Loe raamatut: «Der Verleger»
NANNI BALESTRINI
Nanni Balestrini (1935–2019) war zusammen mit Umberto Eco, Edoardo Sanguineti u.a. einer der bedeutendsten Vertreter der italienischen Neoavanguardia und Mitbegründer der »Gruppo 63«. Er betätigte sich als Schriftsteller wie bildender Künstler, als Zeitschriftengründer wie Verlagslektor. Politisch in der undogmatischen Linken beheimatet, stellt sein Schaffen von Beginn an den Versuch dar, den Impuls einer tiefgreifenden Veränderung der Gesellschaft mit experimenteller Praxis und Radikalität der ästhetischen Form zu verbinden.
Sein Werk reflektiert wie kaum ein anderes die jüngere Sozialgeschichte Italiens. Sein Roman »Wir wollen alles« wurde zum Parolengeber einer anderen Arbeiterbewegung. Bei Assoziation A erschienen von ihm die Romantrilogie »Die große Revolte«, die Camorra-Geschichte »Sandokan« sowie die Anthologie »Landschaften des Wortes«.
Nanni Balestrini
Der Verleger
Roman
Aus dem Italienischen
von Christel Fröhlich und Andreas Löhrer
Titel der italienischen Originalausgabe: L’editore
© Nanni Balestrini
This edition published in agreement with MalaTesta Literary Agency, Milan
Die von Nanni Balestrini zitierten Passagen aus dem Roman
»Unter dem Vulkan« von Malcolm Lowry wurden der von
Susanne Rademacher übersetzten und von Karin Graf durchgesehenen
deutschen Ausgabe entnommen, die 1989 im Rowohlt Verlag erschienen ist.
© der deutschsprachigen Ausgabe: Berlin/Hamburg 1992, Neuausgabe 2020 Assoziation A,Gneisenaustraße 2a, 10961 Berlin
www.assoziation-a.de, hamburg@assoziation-a.de, berlin@assoziation-a.de
Gestaltung: Andreas Homann
eISBN 978-3-86241-635-6
Dich, höre ich da
Haben sie verjagt mit
Gutem Grund
Bertolt Brecht
Inhalt
Vorwort
Erste Szene
Zweite Szene
Dritte Szene
Vierte Szene
Fünfte Szene
Sechste Szene
Siebte Szene
Achte Szene
Neunte Szene
Zehnte Szene
Elfte Szene
Zwölfte Szene
Anmerkungen
Theo Bruns
Verleger der Revolte
Ein Vorwort
»Die Methoden seiner Prosa sind so experimentell wie die sozialen Bewegungen, von denen sie handelt«, schrieb Peter O. Chotjewitz über das Schaffen des italienischen Schriftstellers Nanni Balestrini. Dies gilt auch und in besonderem Maße für den Roman »Der Verleger«, sein in Form und Inhalt vielleicht radikalstes und virtuosestes Werk.
Auch wenn der Name in dem Roman nicht ein einziges Mal genannt wird, so ist doch klar, um wen es sich bei dem Verleger handelt. Es geht um Giangiacomo Feltrinelli, die vielleicht einflussreichste und schillerndste Verlegerpersönlichkeit der europäischen Nachkriegsgeschichte. Am 19. Juni 1926 in Mailand geboren, nahm er als junger Mann am Befreiungskampf gegen die deutsche Besatzung und das Mussolini-Regime in den Reihen der US Army teil. In diesem Kontext machte er die Bekanntschaft von Partisanen, deren Tradition für ihn zeitlebens die zentrale Achse seines politischen Denkens und Handelns bilden sollte. Im März 1945 trat er der Kommunistischen Partei Italiens (PCI) bei, die er nach dem sowjetischen Einmarsch in Ungarn 1956 wieder verließ.
