Loe raamatut: «Glutroter Mond», lehekülg 3

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Kapitel drei

Holly

Alles in diesem Raum ist weiß. Die Wände, der Boden, die Stühle, die Tür. Es blendet mich. Ich kenne keine weißen Räume, in der Stadt ist alles schmutzig und grau. Ich habe sehr lange keine medizinische Station mehr von innen gesehen. Als ich zwölf Jahre alt war, litt ich tagelang unter schlimmer Übelkeit und Krämpfen. Ich habe damals gedacht, ich müsste sterben. Ich war der festen Überzeugung gewesen, mich mit dem Virus infiziert zu haben, das die meisten Einwohner meiner Stadt vor vielen Jahren getötet hat. Am dritten Tag ist Carl mit mir zur medizinischen Station gegangen. Ich habe kaum noch Erinnerungen daran, eher wie die Bilder eines Traumes, die einem entgleiten, je mehr man sie zu fassen versucht. Ich bekam schlimmes Fieber, nahm alles nur wie durch einen Schleier hindurch wahr. Aber ich weiß noch, wie Carl mich auf dem Arm in das weiße Gebäude getragen hat. Das strahlende Weiß hat sich in mein Gedächtnis gegraben, und ich fühle mich jetzt schmerzlich an meine Krankheit erinnert. Von diesem Tag an war weiß für mich stets die Farbe, die ich mit Unwohlsein verbinde. Sie hatten mir Tabletten gegeben, die schrecklich schmeckten. Ich lag auf einer Liege, über mich beugten sich mehrere Männer, deren schwarze Anzüge einen flirrenden Kontrast zu den Wänden bildete. Mir stellen sich die Haare auf meinen Unterarmen auf, wenn ich daran denke. Ich bin wieder ganz gesund geworden, aber meine Abneigung ist geblieben. Es war das erste und letzte Mal, dass ich eine medizinische Station besuchen musste. Bis heute. Aber heute ist der Anlass erfreulicher und ich ringe meine negativen Gefühle nieder.

Die medizinische Station ist ein flaches Gebäude mit nur einem Stockwerk. Ein ungewohnter Anblick für mich. Der Raum, in dem ich mich befinde, ist leer bis auf ein paar Stühle, die an der Wand stehen. Es sind weiße Plastikstühle. Mir gegenüber hängt eine Uhr, weiß mit schwarzen Zeigern. Es ist sieben Uhr am Morgen. Ich habe die ganze Nacht nicht schlafen können, und auch jetzt verspüre ich keine Müdigkeit, nur grenzenlose Anspannung. Ich knete auf meinen Fingerspitzen herum, weil ich nicht weiß, womit ich meine nervösen Hände beschäftigen soll. Suzie ergeht es ähnlich. Sie sitzt rechts von mir und streicht sich schon zum hundertsten Mal mit den Fingern durch die langen blonden Haare. Fast befürchte ich, sie könnten ihr ausfallen, weil sie so sehr daran herumzieht. Mit ihrem linken Bein wippt sie auf und ab. Es raubt mir den letzten Nerv.

Suzie und ich sind die einzigen beiden Menschen im Wartezimmer. Ich habe erwartet, mehr Jugendliche bei der Erstuntersuchung anzutreffen und bin mir sicher, dass es noch andere geben muss. Ob man sie an einem anderen Tag oder zu einer anderen Uhrzeit herzitiert hat?

Mein Magen knurrt, ich habe Hunger, weil ich noch nichts gegessen habe, nicht einmal etwas getrunken. Carl meinte heute morgen zu mir, ich müsse nüchtern sein, wenn sie mir Blut abnehmen. Ich habe keine Ahnung, ob das weh tun wird. Ich kenne nur die Schilderungen meiner Mitbewohner. Carl hat nur gelacht, als ich ihn danach gefragt habe, und mir auf die Schulter geklopft. Ich habe gequält gelächelt und mich sogleich für meine dumme Frage geschämt. Ich darf nicht vergessen, weshalb ich hier bin und was mein Ziel ist. Dafür muss ich Opfer bringen. Ich möchte die Welt jenseits der Brücken sehen, und ein kleiner Pieks wird mich nicht davon abhalten. Ich hoffe inständig, dass sie mich für tauglich befinden werden. Weniger als jeder fünfte der untersuchten Sechzehnjährigen wird am Ende auch rekrutiert, deshalb darf ich mir keine zu großen Hoffnungen machen, um hinterher nicht enttäuscht zu sein.

