§4253

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Nathalie D. Plume

§4253

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Vorwort

Prolog

1. Rügen, Deutschland

2. Rügen, Deutschland

3. Rügen, Deutschland

4. Rügen, Deutschland

5. Rügen, Deutschland

6. Rügen, Deutschland

7. High York, USA

8. Rügen, Deutschland

9. Greifswald, Deutschland

10. Rügen, Deutschland

11. High York, USA

12. Rügen, Deutschland

13. Irgendwo zwischen Rügen und Berlin, Deutschland

14. Greifswald, Deutschland

15. Rügen, Deutschland

16. Nahe Carson City, USA

17. Berlin, Deutschland

18.

19. Nahe Carson City, USA

20. Irgendwo über dem Nordatlantik

21. High York, USA

22. Trenton, USA

23. High York, USA

24.

25. Berlin, Deutschland

26. Greifswald, Deutschland

27. Nahe Carson City, USA

28. Auf dem Weg nach Columbia City, USA

29. Rügen, Deutschland

30. Nahe Columbia City, USA

31. Nahe Carson City, USA

32. Auf dem Weg nach Omaha, USA

33. Nahe Carson City, USA

34. Auf dem Weg nach Omaha, USA

35. Auf dem Weg nach Evanston, USA

36. Auf dem Weg nach Evanston, USA

37.

38. Salt Lake City, USA

39.

40. Greifswald, Deutschland

Epilog

§ 4253

Danksagung

Impressum neobooks

Vorwort

Nathalie D. Plume

§ 4253

Für Marla

Die Welt ist ein widerstandsfähiger Ort,

ihre Schönheit ist immer noch atemberaubend,

ihre Möglichkeiten immer noch erstaunlich

und im Moment können wir uns

aus dem von uns angerichteten Schlamassel

noch herausziehen.

Salman Rushdie

Jahre können vergangen sein, Monate verstrichen oder auch nur wenige Sekunden an einem vorbeigerannt, doch nun befindet sich die Erde an ihrem Limit. Es wird nicht morgen so weit sein, nicht in einem Jahr und auch nicht jetzt! Vielmehr war der Punkt, den die Erde nun erreicht hat, gestern. Gestern hätten wir etwas tun müssen, nicht erst morgen. Der stetige Fortschritt unserer Rasse fordert nun ihren Tribut. Umweltkatastrophen, Nahrungsmittelknappheit, brennende Wälder, überflutete Dörfer, Seuchen und mehr Smog, als die wenigen unserer Bäume je schlucken können.

Aus Verzweiflung über die immer dramatischer werdenden Veränderungen des Planeten hat die Politik nun zu drastischen Maßnahmen gegriffen. Sie hat verstanden, dass das Einsparen von Plastiktüten im Supermarkt, der Ausbau von Fahrradwegen und geringfügig höhere Steuern nicht ankommen gegen die bereits angerichteten Schäden. So schuf sie einen Paragrafen, der das Leben aller Menschen verändern soll. Einen Paragrafen, der allem zu schnell entwickeltem und nie durchdachtem Fortschritt ein Ende machen soll. Die Folgen: eine Welt ohne Kunststoff, Autos, Flugzeuge, Boote und all den Dingen, die für uns alle schon so normal geworden sind, die unserer Heimat aber Schritt für Schritt weiter den Dolch in die Brust rammen. Eine so drastische Entscheidung hat Folgen für jeden Menschen. Eine Entscheidung, die das Leben vieler auf den Kopf stellt und einiger sogar riskiert. Wie weit darf man gehen, um den Planeten zu retten?

