Loe raamatut: «DIE DODERER-GASSE»

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NADJA BUCHER

Die Doderer-Gasse

oder

Heimitos Menschwerdung

Roman


Aus Freundschaft

Man will vielleicht des Gewesenen keineswegs zu jeder Zeit gemahnt sein.

Heimito von Doderer, Die Strudlhofstiege

Durchgangsquartier. Wir können hier nicht heimisch werden. Wir gehen rasch einen Korridor entlang, eine Tür springt auf, schon klappt sie hinter uns: das also war’s. Wir haben die Schönheit dieses Lebens, die Vollkommenheit dieser Welt – es ist sicher die beste aller möglichen Welten – nur gestreift, wie die Fäden des Altweibersommers im Herbste unsere Wangen streifen.

Heimito von Doderer, Tangenten 1940–1950

Wenn einer glaubt, er vermöchte neu geboren zu werden – sei’s auch nur zum Schriftsteller – ohne relativ fast unendlich erscheinende Qualen, ohne vielen Wechsel von Stehen und Fallen und immer wieder Stehen, wenn einer vermeint, es könne sich geistige Aktion vollziehen, ohne daß materielles Gefüge kracht und wie eine edle Liebhaberei bei sonst geordnetem Leben: wer sich die Sache so vorstellt, der irrt.

ebd.

Inhalt

I. ZUR WELT KOMMEN

II. KINDERFREUNDE

III. EINS A

IV. ZUKUNFT

I. ZUR WELT KOMMEN

GRELLES LICHT BLENDETE MICH. Noch nie erlebtes Schmerzausmaß. Atemnot, die den Brustkorb einschnürt. Was blenden mich diese Idioten denn so? Todespanik. Etwas war nicht, wie es meinem Empfinden nach hätte sein sollen.

Erinnerungen stiegen heran, als blätterte ich durch ein Familienalbum mit sepiafarbenen Fotos. Ich als kleiner Junge im Wintermantel, im Hintergrunde unser Haus in der Prein. Als Schüler in kurzen Hosen zwischen Vater und Mutter vor der Stadtwohnung. Dieser Mann trübte die Freude meiner Kindheit, eigentlich meines gesamten Lebens, er gab wahrlich keinen Anlass zu Heiterkeit. Als Jüngling in der Uniform des k.u.k. Dragoner-Offiziers, die Hand lässig am Säbelknauf. Erster Weltkrieg. Sibirische Kriegsgefangenschaft, Schreibanfänge, schöne Zeit. Ich in meiner unrühmlichen Zwischenkriegszeit. Dann die noch größere Dummheit mit dem Zweiten Weltkrieg, lange Missachtung, fehlender Erfolg.

Als Sechzigjähriger, Porträt eines Schriftstellers mit Pfeife im Mund, hohe Stirn, verbliebene Haare streng gescheitelt. Zerfurchtes Gesicht. Positionierung vor Bücherwand an Schreibtisch, der übervoll von Schriften ist, unterstreicht den Intellekt. Immer Hemd und Anzug, nie Hosenträger, manchmal Überzieher, schwungvoll geöffnet. Pfeife und Trenchcoat gehören zu mir, dem Kopfarbeiter, wie Fliege und Borsalino, erst später wurden daraus Accessoires für Kriminalbeamte. Auf wenigen Fotos lache ich. Heiterkeit steht diametral zu tiefgründigen Gedanken. Der Literat legt seine breite Stirn in Falten, reckt sein Kinn vor und denkt. Er beliebt in seinem Tun zu sitzen, was sich nachträglich auf seine Körperhaltung auswirkt. Aber er nimmt alle gesundheitlichen Opfer für sein Werk in Kauf: Schreiknötchen, Raucherlunge, Darmkrebs.

Nach langer Dunkelheit öffneten sich Augen. Schon wieder blendete gleißendes Licht. Ich versuchte den verschwommenen Blick abzuwenden. Es misslang. Ich war schmerzendem Weiß ausgesetzt. War wie gefangen in beengter Bewegungslosigkeit. Was war mit mir geschehen? Weshalb schaltete niemand die Operationslampe ab?

Ich erwachte erneut und sah klarer. Mein Blick fokussierte auf einfallendes Tageslicht an weißem Plafond, gelb-braune Farbflecken hoben sich seitlich daraus hervor, gehörten dem floralen Muster einer Tapete an, deren Hässlichkeit überbordend war. Ich hätte mich abgewendet, wäre ich dazu in der Lage gewesen. Ich trat und trampelte in mich selbst eingeschlossen, spürte einen Körper zappeln, war jedoch dumpf gelähmt.