»Was glaubst du, wie lange sie uns noch warten lassen?« Suzie flüstert, aber ich erschrecke trotzdem fürchterlich. Sie hat mich aus meinen Gedanken gerissen. Ich sehe wieder auf die Uhr. Nur fünf Minuten sind vergangen, seit ich das letzte Mal hingesehen habe.

»Ich weiß nicht. Aber ich hoffe, nicht mehr allzu lange. Ich verhungere.«

»Ich auch. Mensch, ich bin so aufgeregt! Nichts würde mich mehr hier halten, wenn die Obersten mich zu sich riefen.« Suzies Augen leuchten.

Ich kann es mir nicht erklären, aber in diesem Moment unterdrücke ich den Impuls, ihr ins Gesicht zu schlagen. Ich bin unfair und mir meiner gemeinen Gedanken bewusst, aber zum ersten Mal kommt mir in den Sinn, dass es passieren könnte, dass man Suzie tatsächlich rekrutiert, während ich dazu verdammt sein würde, mein monotones Leben fortzuführen. Ich gönne es ihr nicht, obwohl ich mich schlecht dabei fühle.

Ich erwidere nichts, sondern nicke nur. Ich hoffe, sie hat meine Emotionen nicht in meinem Gesicht abgelesen.

Die Tür unter der Wanduhr gegenüber öffnet sich einen Spaltbreit. Eine dunkelhaarige Frau steckt den Kopf ins Wartezimmer. Mein Herz macht einen Sprung und meine Muskeln spannen sich an. Ich balle meine Hände so fest zu Fäusten, das sich die Fingernägel in meine Handflächen graben.

»Nummer 21-19 bitte in den Untersuchungsraum.« Die Stimme der Dame ist nüchtern und zeigt keinerlei Gefühle. Vermutlich ist es für sie Routine. Für mich ist es das nicht.

Ich spüre einen kleinen Stich der Enttäuschung in meiner Brust, als Suzie neben mir ein vergnügtes Quietschen ausstößt und von ihrem Stuhl aufspringt. 21-19 ist ihre Individuennummer, nicht meine. Sie würdigt mich keines Blickes mehr, als sie hinter der Ärztin im Raum gegenüber verschwindet und sich die Tür wieder schließt. Ich ringe mit den Tränen, obwohl mein Verhalten dumm ist. Was interessiert es mich, was Suzie tut? Ihr Leben geht mich nichts an, und würden wir nicht in derselben Kommune leben, würde ich nicht einmal etwas davon mitbekommen, ob sie rekrutiert wird oder nicht. Wir waren nie gute Freundinnen, nur Bewohner desselben Hauses. Anders verhält es sich mit Neal. Ich war so froh gewesen, als man ihn im letzten Jahr nicht zur Brücke gerufen hatte. Ob er sich dieses Mal ebenso wünscht, dass ich für untauglich erklärt werde? Einerseits macht es mich wütend, andererseits kann ich ihn verstehen. Es würde mir nicht leicht fallen, ihn zurückzulassen. Dennoch möchte ich nicht mein Leben lang auf den Augenblick gewartet haben, um Tränen zu vergießen, sollte er sich nähern. Zudem ich ohnehin keine Wahl gehabt hätte. Die Obersten würden ihre Auserwählten notfalls mit Gewalt von Zuhause abholen, dessen bin ich mir sicher.

Ich starre auf meine Schuhe. Sie sind gelb, genau wie mein Anzug. Ich versuche mir vorzustellen, wie ich in den schwarzen Anzügen der Obersten aussehen würde. Ein dummer Gedanke. Ich sollte mich stattdessen lieber darauf einstellen, abgewiesen zu werden.

Ich weiß nicht, wie lange ich noch in dem weißen Raum sitze und außer dem leisen Ticken der Uhr nichts höre. Es ist zwanzig Minuten vor acht. Um acht gibt es Frühstück im Park. Ich werde nicht pünktlich sein. Es ärgert mich, weil mein Magen noch immer knurrt. Je länger ich im Wartezimmer sitze, desto größer wird mein Frust, der schließlich sogar meine Anspannung überdeckt. Schon bald wünsche ich mir, die Untersuchung wäre schon vorüber und ich wäre wieder bei Carl und Neal daheim.

Dann endlich öffnet sich erneut die Tür. Wieder sehe ich in das Gesicht der blassen Ärztin.

»Nummer 4-19«, sagt sie ebenso nüchtern wie zuvor.