Nach dem Krieg gründete Feltrinelli eine Bibliothek sowie ein weltweit beachtetes Institut zum Studium der internationalen Arbeiterbewegung und des Sozialismus. 1954 eröffnete er den Feltrinelli-Verlag in Mailand, dem später eine Kette von Buchläden, die sich in Zentren der Bewegung verwandelten, angegliedert wurde. Binnen kurzem hatte der Verlag riesigen Erfolg. »Doktor Schiwago« von Boris Pasternak und »Der Leopard« von Giuseppe di Lampedusa wurden zu Weltbestsellern. Das weltoffene Projekt war international ausgerichtet, ein Leuchtturm freien Denkens, um den sich zahlreiche junge Schriftsteller und Intellektuelle scharten. Balestrini, der seit 1962 im Verlag arbeitete, erinnert sich rückblickend an die »prickelnde Atmosphäre von intellektueller Vitalität, von Freundschaft und Komplizenschaft«. Auch Inge Feltrinelli, eine deutsche Fotografin und dritte Ehefrau des Verlegers, hebt den Enthusiasmus, das Himmelstürmende der Anfangsjahre hervor. »Jeder von uns glaubte, der Verlag sei das Zentrum der Welt.«
Die kubanische Revolution war für Feltrinelli ein elektrisierendes Ereignis, das in seinem Denken mit der Erfahrung der Resistenza verschmolz. Mehrfach reiste er nach Kuba, wo er Fidel Castro und Che Guevara traf. Als der französische Philosoph und Revolutionstheoretiker Régis Debray in Bolivien als angeblicher Mitkämpfer Ches verhaftet wurde, reiste Feltrinelli nach La Paz, um sich für seine Freilassung einzusetzen. Er hatte zuvor dessen Buch »Revolution in der Revolution«, die klassische Formulierung der Fokustheorie, die die kubanische Erfahrung auf den Begriff brachte, in italienischer Übersetzung herausgebracht. In der Folge wurde Feltrinelli selbst verhaftet, zwei Tage lang verhört und schließlich des Landes verwiesen. Nach dem Tod Guevaras übersetzte und publizierte er dessen »Bolivianisches Tagebuch«, das sofort in zehntausendfacher Auflage Verbreitung fand. Auf dem Buchcover war das ikonische Foto abgebildet, das der kubanische Fotograf Alberto Korda von dem Guerillero gemacht hatte.
Feltrinelli, der gut Deutsch sprach, war der Studentenbewegung in der BRD eng verbunden und mit Rudi Dutschke befreundet. Er eröffnete den Internationalen Vietnamkongress im Februar 1968 in Berlin und ging wie Dutschke der strategischen Frage nach, ob und wie eine Übertragung der Guerillamethoden aus der Dritten Welt in die Metropolen möglich sei. Nach dem Attentat auf Dutschke lud ihn Feltrinelli nach Mailand ein, um ihm einen geschützten Raum für seine Rekonvaleszenz zu gewähren.
In Italien kam es im Heißen Herbst 1969 zu einem Ausbruch von Arbeiterkämpfen neuen Typs, zu spontanen, von räteähnlichen Komitees organisierten Massenstreiks, die sich der Kontrolle der Kommunistischen Partei und der Gewerkschaften entzogen. Gleichzeitig wurde das Land von einer Serie von Attentaten der extremen Rechten erschüttert, die ihren blutigen Höhepunkt in dem Bombenanschlag in der Nationalen Landwirtschaftsbank an der Piazza Fontana in Mailand am 12. Dezember 1969 fand. Obwohl – wie sich herausstellen sollte – Anhänger der faschistischen Organisation Ordine Nuovo für den Anschlag verantwortlich waren, wurde die Tat zunächst der Linken angelastet und die Anarchisten Pietro Valpreda und Giuseppe Pinelli wurden beschuldigt. Feltrinelli, der schon lange einen Staatsstreich von rechts befürchtet hatte und im Attentat der Piazza Fontana eine Parallele zum Reichstagsbrand sah, reagierte, indem er in die Illegalität ging. Anfang 1970 verkündete er in einem Brief an die Presse »das Ende der demokratischen Illusionen« und gründete eine klandestine Organisation, die GAP (Gruppo d’Azione Partigiana), die in seinen Augen den Befreiungskrieg der Resistenza zu Ende führen sollte. Nach verschiedenen kleineren Aktionen ereignete sich am 14. März 1972 der tragische Vorfall von Segrate. Bei einer Sabotageaktion gegen einen Hochspannungsmast in der Nähe von Mailand kam es vermutlich zu einer vorzeitigen Explosion der Sprengladung. Unter dem Mast wurde die Leiche eines Mannes gefunden. Schnell stellte sich heraus, dass es sich bei dem Toten um den berühmten Verleger handelte.