Prolog

Es ist kalt, der Wind regiert das kleine Küstendorf mit eiserner Hand und obwohl die Sonne sich langsam durch den dichten Nebel kämpft, scheint es, als würde sie den Kampf gegen Wind, Wasser und Smog nicht gewinnen können. Das kleine Mädchen, das im Schutz eines Felsvorsprungs im Sand sitzt, hat ihre kleinen Fäuste fest in den Taschen ihres braunen Mantels versenkt und kneift diese so fest zu, als könne sie den tosenden Wind damit ersticken. Die Knie, die sie nach oben an ihre Brust gezogen hat, so dass sie unter dem großen Mantel Schutz finden, schmerzen und obwohl ihr linker Fuß kribbelt und der rechte schon längst eingeschlafen ist, trotz der Nase, die nicht nur mehrfach die Farbe gewechselt hat und nicht mehr länger nur rot, sondern blau wie das Meer ist, trotz alldem starrt das kleine Mädchen an den Strand und auf die dicken Wellen, die sich eine nach der anderen ans Ufer drücken. Sie muss warten, denkt sie, nur noch ein bisschen, dann werden sie kommen, ganz sicher. Sie will dabei sein, wenn ihre kleinen Augen zum ersten Mal das Licht der Welt sehen und sie will dabei sein, wenn sie sich mit ihren winzigen Flossen den Weg durch den nassen, rauen Sand ins sichere Meer bahnen. So sitzt sie da, frierend unter einem Felsvorsprung, darauf wartend, dass sie kommen; und wenn sie den ganzen Tag so ausharren muss, sie würde dort sein und sie sehen, ganz bestimmt.

Was das kleine Mädchen nicht weiß, ist, dass sie an diesem Tag nicht kommen werden, sie werden nicht aus ihren Eiern schlüpfen und zu Hunderten den Weg in ihr Leben antreten, sie werden nicht an diesem Tag schlüpfen und sie werden es auch nicht am nächsten und übernächsten, nicht am Tag danach und dem danach. Doch das weiß das kleine Mädchen nicht, denn sie wird dasitzen und ihre kastanienbraunen Locken werden ihr noch viele weitere Tage um den Kopf wehen, bis sie eine unzähmbare Masse ergeben; sie wird noch an vielen weiteren Tagen ihre Füße nicht spüren und sie wird viele weitere Tage so lange durch ihre tränenden Augen auf den Strand und die Wellen starren, bis sie sich ganz sicher sein kann.

Sie wird warten.

1. Rügen, Deutschland

Die Tür, die eben noch freundlich und einladend weit offen gestanden hat, fliegt mit einem lauten Knall ins Schloss. Die kleinen Fenster, die in der blauen Tür eingelassen sind, zerbersten, fast so, als wollten sie sich mit dem Mann, der nun hinter der Tür verschwunden ist, solidarisch zeigen. Dieser Mann steht nun, da sich die erste Aufregung und Wut gelegt hat, allein in dem kleinen Raum, der sich jetzt hinter der Tür verbirgt. Er steht nur da, die breiten Schultern heben und senken sich schnell und seine Fingernägel bohren sich, in den geballten Fäusten versteckt, in die Haut. Seine Füße stehen fest am Boden, jedoch bereit sich sofort und blitzschnell vom Boden abzustoßen und ohne Vorwarnung loszurennen und niemals stehen zu bleiben. Seine Augen wandern immer noch zu Schlitzen geformt durch den kleinen Raum. Das Erste, was sie sehen, ist der kleine Tisch, der nach dem Betreten gleich links neben der Tür steht. Voll mit Unterlagen, Bauzeichnungen, Rechnungen und Reklamationen, alle kreuz und quer über ihn verteilt, still darauf wartend, einer nach dem anderen bearbeitet und abgeheftet zu werden. Zwischen ihnen der alte Computerbildschirm, den seine Tochter immer als so wahnsinnig altmodisch beschreibt, und daneben die winzige Schreibtischlampe, die mit ihrem Kopf aus den Papieren hervorschaut, deren Hals und Sockel aber nur höchst selten mal zu sehen sind. Der alte verzierte Bilderrahmen, der sonst immer vor dem Bildschirm und neben dem kleinen gläsernen Okapi gestanden hat, ist durch die Erschütterung der Tür umgekippt und verbirgt nun die einst so glückliche Familie unter sich. Die Frau, die den kleinen Jungen auf dem Arm trägt, und das Mädchen, das mit rollenden Augen zu ihrem Bruder hochblickt und ihn davon abzuhalten versucht, ihre Haare in seinem Mund verschwinden zu lassen. Der kleine Junge lächelt dabei so sehr, dass man ihm kaum böse sein kann, und auch die Frau, die ihn trägt, mit den glatten langen Haaren, lacht bis zu ihren Augen herzhaft darüber. Hinter ihnen steht ein Mann, der sich wegen seiner Größe leicht herunterbeugen muss, um auch noch auf dem Foto Platz zu finden; er umgreift seine kleine Familie so fest mit seinen starken, langen Armen, als könnten sie sonst vom Wind fortgetragen werden. Auch er lächelt zufrieden.