In unmittelbarer Nähe sah ich hölzerne Gitterstäbe, davor Hände, die ungeschickt in mein Gesichtsfeld wedelten. Sie waren winzig. Dazu vernahm ich glucksende Laute, die sehr junge Menschen abzusondern belieben. Langsam sickerte eine fatale Ahnung in mich ein, wonach mich keine Operation in mein altes Leben zurückgeholt hatte. Doch dies war kein geradliniges Denken, sondern wegen eingeschränkter geistiger Tätigkeit lediglich changierende Vermutung, die jenem Zustand beim Erwachen aus ernst zu nehmendem Rausche ähnelte.

Ich verortete mich rücklings auf dem Boden eines Gitterbetts.

»Marie, meine kleine Prinzessin, bist du hungrig?«, beugte sich eine junge Frau freudestrahlend über mich. Sie hatte ihr platinblondes Haar zu einem hohen Pferdeschwanz zusammengebunden. Hier musste ein Irrtum vorliegen. Vieles war ich geheißen worden, doch weder Marie noch Prinzessin. Die glückliche Frau hob mich zu sich empor, setzte einen Kuss auf die Stirn, die sich nicht wie meine anfühlte, strich über die Backe, berührte mich allerdings nicht. Ihr Lächeln verstärkte sich noch. Kurz sah ich eine Brustwarze aufblitzen, dann schwanden mir die Sinne.

Als sich mir das nächste Mal Augen öffneten, bot sich ein vertrautes Bild. Weißer Plafond, braun-gelbe Blumentapete, hölzerne Gitterstäbe. Der Gesamteindruck drängte mir die gedankliche Verknüpfung von Kinderzimmer mit Gefängnis auf, was in Anbetracht so mancher Kindheit eine legitime, in meinem Fall jedoch keine rein metaphorische war. Ich befand mich tatsächlich in Gefangenschaft, war eingesperrt im Körper eines Menschen namens Marie. Dieser Argwohn erstand nicht aus scharfen Überlegungen, wie überhaupt Präzision nach neuerlicher Bewusstwerdung nicht allzu viel wog. Auch richtete sich mein Zeitempfinden nach keinem exakten Chronometer. Zeit ist nach dem Tode in höchstem Grad persönlich, ihre Wahrnehmung abgelöst, ja befreit von jedweder Messung. Vielmehr glich die Trennung von Dahindämmern und Wirklichkeit dem Waten in weichem Schlick, bei welchem scheinbar aus dem Nichts diffuse Gefühle aufwallten, die beständig zwischen Orientierungslosigkeit und Hoffnung schwankten, meist jedoch enttäuscht wurden.

Aus diesem Dusel filterte ich, dass Marie ein Neugeborenes war und sich altersadäquat verhielt. Die freudestrahlende, wasserstoffperoxidblonde Frau mit spendabler Brust musste zweifelsohne ihre Mutter sein, deren Gesicht schon wieder über mir erschien, was Maries Strampeln verstärkte und Quieken auslöste. Ich nützte die Gelegenheit und machte mit kräftigen Rufen auf mich aufmerksam, stellte mich namentlich vor, gab Mutmaßungen bezüglich meines Aufenthaltsorts im Kinde an, ja trug alle bisherigen Erkenntnisse meiner jüngsten Vergangenheit zusammen und gab sie der Mutter preis. Ich tat alles in meiner Macht Stehende, um in Kontakt mit dieser Frau zu treten.

»Marie, mein Schätzchen«, antwortete sie, was mich zu der Schlussfolgerung zwang, dass sie mich weder gehört noch wahrgenommen hatte, daher in Unkenntnis über meine Existenz war. Ein erschütterndes Gutachten mit betrüblichen Prognosen für meine Zukunft. Sofern es mir nicht gelingen würde, mit und durch Marie zu sprechen, gäbe es für mich keine Chance, mit der Außenwelt in Austausch zu gelangen.

»Ja, komm her, mein süßer Schatz«, sagte die Mutter und hob Marie hoch, küsste sie und legte sie an ihre Schulter. In dieser Position war es mir möglich, den Raum besser zu überblicken. Seine Reize waren bescheiden. Das Gitterbett stand an der Wand neben der Tür. Ein dunkelbrauner Einbaukasten zog sich über die Längsseite des Zimmers. Gegenüber der Tür war ein doppelflügeliges Fenster, davor hing ein dünner, bodenlanger Vorhang. Braunes Sofa mit Samtbezug und passendem Fauteuil standen über Eck im Raum, ein schmuckloser Esstisch mit Resopalplatte befand sich wie eingeschoben daneben, als hätte man nirgendwo sonst Platz für ihn gefunden. Die Möblierung zeugte weniger von Geschmack als von Zweckmäßigkeit.