Sofort nach seinem Tod verbreiteten sich Gerüchte, dass Feltrinelli Opfer eines Geheimdienstkomplotts und ermordet worden sei, während die militante Linke darauf bestand, dass er kein Opfer, sondern ein Revolutionär sei, der kämpfend gefallen sei. Der Roman gibt in seiner Vielstimmigkeit der komplexen und kontroversen Figur des Verlegers ihre Würde zurück, indem er ihn in seinen Motiven und Handlungen ernst nimmt und sich gegen eine Entstellung wendet, die darauf abzielt, eine unbequeme Person unkenntlich zu machen. Der Verleger erscheint so als die Summe der Widersprüche seiner Zeit und als »ein leidenschaftlicher, aufrechter, zerrissener Zeuge, offen gegenüber der Welt, die sich verändert«.
Dennoch ist das Buch kein biografischer Roman. Der komplexe Text stellt vielmehr das Porträt einer Epoche dar, eingefangen im Moment des Todes des Verlegers, der einen unwiederbringlichen Bruch, einen Einschnitt in der Geschichte der radikalen italienischen Linken bedeutete. Danach war nichts mehr wie zuvor. Der Tod des Verlegers stellte alles in Frage und forderte Entscheidungen heraus. Er markierte den Übergang von einer Phase des Kampfes zu einer anderen, in deren Verlauf sich die Auseinandersetzungen zugleich radikalisierten und dezentralisierten. Der neue Zyklus beinhaltete das Ende der alten, an die Kommunistische Partei und die Gewerkschaften gebundenen Arbeiterbewegung und beruhte auf dem Aufbruch einer neuen rebellischen Generation, die sich frontal gegen das Regime der Arbeit selbst kehrte und die Kämpfe auf das gesamte gesellschaftliche Terrain ausweitete. Die Revolution wurde alltägliche Praxis, verband sich mit einer neuen Art zu denken und zu lieben. Getragen von einer stürmischen Jugend, die in ihren unmittelbaren Lebensverhältnissen, in ihren Verkehrsformen und Geschlechterverhältnissen so etwas wie eine anthropologische, nicht mehr rückgängig zu machende Veränderung durchmachte, die so tief reichte, dass für sie eine Rückkehr in die etablierten Verhältnisse unmöglich war. Diese existenzielle kulturelle Revolution wird einen kurzen, aber nachhaltigen Kampfzyklus prägen, der mit der Entführung Aldo Moros durch die Roten Brigaden, in denen das alte, monolithische Revolutionsmodell fortlebte, der fortschreitenden Militarisierung und der staatlichen Repression sein Ende finden wird.
Der Roman ist kunstvoll konstruiert und in zwölf Szenen gegliedert. Die ungeraden Kapitel geben im Zeitraum zwischen dem Auffinden der Leiche und der Beerdigung des Verlegers den Obduktionsbericht der Leiche, den jeweiligen Stand der polizeilichen Ermittlungen, die Reaktionen der Presse, Erklärungen der Politiker, Nachrichten über das Geschehen in aller Welt wieder. In den geraden Kapiteln treffen sich vier ehemalige Weggefährten des Verlegers, die 17 Jahre nach seinem Tod versuchen, einen Film über sein Leben zu drehen und die Schlüsselbedeutung, die dieses Ereignis für sie selbst und die Entwicklung der italienischen Linken beinhaltete, zu ergründen. Eingestreut sind Szenen aus dem Roman »Unter dem Vulkan« von Malcolm Lowry, der die Geschichte einer verzweifelten Liebe und des tragischen Todes eines britischen Konsuls in Mexiko erzählt, der dem Alkohol verfallen ist. Lowrys Roman spielt zur Zeit des Spanischen Bürgerkriegs, kurz vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, eine Allegorie der nahenden Katastrophe. Das Filmprojekt über den Tod des Verlegers in Balestrinis Roman wird schließlich scheitern, doch aus den Erinnerungsfragmenten und zahllosen Zitaten entsteht eine Collage, die ein faszinierendes Bild jener Zeit ergibt. In dieser kunstvoll zusammengefügten Polyphonie offenbart sich die Meisterschaft Balestrinis, der sich jeder Wertung enthält und den Lesenden die Freiheit lässt und die Anstrengung zumutet, sich ihr eigenes Bild zu machen.