 

Links neben dem Schreibtisch stand der lange Garderobenständer, der unter der Last des Mantels, den er trug, bei jedem Windzug hin- und hergetragen wurde, jetzt liegt er, gerade so, als wollte er die Tür ab heute für immer verschließen, gegen den Türknauf gelehnt. Der schwere Mantel hat sich von ihm gelöst und säumt den Boden. Außer der Palme, die kaum noch ein grünes Blatt trägt, ist da nicht mehr viel, wobei nicht mehr viel nicht der richtige Begriff ist, denn mehr als diese einsamen Möbelstücke hätten in das kleine Büro auch kaum hineingepasst.

Es ist gerade genug Platz für diese paar Dinge gewesen, als er vor zwei Jahren in diesen kleinen Raum gezogen war. Damals war er so stolz, dass er ihm so groß wie ein Apartment vorgekommen war, da wusste er, dass hier seine ganze Welt hineinpassen würde, und er vergaß schnell, dass er für diese Beförderung seine Seele verkauft hatte. Dass er die Zeit zu seiner Familie beschnitten hatte, so stark sie es eben von ihm gefordert hatten und fordern würden. Jetzt kommt es ihm so vor, als würden die grauen Wände des kleinen Raums immer näherkommen, so als wollten sie ihn ersticken und seine schöne Welt, wie den Eiter eines Pickels, einfach aus ihm herausdrücken. Er sieht durch das winzige Fenster, seine Augen wandern über die trockenen Wiesen an den großen Felsen vorbei aufs Meer hinaus und über die großen tosenden Wellen, bis zum Horizont. Sonst ist er immer zum Greifen nah gewesen, an manchen Tagen hatte der Horizont ihn sogar zu sich gerufen, doch heute liegt er so weit weg und ist so still, als wolle auch er zeigen, wie angewidert er von dem heutigen Tag ist.

Langsam und kaum merklich entspannen sich seine breiten Schultern, seine zuvor noch schwere Atmung wird flacher und seine Fäuste lösen sich langsam aus ihrer Erstarrung und formen sich wieder zu großen Händen. Händen, die aussehen, als hätten sie niemals harte Arbeit gescheut. Die dicke Hornhaut schützt sie noch immer vor Schrauben, Bohrern und Metallen, die sich viele Jahre in sie hineingruben, und obwohl sie das schon eine Weile nicht mehr tun, würden die Schwielen, die durch jahrelange Arbeit entstanden sind, niemals mehr verschwinden. Nachdem sich auch die zweite Faust gelöst hat, fällt ein kleiner Papierball zu Boden, der sich zuvor in ihr versteckt hat, so, als fürchte er entdeckt zu werden. Der Mann, der immer noch groß, aber deutlich zusammengesunkener an der gleichen Stelle wie zuvor steht, beugt sich langsam und schwerfällig zu dem Ball hinunter, so, als wollten sich seine Knie weigern ihre Position zu verlassen. Während er sich nach unten beugt, immer darauf bedacht, weder mit seinem Kopf noch mit seinem Hinterteil eines der wenigen Möbelstücke umzustoßen, fällt sein Blick, vorbei an dem zerbrochenen Fenster, auf einen langen Mann, der auf der anderen Seite der nun geschlossenen Tür steht. Mit einer Augenbraue in die Höhe gezogen und den Mund leicht geöffnet, als wolle er gerade einen stummen Schrei herauslassen, schaut er ihm so verwirrt entgegen, als frage er sich, ob das ein sehr wütender Windzug oder doch nur ein Mensch mit der Wut eines Sturms gewesen ist. In einer Hand hält er eine Kaffeetasse, die jetzt, da ihr nicht mehr die volle Aufmerksamkeit geschenkt wird, langsam mit der Öffnung nach unten wandert und ihren Inhalt, nur noch wenige Millimeter vor dem Rand, bereit zum Überschwappen ist. Auf seiner Brust prangt ein Namensschild mit der Aufschrift: F. Mending, zweitbester Mitarbeiter des Monats.

