden sich alle Belege des Lexems φωνή für 1 Kor; von besonderem Interesse ist 1 Kor 14,10 f und die Formulierung δύναμις τῆς φωνῆς. Auch das Lexem λαλέω verzeichnet ¼ seines Vorkommens im 1. Korintherbrief in den genannten Versen.

Das Lexem λόγος kommt vergleichsweise selten vor, was zeigt, dass 1 Kor 14 nicht vorrangig geformte Sprache thematisiert und dass nicht der Inhalt einer sprachlichen Äußerung, wie etwa der λόγος τοῦ σταυροῦ, im Vordergrund steht. 1 Kor 14 beschäftigt sich in erster Linie mit den ‚formalen’ Aspekten von Sprache, mit deren Funktion, Wirkung und Ziel. Diese Ansicht wird dadurch unterstützt, dass Ausdrücke wie beispielsweise εὐαγγέλιον und κήρυγμα fehlen. Paulus stellt Überlegungen an, die auf die Funktionen und Wirkungen einer sprachlichen Äußerung gerichtet sind und deren ethische Relevanz betonen.

Die Begriffe, die zur Umschreibung der Charismen der Prophetie und der Glossolalie dienen, setzt Paulus in 1 Kor 12–14 besonders häufig ein. Das weist die prophetische und glossalische Rede als die beiden Sprachgaben aus, die für die Erarbeitung des paulinischen Sprachverständnisses von besonderer Bedeutung sind. Insgesamt gibt die konzentrierte Verwendung der Lexeme in 1 Kor 14, v.a. in 1 Kor 14,6–12, die dem Wortfeld Sprache zuzurechnen sind, Anlass, das Kapitel unter diesem Aspekt zu untersuchen.

Die genannte Texteinheit ist die älteste Quelle des Christentums für ein eigenes Sprachverständnis und liefert damit zugleich den historischen und sachlichen Ausgangspunkt für den Umgang des frühen Christentums mit Sprache. Daraus ergibt sich die exegetische Fragestellung der Arbeit: Welche Sicht hat Paulus auf das Thema ‚Sprache’? Die Steuerungsfragen können durch die Exegese von 1 Kor 12–14 und durch die Beschäftigung mit der Entwicklung der Sprachphilosophie differenzierter gestellt werden: Wie ist die Entstehung von Sprache zu denken? Wie funktioniert Sprache? Welche Relationen zwischen Wort und Sache können ausgemacht werden? Welche Funktionen, Aufgaben und Ziele hat Sprache? Wo werden Grenzen von Sprache deutlich? Paulus thematisiert diese Fragen zum Thema Sprache wie andere Themen situationsbezogen bzw. praktisch, indem er von einer konkreten Problemstellung in der Gemeinde ausgeht. Er behandelt das Thema Sprache nicht als Gegenstand einer eigenen thematischen Untersuchung, sondern äußert sich im Rahmen der Charismenlehre über den Nutzen solcher Gaben, die als Wort- oder Sprachgaben bestimmt werden können. Das führt ihn zu theoretischen Überlegungen, die Thema der Untersuchung sind. Um sie richtig verstehen und einordnen zu können, ist die Kenntnis des historischen Kontexts von Bedeutung; erst vor diesem Hintergrund können die Spezifika des paulinischen Sprachverständnisses als solche bestimmt werden und erst im Anschluss daran kann folgender Frage nachgegangen werden: Wie ist die paulinische Sprachauffassung im historischen Kontext positioniert?

Der antike Diskurs über Sprache wird als Sprachphilosophie bezeichnet. Der Terminus hat sich erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts etabliert.4 Allgemein kann Sprachphilosophie definiert werden als „die Aufgabe, den Begriff der Sprache aufzudecken, also grundlegende Fragen in Bezug auf Sprache zu beantworten.“5 Diese Fragen betreffen „die Entstehung, Entwicklung, Bedeutung und Funktion von Sprache“6. Dabei ist anzumerken, dass es nicht die eine Sprachphilosophie gibt, sondern eine große Anzahl an Fragestellungen, die unterschiedlich bearbeitet und beantwortet werden.7 Gelegentlich werden Sprachphilosophie und Sprachtheorie synonym verwendet. Erstere kann sinnvoll so definiert werden, dass sie die „phonetischen, syntaktischen, semantischen und pragmatischen Aspekte der Sprache als ihren genuinen Gegenstand“8 im Blick hat. Auf theoretischer Ebene hat wohl erst die Stoa all diese Aspekte betrachtet. Zuvor wird Sprache im Zusammenhang mit verschiedenen philosophischen Teildisziplinen behandelt. Die Autoren haben jeweils Teilbereiche, die zu einer Sprachtheorie gehören, im Blick, decken aber nicht alle Aspekte ab. Die Sprachphilosophie ist außerdem von der Sprachethik abzugrenzen. Sie ist nicht Teil der antiken Sprachphilosophien, wird aber einen Teil des philonischen Sprachverständnisses kennzeichnen.