Auch wenn er selbst in dem Roman – wie in seinem gesamten Werk – unsichtbar bleibt, Nanni Balestrini weiß genau, wovon er redet. Er war neben Toni Negri, Oreste Scalzone und Franco Piperno Gründungsmitglied von Potere Operaio (Arbeitermacht), einer außerparlamentarischen Gruppierung, die aus den Erfahrungen der neuen, unabhängigen Arbeiterkämpfe des Heißen Herbstes 1969 entstand. Später galt seine tiefe Sympathie der Bewegung der Autonomia, die in alle gesellschaftlichen Bereiche diffundierte und die Lebensverhältnisse revolutionierte. Im Kontext des großen staatlichen Schlages gegen die autonome Bewegung am 7. April 1979, in dessen Folge Hunderte von Militanten verhaftet wurden, floh Balestrini auf Skiern über die Alpen nach Frankreich, nachdem er morgens in der Zeitung gelesen hatte, dass nach ihm gefahndet wurde. In der Folge lebte er mehrere Jahre im französischen Exil, bis der Haftbefehl gegen ihn 1984 aufgehoben wird. Im Mai 2019 ist Nanni Balestrini mit 83 Jahren in Rom gestorben. Er ist und bleibt der große, unübertroffene Romancier der italienischen Revolte.
Die Neuausgabe dieses Romans, dessen deutschsprachige Übersetzung wir erstmals 1992, dann 2008 erneut im Rahmen der Trilogie »Die große Revolte« veröffentlichten, ist eine Hommage an unseren Autor und Compagno Nanni. Und zugleich die Erinnerung an einen Verleger, der seine Existenz in die Waagschale warf, im Versuch, die Welt zu verändern und die Ideen umzusetzen, an die er glaubte.
Der Verleger
Erste Szene
vierzehn Uhr dreißig der Leichnam ruht auf einem Tisch aus weißen Majolikakacheln durchzogen von langen Rillen in denen das Blut abfließen kann der Körper ist nackt die Haut ist außergewöhnlich blass elfenbeinfarben gegen den gräulichen Hintergrund ist dies der erste äußere Hinweis darauf dass der Tod durch Verbluten eingetreten ist der Professor gibt ein Zeichen der Assistent der Abteilung also der Mann der tatsächlich schneidet setzt das Seziermesser an mit einer kreisförmigen Bewegung rund um den Nacken wird der Tote skalpiert und die Kopfhaut über das Gesicht gezogen dies ist der erste Akt der Obduktion die Stille wird durch das Kreischen der Kreissäge mit der die Schädeldecke geöffnet wird durchbrochen wenn er die Schädelplatte jetzt abnimmt liegt das Gehirn offen da
aber dort unten war nichts keine Gipfel kein Leben kein Aufstieg und dieser Gipfel war auch eigentlich kein Gipfel er hatte keine Substanz keine feste Grundlage was er auch sein mochte er zerbröckelte er brach zusammen während er selbst fiel in den Vulkan fiel er musste ihn also doch erklommen haben obwohl jetzt das Geräusch sich heranwälzender Lava in seinen Ohren war entsetzlich das war ein Ausbruch doch nein das war nicht der Vulkan die Welt selbst zerbarst zerbarst in schwarze Lavaspritzer von Dörfern die in den Weltraum geschleudert wurden während er selbst durch alles hindurchfiel durch die unbegreifliche Hölle von einer Million Panzern durch das Flammenmeer von zehn Millionen brennenden Leibern in einen Wald fiel und fiel
als um vierzehn Uhr dreißig das Messer in Aktion tritt sind die Voruntersuchungen der Autopsie in dem mittelgroßen Saal mit zwei Seziertischen schon seit zwei Stunden in Gang die Leiche war um zwölf Uhr dreißig gebracht worden das Leichentuch wurde entfernt und zahlreiche Aufnahmen wurden gemacht aus der Totalen und Großaufnahmen von jedem Detail dann wurde der Tote langsam entkleidet jedes Kleidungsstück wurde beschrieben und katalogisiert Hemd Weste Jacke mit Fischgrätenmuster grünliche Hosen darüber eine zweite grüne Militärjacke