Nun geht es also los. Ich atme einmal tief ein und stehe von meinem weißen Plastikstuhl auf. Meine Knie zittern. Ich schlüpfe durch die Tür, die die Ärztin direkt hinter mir wieder schließt. Der Raum, in den sie mich gebeten hat, ist kleiner als das Wartezimmer. Ich bin ein bisschen enttäuscht, obwohl ich nicht sagen kann, weshalb. Ich hatte mir alles größer und faszinierender vorgestellt. An einer Wand ist eine Liege, die fast genauso lang ist wie der Raum breit. Daneben ist eine weitere Tür. Ich nehme an, durch die ist Suzie nach ihrer Untersuchung gegangen, denn ich habe sie nicht durch das Wartezimmer gehen sehen. Ich hatte gehofft, in ihrem Gesicht vielleicht ablesen zu können, was mich erwartet, wenn sie das Untersuchungszimmer verlässt, doch diese Hoffnung hat sich nicht erfüllt.

Im Zimmer gibt es neben der weißen Liege noch einen runden Hocker und an der dritten Wand eine hüfthohe weiße Kommode mit zahlreichen Schubladen. Am Fußende der Liege steht eine silberne, flache und rechteckige Schale, in der eine Nadel und drei Plastikröhrchen liegen, außerdem ein Pflaster, Watte und eine Sprühflasche. Ich spüre, wie eine Schweißperle unter meinem Anzug meine Wirbelsäule hinab läuft.

Die Ärztin stellt sich mir nicht vor, sie gibt mir auch nicht die Hand. Sie setzt sich auf den Hocker und bedeutet mir mit einer Geste, auf der Liege Platz zu nehmen. Ich tue wie mir geheißen.

»Wie alt sind Sie, 4-19?« Sie nimmt ein Klemmbrett von der Kommode und zieht einen Stift aus der Brusttasche ihres weißen Kittels. Mir fällt auf, dass sie darunter keinen schwarzen Anzug trägt, sondern eine weiße Hose und ein weißes Shirt.

Es kommt mir seltsam vor, mit meiner Nummer angesprochen zu werden. »Ich bin vor zwei Monaten sechzehn Jahre alt geworden.«

Die Frau nickt und notiert sich etwas auf dem Zettel, der im Klemmbrett steckt. »Haben Sie ihren Ausweis dabei?«

»Ja, natürlich.« Ich öffne den Reißverschluss der Brusttasche meines Anzuges und ziehe die kleine Plastikkarte hervor, auf der meine Individuennummer und mein Fingerabdruck vermerkt sind. Ich halte der Dame den Ausweis hin, aber sie nimmt ihn nicht, sondern sieht nur flüchtig darauf und nickt. Ich stecke ihn wieder zurück in die Tasche.

»Was passiert heute mit mir?« Ich wundere mich über meine eigene dünne Stimme. Meine Wangen glühen.

Die Ärztin sieht mich an, aber ich kann keine Gefühle in ihrem Gesicht sehen. Mir läuft ein Schauder über den Rücken. Sie wirkt auf mich wie eine leblose Puppe.

»Nur ein paar einfache Tests. Die Bluttest sind am wichtigsten.«

»Werden dieses Jahr wieder neue Leute rekrutiert?«

Sie antwortet nicht, was mir das Gefühl beschert, eine dumme Frage gestellt zu haben. Beschämt senke ich den Kopf. Ich hatte eigentlich gehofft, irgendwie mit meiner Bildung und meinem Wissen punkten zu können, aber jetzt wird mir bewusst, wie kindisch dieser Wunsch gewesen war. Das scheint niemanden zu interessieren.

»Krempeln Sie den linken Ärmel bitte nach oben«, sagt die Ärztin und übergeht meine Frage.

Mit schwitzigen Händen komme ich ihrer Aufforderung nach. Sie schiebt ihre eigenen weißen Ärmel nach oben. Mein Blick fällt auf eine seltsame dunkle Zeichnung auf ihrem linken Arm. Es sieht aus wie ein Muster, schwarz und geheimnisvoll. Geschwungene Linien, kunstvoll ineinander geflochten, ziehen sich von ihrem Handgelenk aus hinauf bis zum Oberarm. So etwas habe ich nie zuvor gesehen. Weshalb malt sie sich an? Ich bin so fasziniert davon, dass ich kaum mitbekomme, wie sie die Nadel vom Tablett nimmt. Erst jetzt irrt mein Blick zurück auf ihre Finger. Sie schält die Nadel aus einer durchsichtigen Plastikverpackung. An ihrem Ende befindet sich eine Art Schraubadapter, ich nehme an, um die Röhrchen zu befestigen. Sie sprüht etwas von der kalten Flüssigkeit auf meine Armbeuge und bittet mich eine Faust zu machen. Ich kann kaum noch verbergen, wie sehr ich zittere.