Der Hüne, der endlich den Papierball zu fassen bekommen hat, bahnt sich seinen Weg durch das kleine Büro hin zur blauen Tür, er durchquert sie und bleibt schließlich vor dem, neben ihm, sehr klein wirkenden Mann namens F. Mending stehen. Der Hüne weiß, dass nun die Zeit gekommen ist, in der er die Rolle des Ahnungslosen spielen muss. F. Mending öffnet den Mund, um etwas zu sagen, doch bevor die Worte seinen Mund verlassen können, kommt ihm der Hüne, der sich vor ihm aufgebaut hat, zuvor. „Sie haben uns allen gekündigt“, seinen Kopf lässt er dabei so tief hängen, dass er fast mit dem von F. Mending auf einer Höhe ist, „uns allen, uns wurde allen fristlos gekündigt, es tut mir leid Felix.“ Er drückt ihm den Papierball gegen die Brust und streift dann an ihm vorbei die Treppe hinunter. Es folgt ein Platschen und der Kaffee verteilt sich auf dem Fußboden.

2. Rügen, Deutschland

„Sie haben die Schulbusse für heute abgesagt, komisch, oder?“ Ihre Freundin blickt in die entgegengesetzte Richtung, ohne auch nur den geringsten Laut zu geben. „Evelin! Hallo, hörst du mir überhaupt zu?“ Nichts rührt sich auf der anderen Seite des Tisches. Ein Stuhl wird energisch nach hinten geschoben und nach ein oder zwei Stampfern auf das Linoleum schiebt sich Lila in das Blickfeld ihrer Freundin. „Hallo? Ist da jemand? Oder hast du jetzt beschlossen die Gespräche mit mir vollkommen einzustellen.“ Erschrocken löst sich die Erstarrung, die zuvor noch Evelins ganzen Körper befallen hat. „Ja …, ja …, ja was ist denn?“ Ein genervter Blick und ein Augenrollen folgen. „Der Schulbus, er fährt heute nicht mehr. Der Schulbus, der wird heute nicht mehr nach Hause fahren, er ...“ Evelin sieht an ihrer Freundin vorbei, immer noch nicht auf das Gespräch konzentriert fliegen ihre Gedanken über die toten, braunen Felder, die vor dem Fenster wie Decken über der Landschaft liegen. „Ja! Ich habe es verstanden, du kannst das Megafon jetzt wieder wegpacken, das du in deinem Hals versteckt hast. Danke.“ Evelin erhebt sich schwungvoll von dem beschmierten Tisch, der zuvor noch einen grandiosen Sitzplatz abgegeben hat und wandelt, wie durch einen Tunnel gezogen, durch das Klassenzimmer zum Mülleimer, der am Ende des Raums neben der Tür steht. Vorsichtig lässt sie ein kleines Stück Papier in den Tret­eimer fallen, möglichst unbedacht, so leise, dass es keinem auffällt. Den ganzen Morgen hat es in ihrer Hand geruht, ist ganz aufgeweicht durch die Wärme ihrer Finger und überzogen von tausend Knicken und der Überlegung, was aus dem kleinen Papier mit Silberfolie werden soll. Ob es die richtige Entscheidung gewesen ist, es zu behalten und ihm so seinen Zweck zu rauben, konnte, nachdem es von dem schwarzen Eimer verschluckt worden ist, nicht mehr ermittelt werden. Fast erlöst von der Last des Papiers schlendert sie durch das Klassenzimmer, vorbei an den Kiffern, die sich immer in der letzten Reihe niederlassen, als würden sie wirklich denken, dass man den Geruch nicht bis vor zur Tafel riechen könnte. Vorbei an der dicken Lucy, die ein zu großes Hobby im Testen von Schokoladenriegeln gefunden hat und eine Kunst darin sieht, die Dutzenden Verpackungen unbemerkt neben den Tisch fallen zu lassen. Auch die anderen Mitschüler sind Evelins Ansicht nach totaler Durchschnitt. Da ist der lange Junge, aus der zweiten Reihe, der im Sportunterricht immer wie eine Spinne zwischen den Geräten hängt und sich mit seinen langen Beinen und den mageren Armen von einem Bock zum nächsten zieht. Die coolen Jungs und Mädchen aus der vierten Reihe, die zu cool sind, um freundlich zu sein und nur verzweifelt versuchen ihre Unsicherheit und das fehlende Selbstvertrauen zu verbergen, und natürlich die netten Mädchen und Jungs, die als Pendant zu den coolen zwar nicht hübsch oder hip sind, aber bereits erwachsen genug, um zu verstehen, dass es darauf nicht ankommt.