darunter Unterhemd und Unterhose schweizerische Schuhe mit Gummisohlen der linke Schuh befindet sich noch am Fuß der rechte Schuh wurde ungefähr fünfzehn Meter vom Körper entfernt gefunden der rechte Fuß noch ungefähr zwanzig Meter weiter weg der knapp oberhalb des Knöchels abgerissene Fuß liegt jetzt auf dem Tisch der Stumpf des rechten Beins endet Mitte des Oberschenkels der andere Teil fehlt er wurde von der Explosion zerfetzt und in alle Winde verstreut der unbekleidete Körper wird nochmals fotografiert der Bart ist schon älter über Monate gewachsen sieht aus wie Pfeffer und Salz die weißen Sengspuren am Bart sind so stellt man fest auf die Hitze der Explosion zurückzuführen
der Richter hat die Fragen bereits formuliert die die Gerichtsmediziner beantworten sollen der Anwalt der Familie wiederholt seine Forderung Zeitpunkt und Ursache des Todes festzustellen und zu klären ob die durch die Explosion gerissenen klaffenden Wunden einem Lebenden zugefügt wurden oder nicht ob es ältere Spuren vorausgegangener äußerer Einwirkungen gibt die den Tod oder zumindest eine schwere Verletzung zur Folge gehabt haben könnten oder ob sich vielleicht Spuren finden lassen die darauf hindeuten dass die Person mit Drogen oder ähnlichen Substanzen behandelt wurde der Richter hat allen Anträgen des Anwalts stattgegeben
im Verlauf der Autopsie wird der Anwalt von Zeit zu Zeit selbst intervenieren oder die Gutachter werden es für ihn tun und fordern dass dieses oder jenes kontrolliert werden muss ein bestimmter Schnitt zu setzen oder irgendein Organ zu entfernen und zu den Beweisstücken zu nehmen sei die Vertreter der Familie wenden sich dabei nie direkt an den Sezierenden sondern an den Professor der dann der Aufforderung folgt und sie dem Ausführenden gegenüber wiederholt obwohl die Angelegenheit tragisch ist und die Umstände makaber sind ist die Atmosphäre geprägt von Würde und ausgesuchter Höflichkeit wäre da nicht der Untersuchungsgegenstand gewesen so der Kommentar eines Gutachters nach der Autopsie hätte es die Sitzung wegen der Korrektheit und des von allen Beteiligten gezeigten Respekts verdient im Fernsehen übertragen zu werden so vorbildlich war sie
dem ersten Schnitt ging die äußere Erkundung des Körpers voraus eine langwierige Untersuchung des zerfetzten Rumpfes Arterie und Vene des Oberschenkels sind schlaff und ohne Blut das Gewebe wird auseinandergezogen Gefäße und Adern werden auf mögliche Partikel untersucht die bei einer Bombenexplosion metallisch sein müssten es fanden sich aber keine solchen Spuren übereinstimmend mit der Tatsache dass es sich worauf übrigens schon die bisherigen Ermittlungen hindeuteten um die Explosion einer Dynamitstange gehandelt hatte deren Hülle nur aus Papier und Kunststoff bestand
entlang der rechten Körperhälfte finden sich bis hinauf zum Gesicht unterschiedlich starke Verletzungen die linke Körperhälfte ist bis auf die unteren Gliedmaßen die Anzeichen einer Verbrennung zeigen unversehrt eigenartigerweise sind Bauch und Unterleib wie auch die Hände einschließlich der Daumen völlig unverletzt für spätere Analysen werden der oberen Hautschicht Gewebeproben entnommen schon jetzt kann wegen der bleichen Haut und des Zustands der Oberschenkelarterie mit Sicherheit gesagt werden dass der Tod durch Verbluten eingetreten ist