Sie sticht die Nadel in meinen Arm. Das geht so schnell, dass ich mich wundere, dass es kaum weh tut. Sie befüllt alle drei Röhrchen mit Blut. Gebannt starre ich auf ihre Finger, während sie das tut. Ich habe in meinem Leben noch nicht viel Blut gesehen, nur mein eigenes, wenn ich meine unpässlichen Tage habe. In den Röhrchen schwappt es dunkelrot.

Als die Ärztin fertig ist, klebt sie mir ein Pflaster auf die winzige Einstichstelle. Das war schon alles? Fast ärgere ich mich, weil ich Angst davor gehabt hatte. Carl wird mich auslachen, wenn ich heute Abend zurückkomme.

Die Ärztin schiebt ihre Ärmel wieder nach unten und verdeckt das Muster auf ihrem Arm. Dann bittet sie mich aufzustehen. Aus einer Schublade der Kommode nimmt sie ein Maßband. Ich werde komplett vermessen, danach noch gewogen. Ich muss mich in alle möglichen Richtungen drehen, während sie meinen Rücken abtastet. Währenddessen spricht sie kein Wort mit mir. Erst, als sie wieder auf ihrem Klemmbrett herumkritzelt, setzt sie dazu an, etwas zu sagen.

»Verlassen Sie den Raum bitte aus dieser Tür.« Sie deutet auf jene, durch die ich nicht hereingekommen bin. »Dahinter wartet jemand mit Frühstücksbrei und Wasser auf Sie, immerhin haben sie das gemeinsame Mahl verpasst. Menschen werden krank, wenn sie nicht regelmäßig essen.«

So, wie sie es sagt, klingt es keinesfalls freundlich. Eher so, als sei ich nur eine Maschine. Dennoch freue ich mich, dass ich nicht mit leerem Magen in meine Kommune zurückkehren muss.

»In wenigen Tagen werden Sie von uns hören.« Sie hebt den Blick und sieht mich an, als könne sie nicht fassen, dass ich immer noch hier bin. Ich habe den Eindruck, sie möchte mich schnellstmöglich loswerden. Gerne hätte ich ihr noch ein paar Fragen gestellt, aber das traue ich mich nicht. Schweigend verlasse ich den Untersuchungsraum.

***

»Und? Hast du ein gutes Gefühl?«

Ich zucke zusammen, weil Neal mich aus meinen Gedanken gerissen hat. Er lässt den Kopf hängen und sieht mich nicht an, während er mit mir spricht. Er sitzt links von mir. Wir haben uns die Schuhe ausgezogen und sitzen direkt auf der Kante der Straße am Wasser. Unsere Beine baumeln herunter, aber ich kann die Wasseroberfläche mit den Füßen nicht erreichen.

»Was meinst du?«, frage ich, obwohl ich ganz genau weiß, wovon er spricht. Ich versuche, es beiläufig klingen zu lassen.

»Na ob du glaubst, für tauglich befunden zu werden.« Er sieht mich immer noch nicht an. Seine Haare hängen wie ein Vorhang vor seinem Gesicht, während er auf seine Füße starrt, die vor und zurück schwingen.

»Woher soll ich das wissen? Die Ärztin hat überhaupt nicht mit mir gesprochen. Du musst es doch selbst wissen, du bist erst letztes Jahr bei der Untersuchung gewesen.«

Jetzt hebt Neal doch den Blick. Die Traurigkeit in seinen Augen versetzt mir einen Stich. Ich hätte nie gedacht, dass es ihn so sehr treffen würde, wenn ich einmal nicht mehr da bin. Mit einem Mal fühle ich mich befangen und seine Nähe ist mir unangenehm. Unsere Oberarme berühren sich, weil wir so dicht nebeneinander sitzen.

»Es ist jetzt schon zwei Tage her«, sagt er. Höre ich Hoffnung in seiner Stimme?

»Benachrichtigen sie einen auch, wenn man nicht genommen wird?«

Neal schüttelt den Kopf. »Nein. Ich habe nie wieder etwas von meinen Untersuchungsergebnissen gehört.«

Ich denke darüber nach, dass auch Suzie noch nicht Bescheid bekommen hat. Wenn wir beide nicht genommen werden, könnte ich besser damit umgehen. Andererseits ist es erst zwei Tage her. Ich weiß nicht, wie lange es dauert, Blut zu testen.