Als Evelin an der dritten Reihe ankommt, streicht sie im Vorbeigehen sanft über den Tisch, an dem normalerweise der nette Hawaiianer sitzt und zu ihr hinüberblinzelt. Der Junge, der seinen Platz heute frei lässt, ist bestimmt nicht der Schwarm der Schule, dafür ist er viel zu pfiffig. Er ist nicht cool oder angesagt, aber trotzdem scheint jeder seine freundliche Art und Hilfsbereitschaft zu genießen und wie eine negative Masse füllt er die Leere in jemandem aus, ohne sich selbst daraus einen Vorteil zu verschaffen. Langsam zieht das junge Mädchen die Finger über die zerkratzte Tischplatte und es kribbelt leicht an der Stelle der Hand, an der zuvor das kleine Stück Papier geruht hat. „Weißt du, wie wir jetzt nach Hause kommen sollen? Mein Vater kann uns diesmal nicht abholen.“ Der hübsche Kopf ihrer Freundin schiebt sich unangekündigt zwischen den Tisch und sie. Evelin zuckt zusammen, stößt sich von dem Tisch weg und läuft zurück zu ihrem Platz, ohne ihrer Freundin eine Antwort zu geben. „Du bist heute schon ein bisschen abwesend. Ist alles okay bei dir?“ Evelin reißt sich von ihren Gedanken los, die sie festzerren und fortragen wollen, und betrachtet statt der Felder vor dem Fenster ihre Freundin. Lila ist schon seit der ersten Klasse ihre beste Freundin, damals hatte Evelin gewusst, dass Lila mit ihrem violetten Schulranzen und dem lila Kleid eine grandiose Leidensgenossin für alle dreizehn Schuljahre abgeben würde. „So viel Lila“, hatte sie damals bei der Einschulung zu ihr gesagt und Lila hatte ihre Schultüte mit dem großen lilafarbenen Delfin beiseitegeschoben, so dass sie die damals noch sehr kleine Evelin auch sehen konnte, und entgegnete. „Ja, Papa meinte, so können sich die Leute meinen Namen besser merken.“ Von da an taten sie alles zusammen, was man zusammen machen kann. Sie aßen Eiscreme in der Eisdiele, in der es auch lila Eiscreme gibt, sie schauten sich, als sie älter wurden, Schnulzen im Fernsehen an, sie schlichen sich im Kino in Horrorfilme, nur um anschließend darauf zu bestehen, tagelang im Bett ihrer Eltern schlafen zu können, ganz ohne Grund versteht sich, und sie beschmierten die Hauswand von Lilas rassistischem Nachbarn, der ihre Familie immer so wüst beschimpfte und einmal sogar ihren Briefkasten mit schwarzer Farbe übermalt hatte, weil er meinte, dass diese Farbe deutlich besser zu ihnen passen würde als Sonnenblumengelb. Die Polizei fuhr noch wochenlang Streife durch das Wohngebiet, nachdem die beiden sich an der Hauswand ihres Nachbarn gebührend gerächt hatten. Wer die schicke weiße Wand, die zur Straße hinzeigte, mit lila Farbe überstrichen hatte, fanden sie jedoch nie heraus.

Nun sind die beiden in der elften Klasse des Gymnasiums und haben ganz sicher schon alles zusammen durchgemacht, was man mit siebzehn durchmachen kann. So dachten sie zumindest noch einen Tag lang, bevor sich alles ändern würde. Evelin würde sich noch oft wünschen zu diesem, damals so unbedeutend wirkenden, Tag zurückzugehen und die Unbedeutsamkeit ihres Lebens zu genießen.

„Mein Vater kommt heute Abend wie immer erst spät von der Arbeit, irgendein Notfall in der Firma und Mama ist doch mit meinem Bruder zu Oma gefahren, damit er die Kälbchen sehen kann.“ Lilas Ausdruck bessert sich ein wenig, nun da Evelin offensichtlich ihre Sprache wiedergefunden hat. „Glaubst du, dass wir mit einem der anderen mitfahren können?“ Evelin zuckt gleichgültig mit den Schultern. „Prinzipiell schon, aber wir müssen noch die Käfige der Kleintier AG sauber machen, wegen der Sache mit dem Schwänzen.“ Ein Blick nach oben und Lila schlägt sich mit der Hand gegen die Stirn. „Ah, stimmt, die Kaninchen. Verdammt! Aber wie kommen wir dann nach Hause? Oh Mann, Evelin, ich will nicht laufen.“ Evelin nickt Lila noch ihre Zustimmung entgegen, bevor die Schulglocke klingelt und pünktlich auf den Schlag ihr Mathelehrer über die Schwelle schwebt und die Klasse verstummen lässt.