Die Mutter stellte sich vor das Fenster und wippte sachte, gleichzeitig flüsterte sie ihrer Tochter Nettigkeiten zu. Ich erhaschte einen Blick ins Freie, der mich mit tiefstem Grauen erfüllte. Seitlich und gegenüber spannten sich achtstöckige Häuserfronten auf, verstellten mir Fensterreihen in geometrischer Gleichmäßigkeit jegliche Sicht auf Horizont. Straßenverläufe, wie ich sie einst kannte, existierten hier nicht. Lediglich Gehwege zogen sich rechtwinkelig über einen begrünten Hof, der zu einer Seite hin offen war, in eine Wiese auslief, die an ein Wäldchen grenzte, welches erst unlängst gepflanzt worden sein dürfte. Die Stämmchen erweckten einen schockierend mickrigen Eindruck. Weiter entfernt taten sich Agrarflächen auf.

An welch vergessenen Flecken am Ende der Welt war ich geraten? In eine menschenansammelnde Riesenburg, wo sich idente Fenster an idente Hauszeilen reihten, Stiegen genannt, wie Schilder neben den Eingangstoren verrieten. Ich konnte die fortlaufende Bezifferung ablesen. Kasernen waren nach ähnlichem Baukasten-Stil entworfen und mir ähnlich verhasst. Wie sollte sich ein denkender, fühlender Mensch hier zurechtfinden?

Marie begann zu weinen, mir verschwamm die Aussicht. Sogleich schob sich wieder der Busen samt Brustwarze ins Bild. Marie verweigerte das Nahrungsangebot. Die Mutter hatte sich vom Fenster abgewandt und setzte ihren Stillversuch auf dem Sofa fort. Marie steigerte ihren Ausdruck des Missbehagens. Für mich waren ihre Laute in angeschlagener Lautstärke ein an das Unerträgliche heranreichender Schmerz. Kein Gedanke war bei diesem Krach zu fassen. Maries Schreie, ihre Tränen, lösten das Zimmer, die Mutter, die Welt rundum auf. Sie schrie mit solcher Intensität, ich merkte, wie sich der Innendruck ihres Kopfs erhöhte. Deutlich spürte ich ihr Strampeln; wie sich ihr Körper verkrampfte und durchbog. Immense Kraft steckte in diesem kleinen Menschen. Die Mutter trug sie aus dem Zimmer, redete beruhigend auf sie ein, allein Marie setzte ihr Crescendo fort. Aus Maries unter Tränen stehenden Augen sah ich einen Mann näher kommen und erkor ihn sofort zu ihrem Vater aus. Durch vibrierende Trommelfelle hörte ich seine Ratschläge. Er nahm das Kind nicht in den Arm, was von der Mutter zwar angeboten, aber von ihm abgewehrt wurde. Sie solle den Kindsbauch streicheln, bemerkte er. Die Mutter tat, wie ihr geheißen, klappte zudem das Kind, welches sie an Nacken und Beinen hielt, zusammen und wieder auseinander. Sanft, vorsichtig und wiederholt, bis die Gärgase, welche sich offensichtlich in Maries Körperinnerem angesammelt hatten, lautstark entwichen.

Für mich war diese Episode gleichrangig mit der Brustwarzenfütterung eine untragbar gênante, wie man sich vorstellen kann. Selbstverständlich konnte ich alle Schuld von mir weisen, dennoch war ich von Maries körperlichen Unzulänglichkeiten peinlich berührt. Es war nicht nur Ekel, der sich zwischen mich und sie schob, sondern auch Furcht, diesen und ähnlichen Widrigkeiten für lange Zeit auf Gedeih und Verderb ausgeliefert zu sein. Bestialischer Gestank verbreitete sich um das Kind, folglich auch um mich, der ich gewohnt war, im frischen Duft von Eau de Lavande zu wandeln. Reflexartig schnappte ich nach Luft, was jedoch folgenlos blieb. Marie atmete unbeeindruckt weiter. Ihre olfaktorischen, wie alle übrigen Sinne, waren noch unvollständig ausgebildet.