Ich hebe den Kopf und blicke geradeaus. Vor mir erstreckt sich eine weite Wasserfläche, die sich am Horizont in der flirrenden Energiebarriere verliert, die um unsere Stadt gespannt ist. Nur eine Brücke führt hindurch. In meinen Büchern steht, die Barriere schütze uns vor erneuten Virusepidemien. Mir ist es gleichgültig. Ich weiß, dass es dahinter nichts mehr gibt als das Ende der Welt und den Himmel, aus dem die Viren gekommen sind. Ich fühle mich sicher hinter der Barriere.

Neal folgt meinem Blick. Wir sitzen oft an diesem Ort, der südlichsten Spitze der Landzunge, und sehen auf das Wasser hinaus. Hinter uns erstreckt sich ein kleiner Park, aber dort wachsen nur verdorrte hässliche Bäume, deren Äste verkrüppelt sind. Die Pflanzen im großen nördlichen Park sind hingegen noch belaubt.

»Siehst du dir die grüne Dame an?«, fragt Neal mich leise.

Ich nicke. »Ja. Sie sieht so einsam aus.«

In der Ferne gibt es eine kleine Insel vor der Küste unserer Stadt, direkt dahinter flirrt der Energieschild. Ich kann die Distanz nicht schätzen, aber es ist sicherlich mehr als eine Meile. Auf der Insel thront eine seltsame Statue, sie ist hellgrün. Ich habe mir oft gewünscht, meine Augen wären besser, damit ich ihr Gesicht erkennen kann, doch sie ist viel zu weit entfernt. Wenn ich ehrlich bin, kann ich sie fast gar nicht erkennen. Alles, was ich sehen kann, ist, dass sie ihren rechten Arm in die Höhe reckt und etwas nach oben hält. Die Statue wird von den Einwohnern nur die grüne Dame genannt.

»Glaubst du, die Menschen der alten Welt haben sie auf diese Insel verbannt?« Ich wende Neal den Kopf zu. Er zuckt nur die Achseln.

»Das weiß ich nicht. Es ist ebenso möglich, dass die Obersten sie als Wahrzeichen errichtet haben.« Er zeigt mit dem Finger in ihre Richtung. »Siehst du? Sie trägt eine Krone mit sieben Zacken. Das Symbol der Obersten ist ein siebenzackiger Stern, vielleicht gibt es einen Zusammenhang.«

»Du kannst ihre Krone erkennen?« Ich kann es kaum glauben und ärgere mich zugleich, dass er mir das nie zuvor erzählt hat. Ich habe alle meine Bücher nach Informationen über die grüne Dame abgesucht und nichts gefunden. Und jetzt sagt er mir ganz beiläufig, dass ihre Krone sieben Zacken hat!

»Nun ja, das habe ich nur deshalb erkannt, weil ich einmal durch ein Fernrohr gesehen habe, das ich mir aus einer alten Brille gebaut habe.« Er lächelt und sogleich schmilzt mein Verdruss dahin.

»Glaubst du auch, dass dies hier ein Werk der Obersten sein könnte?« Ich öffne den Reißverschluss der linken Brusttasche meines Anzuges und ziehe eine abgegriffene Karte aus stabilem Karton hervor.

»Die Pappe?«

»Nein, das, was darauf abgebildet ist, du Dummerchen!« Ich knuffe meinen Freund in die Seite und halte ihm die Karte unter die Nase. Sie ist mein größtes Heiligtum und alles, was mir von meinen Eltern geblieben ist.

Er sieht sich das Bild an und schüttelt den Kopf. »Das ist vielleicht nicht echt. So einen Ort kenne ich nicht. Ich würde an deiner Stelle nicht zu viel hinein interpretieren.«

Ich sehe mir selbst noch einmal das Bild an, obwohl ich es schon tausend Mal getan habe. Es ist das lebensechte Abbild eines Hügels, auf dem übermannsgroße Buchstaben thronen. Hollywood steht dort. Ich bilde mir ein, meine Eltern hätten mich nach dieser Karte benannt. Die Rückseite ist komplett weiß und unbeschriftet. Mein größter Wunsch ist es, ihrem Geheimnis auf die Spur zu kommen. Wie gerne würde ich meine Eltern fragen, was es damit auf sich hat!

Enttäuscht stecke ich sie zurück an ihren Platz und verschließe den Reißverschluss.