 

3. Rügen, Deutschland

Langsam und mit zittrigen Fingern entfaltet Felix den kleinen Papierball, der schwer wie Blei in seiner Hand liegt. Er macht es sorgfältig und langsam, darauf bedacht das kleine Papier nicht zu zerreißen. Es ist schwierig, weil seine Finger sich anfühlen, als hätte man Drähte in sie gebohrt, so schwerfällig bewegen sie sich. Allmählich kommt der Briefkopf zum Vorschein und dann folgt, immer schneller, der Rest der DIN-A4-Seite.

Sehr geehrte Damen und Herren des Autokonzerns Dukjon,

dies ist ein Rundbrief, der an alle Mitarbeiter und an die gesamte Führungsriege geschickt wird. Dieser Brief muss an alle Mitarbeiter weitergeleitet werden. Sollte Ihnen ein Kollege oder Mitarbeiter einfallen, der diesen Brief auf Grund von zum Beispiel Krankheit oder einer Geschäftsreise nicht bekommen kann, muss dieser umgehend an diesen weitergeleitet werden. Die folgenden Zeilen treffen umgehend ein und sind durch den neu zugelassenen § 4253 Absatz 1, der besagt, dass Verkehrsmittelkonzerne, die in jeglicher Weise schädliche Gase und/oder in der Natur nicht innerhalb von fünfzig Jahren abbaubare Teile enthalten und verbauen (hierbei ausgenommen sind wieder­verwendbare Rohstoffe wie Metalle, Glas etc.), sofort und ohne Weiteres ihre Produktion einstellen müssen.

Da unser Konzern in den Verkehrsmittelbereich fällt und wir ebenfalls die von § 4253 verbotenen Güter herstellen, müssen wir Ihnen leider mitteilen, dass unser Konzern Sie nicht mehr weiter anstellen kann und hiermit eine ab heute gültige und fristlose Kündigung ausspricht. Sie haben kein Recht auf Entschädigung, da Dukjon ab dem 03. Mai Insolvenz angemeldet hat. Alle weiteren Unterlagen werden Ihnen im Laufe der nächsten Wochen zukommen. Bei Fragen wenden Sie sich bitte an die untenstehende Hotline, stellen Sie sich bitte auf einige Stunden Wartezeit ein, damit unsere Mitarbeiter Ihre Fragen auch zufriedenstellend beantworten können.