Von einer paulinischen Sprachphilosophie kann nicht gesprochen werden, da Paulus sich nicht im Rahmen philosophischer Überlegungen mit Sprache beschäftigt; stattdessen wird sowohl für Paulus als auch für Philon der Begriff des Sprachverständnisses gebraucht. Dieser kann und wird sowohl sprachphilosophische und bei Philon auch sprachethische Aspekte in sich vereinen, lässt aber dennoch Raum für die paulinischen und philonischen Spezifika, weil er nicht den bereits vorhandenen Definitionen der Sprachphilosophie unterliegt.

2. Stand der Forschung

Die Forschungsbereiche bezüglich der Sprache des Neuen Testaments beziehen sich auf das konkrete Sprachsystem (langue), also das hellenistische Griechisch im ersten nachchristlichen Jahrhundert,1 und auf die realisierten Texte (parole).2 Das hellenistische Griechisch als Sprachsystem ist nicht Gegenstand dieser Untersuchung. Für den zweiten Bereich, der parole, lassen sich hauptsächlich Analysen zu den Argumentationsstrukturen biblischer Texte,3 zu Rhetorik,4 Semantik5 und Stil6 finden.

Das Sprachverständnis des Paulus hat in der ntl. Forschung bisher keine eigene thematische Bearbeitung gefunden, so dass die Arbeit keine bereits vorliegenden Forschungsdiskurse weiterführen kann, sondern ihre Fragestellung selbst anhand der Textanalysen erarbeiten muss. In Fachlexika wird in den Artikeln zur Sprache regelmäßig auf die Ausgangskapitel dieser Arbeit hingewiesen;7 dies hat im Wesentlichen aber keine Arbeiten zur Sprachthematik nach sich gezogen. Die Kommentarliteratur beschäftigt sich ausführlich mit 1 Kor 14. Dabei gilt für die gesamte Forschungsliteratur, dass sie das Kapitel hauptsächlich unter ‚nichtsprachlichen’ Aspekten behandelt: Sie thematisiert die urchristliche Prophetie,8 die paulinische Vorstellung des Geistes9 sowie das Verständnis und die Entwicklung der Charismenlehre.10 Für die beiden zentralen Charismen, die Prophetie und die Glossolalie, finden sich in der Kommentarliteratur häufig Exkurse, die zeigen, dass hier ein erhöhter Erklärungsbedarf besteht.11 Das Thema Sprache wird also lediglich in Bezug auf die Sprachgaben der Zungenrede und der Prophetie behandelt, die Frage nach einem Sprachverständnis des Paulus oder einer Beziehung zum antiken sprachphilosophischen Denken ist nicht gestellt worden. Dasselbe gilt für die umfangreichen Untersuchungen, die sich vor allem mit Argumentationsanalysen12 und der rhetorischen Analyse13 beschäftigen und in denen 1 Kor 12–14 untersucht wird. Diese Monographien verorten sich im Kontext der Rhetorikforschung und setzen sich nicht mit dem paulinischen Sprachverständnis auseinander.

Gerade die Sätze, in denen Paulus seine Überlegungen zur Sprache präzisiert, 1 Kor 14,6–12, werden in der Forschung vernachlässigt und verkürzt behandelt:

Die Beispiele von den undeutlichen Musikinstrumenten und dem verblasenen Signal zum Kampf (…) sind ohne weiteres in sich einsichtig.14

V. 7–11 bringen eine Reihe von Beispielen (…) für Verständlichkeit und Unverständlichkeit: Melodie (7), Signal (8), mit Anwendung (9); dann Sprache (Verstehen) (10 f) mit Anwendung.15