»Ich weiß, dass du oft an deine Eltern denkst.«

Es kommt mir vor, als wäre Neal noch näher an mich heran gerutscht. Ich nehme den Geruch seiner Haut wahr, Staub und Seife. Sein Gesicht ist nur einige Zoll neben meinem. Mein Blick haftet an der kleinen Narbe über seinem rechten Auge, die ihr nur sehe, wenn er mir so nah ist wie jetzt. Vor einigen Monaten hat Neal sich bei der Arbeit verletzt, ein scharfes Stück Blech hat ihm die Haut aufgeschnitten. Jetzt zieht sich eine feine Linie durch seine Augenbraue, auf der keine Haare wachsen.

Ich möchte nicht, dass Neal mit mir über meine Eltern spricht und wünsche mir, er würde still sein. Ich ringe schon wieder mit den Tränen. Dabei habe ich weniger Grund dazu als Neal, immerhin hat er seine Eltern gekannt und ich nicht. Für ihn muss es sich schlimmer anfühlen als für mich, trotzdem jammert er nie oder verliert auch nur ein Wort über seinen Kummer.

Als das Schweigen zwischen uns anfängt, peinlich zu werden, sage ich schließlich doch etwas, aber meine Stimme klingt brüchig. »Ich wünsche mir, meine Eltern jenseits der Brücke wiederzusehen.«

Kaum ist der Satz heraus, bereue ich ihn auch schon. Es muss sich herzlos für ihn anhören, weil seine Eltern tot sind und meine vielleicht nicht.

Neal beißt sich auf die Unterlippe und sieht wieder ins Wasser hinab. Es ist grau und glatt. Es schwappt gegen die Uferkante. »Ist das der Grund, weshalb du unbedingt die Stadt verlassen möchtest? Weshalb du dich jeden Tag in Bücher vergräbst und Sport treibst?« Er schüttelt traurig den Kopf. »Ich möchte nicht, dass du enttäuscht wirst, Holly. Vielleicht sind deine Eltern gar nicht dort und alles ist nur eine Illusion, ein Traumgebilde. Ich habe dich wirklich sehr gern und würde mir wünschen, wir könnten gemeinsam in die Zukunft sehen. Aber das können wir nicht, wenn du einem unerreichbaren Ziel hinterher läufst.«

Seine Worte schockieren und beschämen mich gleichermaßen. Blut rauscht in meinen Ohren. Ich mag es nicht, wenn Neal mir sagt, dass er mich gern hat. Ich fühle mich dann immer befangen und weiß nicht, wie ich darauf reagieren soll. Er ist mein bester Freund, aber manchmal glaube ich, er würde gerne mehr als das sein. Es sind flüchtige Berührungen, ein verstohlenes Lächeln oder - so wie jetzt - auch ganz offene Worte, die mich das denken lassen. Mit einem Mal verspüre ich den Wunsch, aufzustehen und wegzulaufen, aber ich ringe ihn tapfer nieder.

»Ich halte meine Ziele nicht für Traumgebilde«, sage ich, um das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken. Ich möchte nicht über meine Gefühle reden. »Es besteht durchaus die Möglichkeit, dass ich hinter die Barriere gerufen werde, oder etwa nicht? Ich glaube fast, du gönnst mir das gar nicht.«

Neal wendet mir den Kopf zu, in seinen Augen liegt ein Ausdruck, der mein Herz für einen Schlag aussetzen lässt. Ich wünschte, wir würden wieder miteinander lachen. Diese Art von Unterhaltung mag ich nicht.

Neals Lippen formen sich zu einem schmalen Strich, seine Augen glänzen feucht. Er legt eine Hand auf mein Knie. Mich durchfährt ein elektrisches Gefühl, unangenehm und prickelnd zugleich. Mein Herz schlägt so laut, dass ich befürchte, Neal könnte es hören.

»Ich könnte es nicht ertragen, wenn du weg gehst und mich allein lässt«, sagt er.

Seine Worte tun weh. Er kann nicht von mir verlangen, in der Stadt zu bleiben, wenn ich rekrutiert werde. Ich hätte in diesem Fall ohnehin nicht die Wahl. Aber kann er von mir verlangen, mit Traurigkeit in der Seele zu gehen? Ich habe mich mein Leben lang auf diesen Tag vorbereitet. Er macht ihn mir kaputt.

»Was soll ich deiner Meinung nach tun?«

Neal holt tief Luft und stößt sie als Seufzer wieder aus. Mit einer Hand reibt er sich über das Gesicht. »Du könntest wenigstens so tun, als würdest du es bedauern, mich zurücklassen zu müssen.«

Der Schmerz in meinem Herz steigert sich zu einem dumpfen Gefühl, als würde mir jemand die Brust abschnüren. Ich lege meine Hand auf seine, die immer noch auf meinem Knie ruht.