Mit freundlichen Grüßen

Walter Dukjon

Nachdem er die letzten Zeilen gelesen hat, streicht Felix mit dem Finger über die unten genannte Telefonnummer. Als er die Nummer in den kleinen Bildschirm tippt, schlägt sein Herz bis zum Hals. Jede Zahl, die im Display erscheint, klingt wie ein Schrei in seinen Ohren. Mit starrem Blick zieht er das bebende Telefon zum Ohr, als es gegen seine drahtigen Haare kommt, raschelt es drohend, so, als wollten sie ihn warnen, dass manche Wahrheiten besser nie an Licht kommen sollten. Ein Tuten, dann meldet sich eine piepsige Frauenstimme. „Willkommen im Servicecenter von Dukjon, wenn Sie eine Reklamation melden möchten, drücken Sie bitte die Eins, wenn Sie eine Beratung zu einem unserer Produkte möchten, drücken Sie bitte die zwei, wenn Sie Mitarbeiter unseres Konzerns sind, dann drücken Sie bitte die Drei.“ Vorsichtig wandert Felix’ Finger zu der kleinen Drei, die hinten auf dem kleinen Gerät in seiner Hand ist. Wieder ein Tuten, die piepsige Frauenstimme erklingt erneut. „Vielen Dank, dass Sie sich bei uns gemeldet haben, leider sind bereits alle verfügbaren Mitarbeiter im Gespräch, wenn Sie die Wartezeit von“, eine Computerstimme ertönt, „32 Stunden“, wieder die Frauenstimme, „nicht in Kauf nehmen wollen, dann rufen Sie doch gerne zu einem späteren Zeitpunkt wieder an, wir helfen gerne.“ Wie erstarrt lässt Felix den Hörer sinken. Es dauert einen Moment, bis er realisiert, was da gerade passiert ist. Im Umdrehen gleitet ihm der Hörer aus der Hand und landet mit einem unsanften Klirren auf den Fliesen, doch davon bekommt er nichts mehr mit, er wandelt die Treppen hinunter, ohne sie wirklich zu registrieren, denn diese Treppen würde er auch mit verbundenen Augen hinunterlaufen können. Wie oft war er sie schon rauf- und runtergegangen, mal mit einem guten, mal mit einem schlechten Gefühl. Seit Herr Bikkens, sein alter Chef, versetzt worden war und sein Arbeitskollege und Freund die Stelle übernommen hat, geht er sie mit sehr viel weniger Unwohlsein nach oben. Er mochte Herr Bikkens nicht und er ihn bestimmt auch nicht, da ist er sich ganz sicher. Zwar wunderte es Felix damals, dass sein Chef versetzt worden war, weil er trotz alledem einen guten Job machte, aber seit vor zwei Jahren Paul den Posten als Werksleiter übernahm, sind die Dinge sehr viel entspannter geworden. Viele hatten endlich die lang ersehnte Gehaltserhöhung bekommen und neben dem Mitarbeiter des Monats gibt es jetzt auch den zweit- und drittbesten Mitarbeiter des Monats. Nicht dass so eine Kleinigkeit einen Unterschied macht, viele sagen sogar, dass es den Stellenwert des besten Mitarbeiters verringern würde, aber Felix, der zweitbeste Mitarbeiter des Monats, trägt diese Ehre mit Stolz.

Der Bodenbelag wandelt sich von Fliese in Beton und ohne einen Blick nach unten zu wagen, erkennt er, dass das Ende der Treppe erreicht ist. Jetzt, wo er in der großen Halle steht und die Geräusche der riesigen Maschinen, das Surren der Bohrmaschinen und Schrauber, das zischelnde, fast merkwürdige, Geräusch der Lackierer und das Klappern der kleinen Hilfsroboter hört, die eifrig von einem Teil der Halle in die nächste fahren, um Schrauben, Bolzen und hie und da mal eine Wasserflasche zu holen, löst er sich langsam aus der Trance, die ihn seit dem Scheppern der Tür befallen hat. Endlich schalten sich auch seine Augen zurück in Betriebsbereitschaft, sein Kopf wandert nach oben und er sieht hoch zu den weit oben gelegenen Schrägfenstern, die je nach Tageszeit einen Sonnenstrahl hereinlassen oder im Sommer, wenn wieder einmal die Klimaanlage versagt, einen kühlenden Luftzug nach unten und über die Schienen und Tische hinweg zu den Arbeitern bringen. Er zieht einen kräftigen Zug der Luft in seine Lungen, fast so, als könnte er den Luftzug wirklich spüren, doch anstatt die von ihm erhoffte kühle Luft folgt nur der chemische Geruch der Lackierer und der dicken Gummireifen. Hustend und verzweifelt versuchend die dicke Luft aus seinen Lungen zu drücken, macht er einen Schritt nach vorne, nur um in letzter Sekunde einem wie wild hupenden Gabelstapler auszuweichen, der wenige Meter weiter strauchelnd zu stehen kommt. Der Fahrer beugt sich wütend aus dem Fenster und pöbelt Felix etwas Unverständliches zu, was wie „Pass doch auf du herumwatschelnder Vollidiot!“ klingt, dann steigt er wieder in die große Maschine und braust davon. Seltsam, wie normal sich alle verhalten, denkt Felix, als er sich die schmerzende Seite reibt. Während er gerade beginnt weiter die Halle zu durchqueren, rollt ihm einer der kleinen Hilfsroboter klappernd hinterher. Felix stoppt und dreht sich zu ihm um, doch leider begreift der kleine Kerl das zu spät und rammt unsanft gegen Felix’ Bein. „Oh, entschuldigen Sie mich Herr Felix Mending, so etwas kann bestimmt nicht meine Absicht gewesen sein. Ich wollte Herrn Felix Mending nur fragen, ob er den Gabelstaplerfahrer mit der Kennnummer 4839, aufgrund der Verletzung seiner Würde, gerne melden möchte.“ Auf dem kleinen Display, das er im Greifer träft, erscheint ein dickes rotes Fragezeichen, das im Sekundentakt seine Größe ändert und so von sehr klein zu sehr groß und wieder zurückspringt. Felix starrt wie hypnotisiert auf das Fragezeichen und lässt sich in seinen Bann ziehen. Wieder meldet sich der Roboter zu Wort. „Wenn Herr Felix Mending eine Empfehlung von mir möchte, ist das auch gerne möglich.“ Nun schüttelt Felix den Kopf, halb um sich von dem immer noch auf seiner Netzhaut tanzenden Fragezeichen zu lösen, halb um dem Roboter zu signalisieren, dass er auf gar keinen Fall eine Beratung von einem Hilfsroboter möchte. „Nein, nein ich möchte niemanden melden und auch keine Beratungen, jetzt belästige mich nicht mehr weiter.“ Nachdem der kleine Roboter sich gedreht hat und klappernd davonrollt, fühlt sich Felix nur noch schlechter den kleinen Kerl so wüst davongeschickt zu haben. Eilig bewegt er sich weiter, ohne ihm hinterher zu blicken. Wenn er wüsste, dass das einer seiner letzten Hilfsfahrten sein sollte, dann würde er bestimmt nicht so eilig ans andere Ende der Halle klappern. Felix versucht diesen Gedanken aus seinem Kopf zu verbannen, der ihn wie ein Stein immer weiter nach unten zieht und wie tonnenschwere Gewichte an seinen Beinen klebt. So würde es nicht sein, so nicht, das konnte es nicht wirklich gewesen sein.