die folgende Untersuchung mit der Begutachtung des verbliebenen Blutes und des anämischen Zustands aller inneren Organe die ebenfalls recht blass sind wird mit größerer Präzision die Menge des verlorenen Blutes ergeben sicher einige der fünf Liter die normalerweise im menschlichen Körper zirkulieren die Blutung muss einige Minuten angedauert haben vielleicht zehn aber es ist schwierig in dieser Materie Sicherheit zu erlangen es können mehr oder weniger gewesen sein abhängig davon ob das Herz noch schlug oder schon stillstand
der Tod durch Verbluten unter Mitwirkung der Dynamitexplosion schließt ein erstes Element des Zweifels aus es ist ausgeschlossen dass der Tod bereits Stunden oder gar Tage vor der Explosion eingetreten sein kann damit entbehren um uns recht zu verstehen so fantastische Versionen wie dass der Verleger in Österreich getötet und als Leiche nach Italien geschafft wurde jeder Grundlage die Fragen bezüglich der Blutergüsse und der blutunterlaufenen Stellen am Körper bleiben aber offen wenn sie zustande kamen als der Körper zu Boden stürzte der Mann also in den ersten Sekunden nach der Explosion noch lebte würde das die Hypothese stützen dass das Dynamit explodierte während sich der Verleger einige Meter über dem Boden auf dem Strommast befand
aber auch die andere Hypothese dass das Opfer vor der Explosion geschlagen wurde und es betäubt oder schon tot war ist noch zulässig wird die vitale Reaktion das heißt der Grad der Blutinfiltration in das Gewebe das die Stöße erhalten hat dies beweisen können? die notwendigen Proben wurden entnommen aber Ergebnisse kann nur die mikroskopische Untersuchung erbringen und sie werden daher erst zu einem späteren Zeitpunkt vorliegen
auch der Umfang der unverletzt gebliebenen Körperteile lässt zwei einander widersprechende Hypothesen zu hier scheinen erste Hinweise der Autopsie eher für die Mordhypothese zu sprechen in der Tat erscheint es höchst unwahrscheinlich dass Dynamit das in Kniehöhe eines Menschen explodiert der rittlings oder gebückt oder aufrecht auf einem Strommast balanciert einen derart großen Teil des Körpers angefangen beim Unterleib unverletzt lässt ein solches Bild erschiene zumindest auf der Grundlage der der Gerichtsmedizin bekannten Fälle wahrscheinlicher wenn die Explosion über einem flach auf der Erde liegenden Körper erfolgt wäre da eine Explosion stets dazu neigt sich stärker nach oben als seitlich auszubreiten
in diesem Fall aber hätten es zwei Explosionen sein müssen der Strommast ist in einer Höhe von drei Metern am Verbindungspunkt der horizontalen mit zwei diagonalen Streben stark verbogen worden das Gericht hat deshalb eine Untersuchung des Strommasts angeordnet um zu klären ob es nur eine Explosion gab oder ob nur einmal angenommen mit einem einzigen Auslöser eine Explosion über dem auf der Erde liegenden Mann und gleichzeitig eine weitere am Strommast in drei Meter Höhe ausgelöst wurde was das betrifft brachte der auf der Grundlage des Autopsieergebnisses vom Samstag angeordnete Lokaltermin am Sonntagvormittag eine unerfreuliche Überraschung die Elektrizitätsgesellschaft hatte die beschädigten Verstrebungen am Mast bereits reparieren und neu lackieren lassen der Erste der seine Missbilligung über diese seltene Eile ausdrückte war der Untersuchungsrichter