Die Mutter trug sie ins Bad, legte sie auf eine Wickeldecke, die über die Waschmaschine gebreitet war. Während sie den Blick nicht von ihrer Tochter nahm, ließ sie Wasser in einen pastellfarbenen Trog ein. Sobald Maries Windel gelockert wurde, steigerte sich die Duftnote. Ich konnte diesem Treiben nichts entgegnen, außer einen Modus operandi finden, der in einer gewissen integren Absonderung lag, um die Angelegenheit halbwegs würdevoll zu überstehen. Marie wurde von der Mutter auf den Bauch gedreht und behutsam in die Wanne abgesenkt. Dabei achtete die Mutter darauf, Maries Kopf oberhalb des Badewassers, ihren Körper davon bedeckt zu halten. Ich spürte wohlige Wärme, aber auf seltsam indirekte Art. Es war nicht mein eigener Körper, der ins Wasser getaucht wurde, ich befand mich lediglich in einem solchen. Was ich folglich wahrnahm, war nicht die Temperatur des Badewassers, sondern Maries innere Körperwärme, oder präziser, ihre innere Wonne. Ich spürte sozusagen ihr Wohlgefühl, was ihre Gluckser und Quietscher unmissverständlich artikulierten.

Dieser Erfahrung leitete ich einen Konnex zwischen Marie und mir ab. Ihr Befinden musste sich reziprok auf meine Gemütsverfassung auswirken. Denn hatte ich mich während ihrer Schreiattacke elend gefühlt, erfasste mich nun beste Laune. Der Weg aus den vollen Windeln, befürchtete ich sofort, würde sich als kein kurzweiliger gestalten, sondern zeichnete sich als zähe, in viele kleine und kleinste Teilschritte untergliederte Langstrecke ab, deren erste Etappe es wäre, generelles Vorhandensein sowie Reichweite meiner Einflussnahme abzuschätzen.

MARIE LAG RÜCKLINGS IM GITTERBETT, zog die Beinchen an, streckte die Füße vors Gesicht, amüsierte sich ungemein. Mir bot dieses Treiben eingehende Betrachtung ihrer beeindruckend kleinen Zehen, die zwar erstaunlich waren, jedoch beschränktes Vergnügen für mich bargen. Mein Empfinden stand konträr zu Maries, deren Begeisterung über gebotene Sensation keine Grenzen und vor allem keine Abnützung kannte. Immer wieder brachte sie ihre Füße auf Augenhöhe, was sie dabei erkannte oder zu erkennen glaubte, entzog sich meiner Kenntnis, sie stieß jedenfalls herzhafte Freudenschreie aus. Zur Steigerung ihres Amüsements ergriff sie beidhändig ihre Beinenden und steckte sie in ihren Mund. Zweifelsohne eine imposante Leistung, der sich Marie auch zur Gänze bewusst war, honorierte sie sie mit gebührendem Jauchzen und zwar bei jedem Gelingen der Übung. Ich hatte dafür Verständnis, ja lobte ihre gesunde Einstellung, die eigenen Taten gehörig anzuerkennen und wertzuschätzen, allerdings konnte ich eine ausgedehnte, mich beinahe erdrückende und geistig lähmende Langeweile nicht leugnen. Zumal mir die restlichen sich bietenden Stimuli wenig Ablenkung schenkten. Als da waren die bereits geschilderten Komponenten Deckenlampe, Blumentapete, weißer Plafond.

Dass die Vormittagssonne durchs Fenster fiel und sich schräg ins Zimmer legte, die über der Resopalplatte des Tischs schwebenden Staubflankerl nahezu malerisch beschien, änderte nichts an meinen sich im Kreis drehenden Gedanken, die danach forschten, wie der inneren und äußeren Stagnation beizukommen wäre. Die Schnelligkeit, mit der sich Sonnenstrahlen und Schattenperioden abwechselten, sowie die Geschwindigkeit, mit der majestätische Wolkenformationen am knallblauen Himmel vorüberzogen, kündigten mir herandräuenden Frühling an. Lieblicher Vogelgesang schob sich durch den Spalt des gekippten Fensters ins Zimmer hinein. Ein Hauch frischer Luft bauschte den dünnen Vorhang auf, ließ ihn träge tanzen, verhalf mir zu neuen Gedanken. Wenn ich aufgrund von Licht- und Wetterverhältnissen davon ausging, dass es Mitte April war, und mich mein Zeitgefühl nicht vollends trog, obwohl es wie erwähnt nicht exakt arbeitete, sondern dem schwammigen Rauschzustand eines Morphinisten glich, dem manch kurzer Traum wie die Ewigkeit und Gegenwärtiges wie tiefer Schlaf anmutet, dann betrachtete ich die Welt bereits seit einigen Monaten durch Maries Augen. Dies durchzuckte mich wie der Sonnenstrahl, der Marie auf den Kopf schien, mich blendete und sie veranlasste, die Beinchen kurzzeitig ihrer Aufmerksamkeit zu entlassen und das Gesicht dem Licht zuzuwenden. Sie schloss ihre Augen, ich hörte sie quietschen, konnte jedoch nicht eruieren, ob aus Behagen, Unlust oder Verblüffung. Da ihre Stimmung weitgehend ausgeglichen blieb, schätzte ich den Sinneseindruck als nicht sehr gravierend ein. Als sie ihre Augen wieder öffnete, schaute ich erneut an die Zimmerdecke und sah ihre Füße.

