Loe raamatut: «§4253», lehekülg 3

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Weit wird er allerdings nicht mehr kommen, denn noch bevor er die Treppe nehmen kann, die ihn in Richtung seines Büros führt, trifft ihn ein dumpfer Schlag am Hinterkopf. Der Boden rast auf ihn zu, es wird schwarz um ihn herum und er verliert sein Bewusstsein.

6. Rügen, Deutschland

Die Windböe, die sie trifft, ist gewaltig. Lila wird von dem feuchten, kalten Wind erneut nach hinten ins Gras gedrückt. Mit weit aufgerissenen Augen und leicht geöffnetem Mund starrt sie Evelin an, die ebenfalls neben ihr ins Gras gedrückt wurde. Der Windzug, der so plötzlich verschwunden ist, wie er gekommen war, hatte Lila eine Gänsehaut über den Rücken gejagt. „Was? War? Das?“ Evelin hatte mit der Überraschung ihrer Freundin gerechnet, muss aber so sehr über Lilas entsetzten Gesichtsausdruck lachen, dass sie keinen klaren Satz herausbringen kann. Erst als Lila sich wieder entspannt und ebenfalls zu lachen beginnt, bekommt Evelin etwas über die Lippen. „Das, was wir gerade spüren durften, war ein Windzug, der sehr lange gereist ist, um hier einzutreffen, viele Kilometer über den offenen Ozean, bis er genau hier wieder auf Land traf. Stell dir vor, dass er Tage lang da draußen war“, Evelin zeigt auf den offenen Ozean, „dass er tausende Brandungs- und Gischttropfen eingesammelt hat, nur um sie hier feucht und kühl gegen das Land zu werfen.“ Lilas Lachen verstummt und wandelt sich in Faszination. Erwartungsvoll sieht sie auf den Ozean, so, als könne sie den Wind sehen, der auf das Land zurast. „Passiert das überall an der Küste?“ Evelin schüttelt den Kopf. „Nein, soweit ich weiß nicht, ich kenne nur ein paar Stellen, an denen man diese Windböen spüren kann.“ Lilas Verblüffung ist fast greifbar. „Woher weißt du das alles?“ Evelin wendet ihren Kopf von Lila weg und richtet sich, auf ihre Hände gestützt, auf. Nachdenklich sieht sie auf den Horizont und fährt mit den Händen über das trockene Gras. „Ich weiß noch viel mehr als das. Ich weiß alles über das Meer und seine Bewohner, leider haben die Menschen in letzter Zeit nicht mehr sehr viel mit dem Meer zu tun und viele der Geschichten gehen verloren. Du wolltest wissen, woher ich das alles weiß?“ Sie steht auf, streicht mit der freien Hand ihre dicken braunen Locken aus dem Gesicht, die von einer erneuten Böe um ihre, mit Sommersprossen übersäte, Nase gewirbelt wurden, und dreht sich dann zu ihrer immer noch im Gras liegenden Freundin um. „Mein Vater hat es mir erzählt, bevor er Mr. Workaholic wurde und keine Zeit mehr für mich findet. Er erzählte mir viele Geschichten über das Meer. Zum Beispiel, dass diese Böen Erinnerungen sind, die jemand vergessen hat und über den Ozean getragen werden, damit sie jemand anderes vor dem Verschwinden bewahren kann.“ Mit diesen Worten streckt Evelin Lila die Hand entgegen und hilft ihr aus dem hohen Gras zu kommen, das sie verschluckt hat. Gemeinsam rennen sie über die Wiese zurück zur Straße und treten den Rest des langen Heimwegs an.

Als sich nach einer weiteren Stunde endlich der Kirchturm vor ihnen aufreckt, der die Hauptstraße markiert, hat sich die Sonne so weit abgesenkt, dass sie wie eine Halbkugel auf dem rot und gelb glitzernden Horizont liegt und ein bisschen Abkühlung über das kleine Küstendorf bringt.