Als er endlich das andere Ende der Halle erreicht hat und über die, meist offene, Laderampe nach draußen klettert, entdeckt er seinen Freund nur wenige Meter weiter auf dem kleinen Grasstück, das vor der Dürre einmal mit gelben Butterblumen und saftig grünen Grashalmen übersät gewesen war. Beim Überqueren der gelben Wiese knistert das Stroh unter seinen Schuhen.

Bevor Paul seinen Freund sehen kann, hört er ihn bereits. Sein unverkennbarer Gang kann von keinem Menschen der Welt imitiert werden. Während er das Gras überquert, sieht Paul ihn vor seinem inneren Auge, die dunkle Haut, seine langen Arme und Beine, der schlaksige Oberkörper, seine zwar kurzen, aber wüsten Haare verteilen sich wild und vollkommen unkontrollierbar über seinem Kopf und die perfekt geschnittenen Ränder rahmen die hohe Stirn ein. Die große Nase und die dazu passenden vollen Lippen, die sich sehr schnell und oft beiseiteschieben, um den Zähnen Platz zu machen. Überhaupt lacht Felix wahnsinnig oft und gerne herzhaft über viele Dinge, die anderen wohl immer ein Rätsel bleiben, für die, die sich auf sein Lachen einlassen, aber eine ganz neue und viel weniger ernste Welt bieten. Paul denkt oft, wenn Felix wieder einmal mit seinen leicht watschelnd wirkenden Schritten auf ihn zukommt, dass er mit einer Trompete und einer Schlaghose bewaffnet jeden Jazzclub für sich gewinnen würde. Bei dem Gedanken daran muss Paul grinsen und Felix, der nun endlich seinen großen Freund eingeholt hat, blickt ihm zum zweiten Mal an diesem Tag verwirrt entgegen. „Findest du nicht, dass jetzt nicht der richtige Zeitpunkt ist, kichernd auf einer Wiese zu stehen?“ Paul kichert noch mehr. „Findest du nicht, dass dir Schlaghosen ausgesprochen gut stehen würden?“ Das breite, neckische Grinsen kennt Felix nur zu gut und spöttisch erwidert er: „Wenn du schon wieder den Jazzclub-Gedanken im Kopf hast, muss ich dir leider mitteilen, dass das eine im höchsten Maße rassistische Äußerung ist, die ich umgehend melden werde. Außerdem spielen auch weiße Menschen Trompete und tragen Schlaghosen.“ Paul hält sich gespielt seine Hand vor den Mund. „Okay, dann lass dich mal zu diesem Thema ausgiebig beraten und teile mir dann mit, was dir empfohlen wurde.“ Die beiden sehen sich an und fast gleichzeitig fangen sie an laut zu prusten.