Die Beispiele sind ohne weiteres verständlich.16

Die Verse sind aber weder nur als Beispiele zu verstehen noch ohne weitere Ausführungen verständlich. Sie führen vielmehr in das Zentrum des paulinischen Zeichenverständnisses, was einzig Wolfgang Schenk in seinem Aufsatz „Die Aufgabe der Exegese und die Mittel der Linguistik“17 wahrgenommen hat. Sein Beitrag ist von der frühen Begeisterung für die neue Disziplin der Linguistik getragen, die vor allem in den Arbeiten von Güttgemanns zum Ausdruck kam. Schenk zeigt, ausgehend von James Barr, die Notwendigkeit der Linguistik für die Exegese auf. Er kommt in diesem Zusammenhang auf 1 Kor 14,7–11 zu sprechen. Schenk sieht in diesem Text „die Berechtigung einer linguistisch bestimmten Arbeitsweise für Verkündigung und Exegese“18. Er bezeichnet 1 Kor 14,6–12 als das „linguistische Manifest des Paulus“19 und benennt die linguistischen Aspekte, die diese Verse kennzeichnen: Das paulinische Zeichenverständnis. Da Schenk mit seinem Aufsatz das Interesse verfolgt, die Notwendigkeit der Linguistik für die Exegese aufzuzeigen, dient ihm 1 Kor 14 als neutestamentliche Begründung hierfür. Er stellt fest, dass es zwei Seiten des Zeichens gibt,20 fragt aber nicht nach den Aspekten, die ein paulinisches Sprachverständnis konkret kennzeichnen. Wann und warum die Inhaltsseite eines Zeichens verständlich ist, ist ebenso wenig Thema wie 1 Kor 14,10; diesen Vers lässt Schenk in seinem Aufsatz unbeachtet. Aber gerade er wird einen entscheidenden Aspekt des paulinischen Zeichenverständnisses liefern. Schenk versucht auch keine Einordnung seines Ergebnisses in den antiken sprachphilosophischen Diskurs. Hier setzt die vorliegende Untersuchung an. Darüber hinaus soll das paulinische Sprachverständnis nicht ausschließlich unter dem Aspekt des sprachlichen Zeichens untersucht werden, sondern unter allen oben genannten Leitfragen.

Einen wichtigen Beitrag leistet auch der Aufsatz „Mit Engelszungen? Vom Charisma der verständlichen Rede in 1 Kor 14“21 von Hans-Joseph Klauck. Er verfolgt das Ziel, „den eigenartigen Gegensatz (…) zwischen Geist (πνεῦμα) und Vernunft (νοῦς) (…) etwas besser zu verstehen“22, und beschreibt zunächst die Glossolalie. Anschließend nimmt er „einen zielgerichteten Durchgang durch 1 Kor 14“ vor, dessen „Schwerpunkt er bei V. 14–19“23 setzt. Auch Klauck beschäftigt sich also im Wesentlichen nicht mit 1 Kor 14,6–12, stellt aber für 1 Kor 14,10 f fest, dass diese Verse „den Ansatz einer Sprachtheorie [enthalten], wenn es [das Gleichnis in 1 Kor 14,10 f, Anm.] die Übermittlung von Sinn und Bedeutung als Aufgabe der Sprache hinstellt“24. Weitere Ausführungen einer solchen Sprachtheorie folgen nicht. Klauck versteht die Verse als Gleichnis, bei dem es um Kommunikation in Fremdsprachen geht; auch hierzu folgt eine kritische Auseinandersetzung. Hilfreich ist der Aufsatz v.a. für das Verständnis und die Rolle des Verstandes.25

Das Sprachverständnis des Paulus wurde also in der Fachliteratur bisher nur unzureichend berücksichtigt. Für die antike Sprachphilosophie und das frühjüdische Sprachverständnis verhält es sich anders. Die Forschung zur griechisch-römischen Sprache liefert zahlreiche Arbeiten zur Rhetorik,26 aber auch eine Vielzahl von Arbeiten, die sich mit der antiken Sprachphilosophie beschäftigen,27 so dass für diese Thematik auf eine breite Grundlage zurückgegriffen werden kann. Auch für den Vergleich mit dem frühjüdischen Autor Philon von Alexandria liegen mit den Untersuchungen von Klaus Otte28 und Gertraut Kweta29 zwei Monographien zum Thema vor. Beide werden, ebenso wie weitere Aufsätze, zu Beginn des Philonkapitels vorgestellt.