Da entsprang mir eine großartige Überlegung. Was, wenn mein Wille direkten Einfluss auf das Kind hatte? Wenn ich Marie dazu brächte, meinen Anweisungen Folge zu leisten? Wenn mir dies gelänge, erhielte ich durch sie neue Handlungsfähigkeit. Die Idee enthusiasmierte mich, brachte mich schwärmerischen Zukunftsvisionen nahe. Wäre mir Marie willfährig, die Welt läge mir zu Füßen. Meine Erfahrung zusammen mit ihrem jungen Leben böte Gelegenheit für einen weiteren Durchgang, einer Aufdopplung, wenn nicht Verdreifachung meiner Chancen. Wie bei manchem Brettspiele, wo die Spielfigur schon beinahe im Ziele gestanden hatte, doch dann hinausgeworfen, aller Punkte beraubt und an den Start zurückgestellt wurde. Meine Figur war darüber hinaus durch eine neue ersetzt worden, aber das Wissen über Spielverlauf, Regeln und Gefahren war mir geblieben. Könnte ich meinen Spielstein namens Marie dazu bewegen, nach meiner Anleitung über die Felder des Lebens zu ziehen, ich müsste nicht nur rascher ans Ziel gelangen, sondern exorbitant hoch gewinnen.

Marie, flüsterte ich ihr zu, um gleich darauf die Widersinnigkeit meines Angehens zu erkennen. Wozu Zaghaftigkeit? Wollte ich das Mädchen auf mich aufmerksam machen, musste ich mit Pauken und Trompeten auffahren.

Marie!, schrie ich sie an, mit dem Vorsatz, meinen forschen Ton zu drosseln, sobald ich sie erreicht und eine Verhandlungs- oder vielmehr Handlungsbasis vereinbart hätte.

Marie, ich befehle Ihnen, sich umzudrehen, sofort, in einem Schwunge, beherzt und auf der Stelle!

Hätte ich sie erst in die Bauchlage manövriert, so mein Plan, erhöhte sich die Wendigkeit ihres Kopfes, brächte ich sie anschließend zum Krabbeln, könnte ich die Ausweitung meines Aktionsradius angehen.

Marie!, schrie ich, Marie, hören Sie mir zu! Sie müssen meine Befehle aufs Genaueste befolgen. Nehmen Sie Schwung und rollen Sie seitlich auf Ihren Bauch. Das schafft jedes Kind, so auch Sie!

Mein herrisches Gebieten war nur der naheliegendste Einstieg für mein Vorhaben. Gleich einem plumpen Anfänger vor hochpoliertem Konzertflügel, schlug ich beidhändig auf die Tastatur, egal ob Schwarz oder Weiß treffend, mich keiner Zwischentöne bedienend. Ich wollte sie aufrütteln. Die Zeit des zarten Sonatenspiels könnte beginnen, nachdem ich mich ihrer Mitwirkung vergewissert hätte.

Doch Marie hatte schon wieder beide Füße in ihrem Mund und elaborierte daran, sie möglichst tief in den Rachen zu treiben, gleichsam einen menschlichen Kringel bildend. Sie verzichtete dabei nicht auf ihre Freudenquietscher, was einem beängstigenden Röcheln nahe kam. Freilich fand jedwede Befürchtung nur meinerseits statt, denn Marie befand sich dank ihres geringen Alters noch in elysisch angstfreier Teilwahrnehmung. Sie nuckelte an ihren Zehen, während ich begann, die Klaviatur des Flügels subtiler zu bearbeiten. Bei leisem, sonorem Bass setzte ich an, verstieg mich zu verträumten Trillern, schlug grimmige Moll-Akkorde an, die in ihr Unterbewusstsein einsickern sollten, um als waches Aufhorchen zur Immanenz hochzusteigen.