»Du zwingst mich, mich zu entscheiden. Das ist gemein. Du weißt, dass du mein bester Freund bist.«

Neal zieht seine Hand weg. Es versetzt mir einen Stich. »Nur das? Holly, ich träume schon seit dem Tag, an dem ich in die Kommune gekommen bin davon, mit dir in ein eigenes Haus zu ziehen und eine Familie zu gründen.«

Seine Ehrlichkeit durchströmt meine Eingeweide wie eiskaltes Wasser. Ich wäre weniger schockiert gewesen, wenn er mir mit der flachen Hand ins Gesicht geschlagen hätte. Ich ahne schon lange, dass Neal andere Absichten hegt, als nur mein bester Freund zu sein. Ich habe es aber immer beiseite geschoben und mir eingeredet, ich bilde es mir nur ein. Was soll ich ihm sagen? Ich möchte ihn nicht anlügen. Aber ihm wehzutun, ist genauso schwer. Ich weiß nicht, wie Liebe sich anfühlt. Vielleicht liebe ich ihn ebenfalls? Bedeutet Liebe, gerne mit jemandem zusammen zu sein? Dann ist es wohl so. Oder ist es mehr? Woher soll ich das wissen? Flüchtig schweifen meine Gedanken ab. Ich versuche, mir vorzustellen, mit Neal in ein eigenes Haus zu ziehen. Es fühlt sich nicht richtig an.

Allmählich wird die Pause zu lang. Ich muss etwas sagen. Neal sieht mich erwartungsvoll an.

»Vielleicht sollten wir erst einmal abwarten, ob man mich überhaupt rekrutiert.«

Es scheint nicht das zu sein, was Neal hören wollte, denn eine Falte gräbt sich zwischen seine Augenbrauen. »Weshalb läufst du vor der Entscheidung davon? Kannst du mir nicht jetzt schon sagen, ob du dir eine Zukunft mit mir vorstellen kannst?« Sein harscher Tonfall versetzt mir einen Schreck. »Was fühlst du für mich, Holly? Das ist eine ganz einfache Frage.«

Ich habe nicht geahnt, dass ein Herz noch schneller schlagen kann, aber meines scheint sich hohe Ziele gesetzt zu haben. Stärker denn je wünsche ich mir davonzulaufen. Neal drängt mich in die Ecke. Ich hasse ihn dafür.

Tausend Gedanken schießen mir durch den Kopf. Die Wahrheit wäre gewesen, dass ich mir wünsche, alles würde genauso weitergehen wie bisher, sollten die Obersten mich nicht zu sich rufen. Aber mir wird bewusst, dass das nicht dauerhaft möglich gewesen wäre. Ich kann nicht bei Carl, Suzie und Candice leben, bis ich alt und grau bin.

Ich möchte gerade den Mund öffnen, um Neal zu sagen, dass auch ich mir eine Zukunft mit ihm wünschen würde, obwohl das nicht ganz der Wahrheit entsprochen hätte, als er schnaubend die Beine heranzieht und aufspringt. Ich habe zu lange gezögert.

»Weshalb willst du unbedingt über die Brücke gehen?«, raunzt er, wobei er mich von oben herab absieht, was mir noch mehr Angst einjagt. »Woher willst du wissen, dass dort alles besser ist als hier? Hier könnten wir ein sorgenfreies Leben führen. Familien mit Kindern werden gut versorgt. Du weißt nicht, ob deine Eltern überhaupt noch leben. Und noch viel weniger weißt du, ob die Welt jenseits der Brücke wirklich das Paradies ist, das man dich glauben lässt.«

Ich spüre, wie mir das Blut aus dem Gesicht weicht und mein Mund aufklappt, aber sagen kann ich nichts. Ich starre ihn nur an. Ich kann nicht glauben, was er sagt.