immer noch im Rahmen der äußeren Untersuchung des Körpers stellen die Gutachter ein anatomisches Merkmal des Verlegers fest das wenn dies noch nötig gewesen wäre die Richtigkeit der Identifizierung bestätigte ein ebenso signifikantes Merkmal wie ein Fingerabdruck ein besonderes Kennzeichen des Opfers seine zusammengewachsenen Zehen die Feststellung dieser Besonderheit dass das zweite und dritte Knochenglied der beiden Zehen eins sind schließt die äußere Untersuchung ab und die Gutachter können unter der Anleitung des Gerichts bereits den ersten Teil des Abschlussberichts aufsetzen der der Presse übermittelt werden wird für den Laien scheint die Aussage klar zu sein es steht noch aus das eventuelle Vorhandensein von Drogen sowie die exakte zeitliche Abfolge der Verletzungen an Kopf Hirn und Brustkorb festzustellen und ob sie dem Tod vorausgingen oder nicht dem Experten aber verraten diese Worte die alles andere als klare Art der Indizien
im Übrigen lässt sich festhalten dass dies der ganz normale Ablauf ist die Ärzte definieren den langsamen und geduldigen Prozess der Autopsie als eine beschreibende Kunst man untersucht den Körper und das bedeutet mehr als ihn von innen und außen zu fotografieren man protokolliert jeden Zustand jede Anomalie aber die Bewertung aller Daten die man in der Obduktion gewinnen wird findet erst in einer späteren Phase statt sie besteht in der Abfassung eines Berichts über die noch nicht vorgenommene Obduktion durch die Gerichtsgutachter nach Abschluss aller radiologischen Untersuchungen des Bluts und der toxikologischen Untersuchung des Gewebes diesem Bericht wird das Gegengutachten des Anwalts der Familie beigefügt
das Gehirn liegt jetzt offen der Gerichtsgutachter hat das Gehirn dem Schädel entnommen das Großhirn mit dem Kleinhirn also die ganze Gehirnmasse aufmerksam hat er die Schädelbasis untersucht um zu überprüfen in welchem Maß und bis zu welcher Tiefe sich die äußerlich festgestellten Prellungen und blutunterlaufenen Stellen im Schädelinnern ausgewirkt haben es ist erwiesen dass sie beträchtliche Auswirkungen hatten man spricht von einem schweren Schädeltrauma doch bleibt bislang noch offen ob diese Gehirnprellung den Tod allein verursacht oder nur dazu beigetragen hat sicher ist aber dass das Trauma nicht mit der Explosion im Zusammenhang steht sondern mit den Stoßeinwirkungen
auch diesbezüglich gibt es wieder zwei oder noch mehr Alternativen das Opfer könnte sich die Verletzungen beim Sturz vom Mast zugezogen haben oder falls das Opfer am Boden lag könnten sie auch die Folge von Schlägen mit einem stumpfen Gegenstand noch vor Eintritt des Todes gewesen sein und schließlich könnten sie aus dem Wiederaufprall des durch die Explosion in die Luft geschleuderten Körpers auf den Boden resultieren Erörterungen dieser Art werden mit den Resultaten der ballistischen Gutachten übereinstimmen müssen die die kinetische Energie der genauen Menge und Art des in der Dynamitstange enthaltenen Sprengstoffs bestimmen können nebenbei variiert die kinetische Energie entsprechend dem Feuchtigkeitsgrad des Pulvers ein Element das vermutlich nicht einfach festzustellen sein wird
ihr besonderes Augenmerk richten die beiden Ballistikgutachter auf zwei Erkenntnisse der Sprengstoff war von minderer Qualität und es handelte sich um Sicherheitssprengstoff das heißt er konnte nicht von selbst explodieren sondern nur indem man ihn zündete doch kein Mensch löst die Zündung aus wenn nicht vorher alle Sprengladungen an der vorgesehenen Stelle angebracht wurden die Ladungen die benutzt werden sollten lagen aber großenteils noch auf der Erde wie erklärt sich das?