Marie gluckste, ließ ihre angefeuchteten Zehen absinken, gönnte ihrer Wirbelsäule eine ausgleichende Streckung, entsann sich kurz darauf wieder ihrer Beine, hob sie an, um sie hocherfreut einer weiteren Mundhöhlenerprobung zuzuführen. Ich klimperte bereits auf Saiten, die ob ihrer Kürze kaum größere Schwingungen als Metallplättchen in Spieluhren hervorbrachten. Nichts erzeugte Resonanz in Marie. Ich fühlte meine Abgeschiedenheit, wie einst Jonas im Walfischbauch, doch ich weigerte mich, sie hinzunehmen. Die Beweislast war erdrückend, aber noch hatte ich nicht alle Register gezogen.

Jeder Mensch ist ja ein hochsensibles Messgerät seiner Umwelt, obzwar bei einigen die Eichung im Unklaren liegt. Doch die diffizile menschliche Wahrnehmung, gerade bei solch unfertigen Wesen wie Marie eines darstellte, verläuft zum weitaus größten Teil über feinere Fühler als die Akustik. Sagte man nicht auch Hunden nach, sie wären in der Lage, die Autorität des Gegenübers oder das Fehlen einer solchen, durch Witterung festzustellen? Die Angst des Postboten, der am Gartentor läutet, röchen sie schon hinter verschlossener Haustüre. Dabei lag es, wie mir Hundebesitzer einst versicherten, nicht primär am Geruchsinn des Tieres, sondern an untrüglichem Instinkt. Und war Marie mit ihren wenigen Monaten nicht einem Welpen näher, und somit im Instinkte beheimatet, als dem Reich ausdifferenzierter Kognition? Ich musste daher zu präverbaler Kommunikationsform finden.

Ich tobte wie blöde im Walfischbauch. Meine von jeher stattlich zu nennende Wut über die Tücken des Objekts brach ungezähmt aus mir heraus. Ich schrie und strampfte, doch mein Wüten war ergebnislose Gebärde, die zu nichts als totaler Erschöpfung führte. Denn wo mir zu Lebzeiten Widerstand entgegentrat, klaffte nun eine unbeeindruckte Leerstelle. Schon nach Kurzem war ich entkräftet, nicht mehr fähig, Maries Namen zu hauchen, war nur noch Gedanke und Vorstellung. In dieser packte Marie mit beiden Händen ihre Zehen, steckte sie in ihren Mund, sonderte ein tiefes Gurgeln ab und rollte seitlich auf die Matratze ab, kam in stabiler Lage zur Ruhe und hielt, überrascht von ihrer Mobilität, den Atem an.

So auch ich, als ich erkannte, dass sie aus meiner Vorstellung heraus diese realisiert hatte, gleichsam in indirekter Verschiebung meinen Wunsch in die Tat übersetzt hatte. Als entfigurierter Spielteilnehmer konnte ich mich an keiner körpereigenen Reaktion delektieren, aber mit einem Schlage war die Zeit meiner Passivität vorüber und der Beginn einer neuen Grundbefindlichkeit brach an. Allerlei Pläne drängten sich sogleich an mich heran. Denn, wie ich einst so trefflich formulierte: Wer weiß, was er soll, ist glücklich. Er stürzt davon, beflügelt vom unausrottbaren Glauben ans Gelingen. Und so erwuchs aus meinem neuen Leben das Bewusstsein, dass mein Streben kein geradliniges sein würde, da mein Ziel noch in vollkommener Dunkelheit verborgen lag, aber dennoch fühlte ich, dass ein solches existierte, wenn auch noch tief unten, von schwarzem, schwerem Samt verhüllt.