»Du glaubst alles, was in deinen Büchern steht«, fährt Neal mit seiner Schimpftirade fort. »Schaltest du gelegentlich auch mal dein Gehirn ein? Du bist doch so schlau, oder willst es zumindest sein. Wir wissen überhaupt nicht, was sich auf der anderen Seite der Brücke befindet und niemand hat je darüber gesprochen. Kommt dir das nicht seltsam vor? Ich sage dir jetzt mal etwas: Ich war froh, dass sie mich damals nicht rekrutiert haben!«

Tränen lösen sich aus meinen Augenwinkeln und laufen meine Wangen hinab. Ich hasse es zu weinen, kann es aber nicht verhindern. Meine Welt bricht gerade über mir zusammen, der Boden unter meinen Füßen wird mir weggezogen. Mit einem Mal weiß ich selbst nicht mehr, was ich eigentlich will. Neal hat recht, ich weiß nicht genau, wie ein Leben in der Welt außerhalb der Barriere aussieht. Ich weiß nicht einmal, wie groß das Gebiet der Obersten ist. Es sind schon einige unser Nachbarn in den vergangenen Jahren rekrutiert worden. Einige von ihnen arbeiten heute bei der Nahrungsausgabe oder bei der Polizei, andere haben wir nie wieder gesehen. Diejenigen, die in schwarzen Anzügen in die Stadt zurückgekehrt sind, haben kein Wort mehr mit uns gesprochen, ihre Gesichter waren emotionslos. Ich habe mir geschworen, so nicht zu werden, wenn ich einer von ihnen werden sollte. Aber hätte ich das verhindern können? Was geschieht mit den Menschen jenseits der Barriere?

Jetzt weine ich ganz hemmungslos, meiner Kehle entweicht ein Schluchzen. Neal knurrt wütend.

»Ich bin diese verdammte Scheißstadt satt!«, brüllt er über die Wasseroberfläche. Ich hoffe, keiner der Obersten hat ihn gehört. Die Polizei geht nicht zimperlich mit jenen um, die das System infrage stellen.

Neal tritt gegen einen losen Brocken Teer, der aus der Straße herausgebrochen ist. Er fliegt weit und landet mit einem dumpfen Plopp im Wasser. Ehe ich begreifen kann, was er tut, springt er mit einem beherzten Sprung hinterher. Er taucht unter und macht ein paar Schwimmzüge unter Wasser. Ich schnappe geräuschvoll nach Luft. Was tut er denn da? Es ist verboten, in diesem Gewässer zu schwimmen, dazu ist einzig ein See im großen Park freigegeben worden.

Neal taucht wieder auf und schwimmt mit großen Zügen vom Ufer weg, ohne sich nach mir umzudrehen. Ich springe auf.

»Neal! Komm zurück! Was machst du denn da? Das ist verboten!«

Er antwortet mir nicht, sondern scheint nur noch schneller zu schwimmen. Es sieht aus, als steuere er auf die Insel der grünen Dame zu. Mir bleibt nichts anderes übrig, als ihm dabei zuzusehen.

Nach endlosen Minuten werden seine Schwimmzüge behäbiger. Er wird es niemals schaffen, die anderthalb Meilen bis zur Barriere zu schwimmen. Weshalb sollte er auch? Im Norden der Stadt, wo es kein Wasser gibt, kann man die Barriere aus der Nähe sehen. Dort gibt es nur Zäune, die das Stadtgebiet begrenzen, die wenige Yards vor dem Energieschild dafür sorgen, dass niemand den Sicherheitsabstand überschreitet. Als Kind habe ich einmal versucht, einen Stein durch den Schild zu werfen, aber er ist davon abgeprallt wie von einer Gummiwand. Grelle Blitze zuckten über den Schild, das Surren war ohrenbetäubend laut gewesen.

Ich habe Angst um Neal. Wenn er die Barriere berührt, ist er tot, weil er einen elektrischen Schlag bekommt.

»Neal!« Ich schreie so laut ich kann, bin mir aber nicht sicher, ob er mich hören kann. Er wird ertrinken, wenn er nicht umkehrt, denn seine Kräfte scheinen ihn zu verlassen.

Irgendwann hört er auf zu schwimmen. Ich sehe seinen Kopf nur noch als Punkt auf der grauen Wasseroberfläche. Zuerst denke ich, er würde sich überhaupt nicht mehr bewegen. Minutenlang bleibt er auf der derselben Stelle. Dann sehe ich, wie er wütend auf die Wasseroberfläche schlägt, sodass es spritzt. Dann endlich bewegt er sich wieder auf mich zu. Mit zitternden Knien stehe ich noch lange am Ufer, bis Neal es endlich erreicht und ich ihm eine Hand reichen kann, um ihn herauszuziehen. Er bleibt erschöpft und wie tot neben mir liegen. Er sagt nichts, und ich schließe mich seinem Schweigen an. Alles, was ich hätte hervorbringen können, hätte es nur noch schlimmer gemacht. Ich lasse ihm die Zeit, die er benötigt, um sich auszuruhen, ehe wir langsam zurück nach Hause gehen. Neal zittert vor Kälte, obwohl es Sommer ist.

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