fünfzehn Uhr vierzig Öffnung des Brustkorbs Schnitt und beidseitige Resektion der Rippen flüssiges Blut tritt aus teils hämolytisch ein Teil davon wird aufgefangen es wird für andere Untersuchungen speziell für toxikologische gebraucht Entnahme des Herzens es wird herausgetrennt und ausgedrückt dann werden die Lungenflügel mitsamt der Luftröhre entfernt die Bronchien werden mit einer Schere abgetrennt der Magen wird oben und unten verschnürt damit der Mageninhalt nicht austritt und so herausgeschnitten dann wird er geöffnet und der Inhalt begutachtet es findet sich Blut das im traumatischen Moment des Todes den Rachen hinuntergesickert ist im Magen finden sich keine Speisereste das Opfer war als es starb sicher seit vielen Stunden nüchtern zusammen mit dem Blut dem Urin und dem Mageninhalt werden alle herausgetrennten Eingeweide mit Nieren Leber und Milz dem toxikologischen Gutachter anvertraut das Ergebnis der Analyse wird erst zu einem späteren Zeitpunkt vorliegen
wird es alle Zweifel ausräumen? übereinstimmend sind die Gutachter der Ansicht dass sich eindeutige Aussagen treffen lassen falls sich offensichtliche Spuren einer Droge finden wenn aber die Spuren vage und unsicher sein sollten würden Zweifel bleiben ob das Opfer unter Rauschgift stand oder nicht? acht von neun Menschen nehmen heutzutage Beruhigungsmittel Schlaftabletten oder Angsthemmer natürlich ohne deshalb unter Rauschgift gesetzt worden zu sein stärker wäre die Unsicherheit noch falls dem Opfer dies nur als mögliche Hypothese anstatt irgendwelcher Medikamente Betäubungsmittel wie Chloroform oder Äther verabreicht worden wären leichtflüchtige Substanzen dieser Art könnten bei einer Autopsie die mehr als vier Tage nach Eintritt des Todes durchgeführt wird nicht mehr festgestellt werden
es ist jetzt bereits nach fünf Uhr am Nachmittag Untersuchung des Leibes nachdem man ihn mit einem Bauchschnitt unterhalb des Zwerchfells geöffnet hat der Professor wechselt sich jetzt freundlicherweise mit dem Pathologen ab der schon lange hart gearbeitet hat die Atmosphäre ist immer noch gelassen und sehr korrekt ohne Polemik und Befangenheit keine Unterstellungen weil es wie gesagt keinen Grund gibt wenn die Messer gewechselt werden oder ein Schnitt gesetzt wird der Dünndarm kommt zum Vorschein und der lange Strang des Darms wird Stück für Stück abgeschnitten und geöffnet auch der Darm ist überwiegend leer selbst im Dickdarm findet sich nur wenig kotiger Brei die Genitalien sind anatomisch vollständig
zur Untersuchung des Rückgrats das heißt der Wirbelsäule wird der Tote auf den Bauch gedreht zuvor wurde noch der Kehlkopf kontrolliert wenn das Opfer erwürgt worden wäre wäre der Kehlkopf gebrochen er ist es nicht schwieriger ist es in einer ersten Untersuchung die Möglichkeit des Erstickens beispielsweise mit einem Kissen zu überprüfen aber darüber werden vielleicht später die mikroskopischen Untersuchungen der Lungen Klarheit bringen Untersuchung des Rachenraums es wird kontrolliert ob der Kiefer gebrochen ist nein ob der Gaumen ein Loch hat nein die Untersuchung des Rückgrats bestätigt den Bruch einiger Wirbel was nicht überrascht es passt zu dem schon vorhandenen Bild der Wirkungen eines Sturzes oder Stoßes
um neunzehn Uhr endet die Untersuchung der Wirbelsäule der Körper wird gewaschen und gesäubert der Pathologe nimmt Nadel und Faden zur Hand und vernäht sorgfältig die langen Öffnungen die Kopfhaut wird an ihren Platz zurückgebracht und befestigt sodass das Gesicht wieder kenntlich wird der Richter diktiert die übliche Feststellung dass der Leichnam wieder anständig hergerichtet wurde der Schlussbericht wird vervollständigt und noch einmal verlesen gesichert ist also die hauptsächliche Todesursache nicht gesichert ist der Zeitpunkt des Todes und die Abfolge von Explosion und Prellungen die Fragen die sich bereits am Morgen gestellt haben sind auch am Abend noch unbeantwortet es bleibt zu hoffen dass sie nach Abschluss aller Untersuchungen ihr Fragezeichen verlieren
er gab in bedächtigem Abstand noch zwei Schüsse ab Donnerschläge krachten in den Bergen und dann unmittelbar neben ihnen freigelassen stieg das Pferd hoch den Kopf hin und her werfend drehte es sich um sich selbst und galoppierte dann wiehernd in den Wald zuerst empfand er eine wunderliche Erleichterung sie hatten ihn erschossen das wusste er jetzt er ging auf ein Knie nieder dann fiel er stöhnend flach aufs Gesicht ins Gras es regnete sacht Gestalten geisterten um ihn und hielten seine Hand vielleicht noch immer um ihn auszurauben oder um ihm zu helfen oder auch nur aus Neugier er fühlte sein Leben entgleiten wie ein Stück glitschige Leber und im zärtlichen Gras versickern er war allein wo waren sie alle? oder war nie jemand da gewesen?