Marie lag seitlich eingerollt auf der Matratze. Über die neue Situation nicht unfroh, wusste sie trotzdem nicht, wie ihr zu entkommen war. Wieder stellte ich mir vor, gleichsam suggestiv, wie sie ihre Füße losließ und sich zurückrollte, es sogar auf die andere Seite schaffte. Marie nahm tatsächlich ihre Zehen aus dem Mund, ein feuchter Speichelfaden spannte sich zwischen jenen und den Lippen, was ihr nicht weiter auffiel. Sie blieb in stabiler Seitenlage, ihren Lauten nach zu urteilen in zu stabiler Lage. Jedoch widersetzte sie sich meinem Vorschlag und verlegte sich stattdessen auf lautes Wehklagen. Darauf kam die Mutter ins Zimmer, wie immer freudestrahlend, sobald sie ihrer Tochter ansichtig wurde, diesmal gespickt mit einer Prise Besorgnis im Ausdruck. Die junge Frau trug ihr blondes Harr kunstvoll hochgesteckt, der sonst offene Pferdeschwanz war in einzelnen Locken am Hinterkopf drapiert. Sie bot einen appetitlichen Anblick. Kaum hatte ich diese Beurteilung gefällt, fuhr mir Bestürzung ein. Sollte die Assoziation von »junger Frau« und »Appetit« nicht mir, sondern Marie entsprungen sein, in Analogie von »Mutter« und »Futter«? – Man verzeihe mir hier den plumpen Endreim. Was für Marie naheliegend gewesen wäre, bedeutete für mich eine erschütternde Wechselwirkung in ungewünschter Richtung, weshalb der Gedanke von mir augenblicklich verworfen wurde. Die Emanation von Appetit in Anschauung von Maries Mutter konnte nirgendwo anders als aus meiner erotischen Prägung entsprungen sein.

Die Mutter ahnte glücklicherweise nichts von meinen Begehrlichkeiten. Sie nahm Marie hoch, drückte sie an sich, nicht ohne ihren Kopf mit Küssen zu überziehen. Während eines Singsangs an Komplimenten und Liebkosungen prüfte sie diskret Maries Windel. Da das Kind scheinbar dichtgehalten hatte, konnte eine neuerliche Reinigung entfallen, wurde es umgehend in selbst gestrickte Wollware verpackt. Solcherart angetan stellte sich die Mutter mit Marie im Arm vor den Spiegel. Ich schaute mir als Baby im Strickkostüm entgegen. Wie sich denken lässt, erschrak ich über mein Spiegelbild, das nicht die geringste Ähnlichkeit mit mir hatte. Nichts, rein gar nichts, erinnerte an mich. Ich betrachtete mich eingehend, aber sah nur Marie. Sie hatte dicke Backen, runde Knopfaugen, einen Mund, der zahnlos lachte, den Kopf voller dunkler Locken und einen wohlgenährten Körper, der sich ständig in Bewegung hielt. Obendrein steckte sie in lila-weiß gestrickten Wollhosen, Wolljäckchen und dazu passender Haube. Sie sah herzallerliebst aus und war von einem solch hohen Grade von Süßigkeit, dass ich mich nicht hätte enthalten können, sie ein wenig zu zwicken, wäre ich dazu in der Lage gewesen. Wobei mein Urteil weder durch die herkömmlichen Bestandteile des Kindchenschemas, noch durch mein unbestreitbares Naheverhältnis beeinflusst wurde, sondern auf rein objektiven Kriterien basierte, was von einem Geistesmenschen wie mir nicht anders zu erwarten war.

Im Spiegel sah ich, wie die Mutter Marie auf die Wange küsste, so fest, dass sich Maries Mund öffnete und ein Speichelfaden heraustropfte. Ich war noch immer fassungslos über meine derzeitige Erscheinung, die in nicht der geringsten Kleinigkeit meiner früheren entsprach. Ich war in Maries Gesicht unauffindbar. Wie ein gespitzter Stamm den Leib des Gepfählten, durchfuhr mich, dass niemand von meiner Existenz erfahren würde. Mein neues Leben verliefe eingeschlossen in Marie, schlimmer noch als Jonas in seinem Walfisch, der doch an rechter Zeit und Stelle unbeschadet ausgespuckt worden war. Aber ich bliebe für immer unsichtbar.

Trotz geistiger Lähmung ob dieser Erkenntnis merkte ich das Gesicht der Mutter vor mir. Sie musste Marie folglich zu sich gedreht haben. Mein Ausblick auf die Frau trübte sich, da Marie erneut zu weinen begann. Die Mutter trug Marie durchs Vorzimmer, wippte auf und ab, schritt zur Wohnungstür, wo ein Kinderwagen stand. Marie wurde bäuchlings in den Wagen gelegt, wodurch sie genötigt war, ihren Kopf hochzuhalten. Dies ermöglichte mir, durch ein kleines Fenster im Kopfteil des Wagens zu schauen. Noch war der Blick tränenbedingt verhangen, aber schon ahnte ich die Possibilitäten, die mir diese Luke eröffnete.

Die Mutter schob den Wagen aus der Wohnung und nach kurzer Liftfahrt (zum desaströsen Zustand der Kabine an anderer Stelle) ins Freie. Sofort war auch Marie in aufnahmebereiter Stimmung, fielen ihr die letzten Tränen von den Wimpern, reckte sie ihren Kopf empor, richtete sie ihre Augen geradewegs auf die Welt vor dem Bullauge. Das Klicken der mütterlichen Escarpins auf dem Asphalt untermalte die Fahrt im Kinderwagen. Der wurde über jenen Gehweg geschoben, der mir bereits beim Blick aus dem Kinderzimmer aufgefallen war. Rund um mich ragten acht- bis zehnstöckige Hausfronten in den Himmel, der ein wechselhafter und frühsommerlicher war. Die Monotonie der umstehenden Bauten schien grenzenlos, wie deren Fensterreihen, Stiegeneingänge und rechtwinkelige Blockanordnung. Die herrschende Tristesse wurde durch zweierlei Kunstobjekte versinnbildlicht, als seien sie den Bewohnern dieser Unterkünfte zum Hohn vor die Nase gesetzt worden.

Neben jeder Haustür prangte ein buntes Mosaik, vielleicht um die Unterscheidbarkeit der Stiegen zu erhöhen, da alleinige Nummerierung selbst den Verursachern dieser Monokultur nicht ausreichend schien. Auf den Darstellungen wurden Tiere in einem Abstraktionsgrad wiedergegeben, der das Unvermögen des Künstlers unverschleiert offenbarte. Die zweite Art enervierender Könnerschaft befand sich freistehend auf den Grünflächen. Wer auch immer dafür verantwortlich zeichnete, hatte die Frechheit aufgebracht, den Baustoff der Stahlbetonsilos für eine ebenso trost- wie farblose Skulptur heranzuziehen. Wobei die Bezeichnung Skulptur für den kubisch aufgetürmten, von Auslassungen durchlöcherten Gussbeton wahrlich unzutreffend, weil weitaus zu hochtrabend war. Vielmehr passte jene Betitelung, die der Verwendung des Klotzes entsprach. Während der Kinderwagen vorüberrollte, sah ich zwei Kinder darauf herumklettern. Sie setzten ihre Füße auf Vorsprünge, stemmten sich daran ab und gelangten bis zur obersten Plattform, die ihnen als Sitzfläche diente, nur kurzzeitig, bis die Kälte des Materials ihren Hosenboden durchströmte und sie von ihrem Spielzeug vertrieb.

Während Marie den Kopf oben hielt und die Mutter den Kinderwagen zur Straße hin lenkte, befiel mich beim Anblick dieses weitreichenden architektonischen Verbrechens tiefer Missmut. Wie sollte Marie im Schatten dieser Betonpflöcke (und tatsächlich schob die Mutter den Kinderwagen seit Verlassen des Hauses kontinuierlich durch den Schlagschatten des Hochhauses), wie sollte Marie in einer solchen Umgebung ein Gespür für Schönheit entwickeln? In diesem Umfeld könnte bei noch so empfängnisbereiten Anlagen kein Keim austreiben, fehlte diesem nicht nur Nährboden, sondern auch Licht und Wasser, von sorgfältiger Pflege oder gar Düngung nicht zu reden.

Durch die Luke erkannte ich, dass der Weg in das Trottoir einer von Grünstreifen abgetrennten, autobefahrenen Straße einmündete. Ein Autobus Numero 29A brauste vorbei, was Marie zu einem erschrockenen Lächeln reizte. Die beidseitig verparkte Straße trennte den Betonkomplex von einer Ansammlung kleinerer Einfamilienhäuser, die von Gärten und dazugehörigen Zäunen umgeben waren. Aus einiger Entfernung wirkten die Wohnblöcke, als hätte ein Riese seine Bauklötze auf die grüne Wiese fallen lassen. Mir kam die Erinnerung an meine früheren Orte in den Sinn. Wie anders waren die Häuser der Porzellangasse, durch die Tramway in aiolisches Getön versetzt, am barocken Palais Liechtenstein vorbei bis hinauf zum Althanplatz mit seinen imposanten Fassaden und hinunter zum Donaukanal, wo der Strom die Stadt durchzieht. Wie könnte Marie sich entfalten, wenn alles, was sie umgab, erdrückend war? Ich sah die Feuermauer eines weiteren glatten Baukastens, der das Bildnis totaler Ausweglosigkeit vervollkommnete. Ich las die Aufschrift:

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