Ihre Füße tragen sie wortlos nebeneinander her, vorbei an der Bäckerei, die unterhalb der Kirche hinter dem mit Blumen verzierten Dorfbrunnen liegt. Sie überqueren den kleinen Platz vor dem Rathaus und biegen hinter dem Spielwarenladen Günter, in den die beiden als Kinder schon so manches Taschengeld getragen haben, in eine schmale Seitenstraße ein, die sie in das kleine Wohngebiet führt, das zwischen zwei großen Rapsfeldern eingebettet liegt und sich perfekt in die hügelige Landschaft einfügt. Die Straße unter Evelins Füßen bewegt sich beinah wie eine Rollbahn, vielleicht sind es aber auch einfach ihre Füße, die sie stumm über die mit Moos bedeckten Steine tragen. Immer wieder setzt sie einen Fuß vor den andern und Lila tut es ihr gleich. Wirklich gute Freunde können sich anschweigen, ohne dass es komisch wird, und so laufen sie das letzte Stück schweigend nebeneinander her, bis sie den sonnenblumengelben Briefkasten erreicht haben. Erschöpft fällt Lila ihrer Freundin in die Arme, um sich von der ebenfalls sehr erschöpft wirkenden Evelin zu verabschieden. Evelin betrachtet ihre Freundin noch ein letztes Mal, bevor sie sich abwendet und an der Hauswand von Lilas Nachbarn entlang, die nach all den Jahren immer noch in einem leichten Rosa glänzt, die letzten Meter nach Hause antritt. Wie in einer nicht enden wollenden Wendeltreppe verliert sie sich dabei in ihren Gedanken.

Immer noch tief in ihren Gedanken versunken erreicht Evelin das große Haus am Ende der Straße, das ein bisschen abseits auf einem kleinen Hügel thront, sich aber in seinem Aussehen kaum von dem der anderen Häuser unterscheidet. Sie zieht die kleine Gartenpforte hinter sich zu und überquert den Kopfsteinweg hin zum Haus. Im Gehen fingert sie ihren Schlüssel aus der vorderen Tasche ihres Rucksacks und will gerade die Haustür aufschließen, als ihr Handy sie mit einem ohrenbetäubenden Schrillen aus ihren Gedanken reißt. Erschrocken und leicht versteift greift sie nach dem kleinen Gerät in ihrer Hosentasche und liest, was auf dem Display steht: „Papa“. Genervt stößt sie die nun offene Haustür auf und wirft das immer noch klingelnde Ding in die Schlüsselschale im Windfang. Sie kann nicht ahnen, welche Wichtigkeit in diesem Anruf steckt, welche Dringlichkeit sich hinter den vier Buchstaben verbirgt, also lässt sie es klingeln. Eine ganze Weile springt es noch in der Schale umher, bis es verstummt und schweigt. Im Laufen streift sie ihre Schuhe ab und durchquert den Windfang hin ins Wohnzimmer. „Hallo! Ist schon jemand zu Hause?“, ruft sie halblaut die Wendeltreppe nach oben, die direkt neben der Tür zum Windfang in die oberen Stockwerke führt. Keine Antwort. Ein zweites Mal: „Hallo! Ich bin jetzt zu Hause!“ Wieder keine Antwort. Ein Achselzucken, dann streift sie ihre enge Hose von den Beinen und tänzelt an die große Stereoanlage unter dem Flatscreen. Sie dreht den Regler fast bis ganz nach oben. Die dicken Boxen vibrieren unter ihren Füßen und lautstark grölt sie den Song mit, den der alte MP3-Player ihres Vaters ihr vorschlägt. Immer noch laut singend und ohne die nervige Hose schlendert sie in die Küche und entdeckt den gelben Zettel, der am Kühlschrank, unter einem Bild von ihrem Bruder, hängt. „Kommen erst gegen acht Uhr nach Hause, Essen ist im Kühlschrank, deine Wahl liegt zwischen der Pasta von gestern und Kartoffelpüree mit Erbsen und Fischstäbchen. Streite dich nicht mit deinem Vater, hab dich ganz dolle lieb, Mama.“ Ein Lächeln umspielt Evelins Lippen, sie öffnet den Kühlschrank und greift zu Dinosaurierfischstäbchen, Kartoffelpüree und Erbsen, die bereits auf einem Teller drapiert darauf warten in die Mikrowelle geschoben zu werden.

Mit Teller und Limonade bewaffnet lässt sie sich schwerfällig auf das Sofa sinken und scrollt auf dem Display der Fernbedienung noch ein wenig lauter. „Streite dich nicht mit deinem Vater“, es schallt in ihrem Kopf wider. „Wie denn?“ schreit sie so laut, dass sie sogar die Musik übertönt. „Wie denn? Wenn er nicht einmal hier ist!“ Und zum zweiten Mal an diesem Tag rollen dicke Tränen über ihr Gesicht und bilden eine salzige Pfütze auf dem Kartoffelpüree, das der plötzlichen Feuchtigkeit nur mit Mühe gewachsen ist. „Wie denn?“, schluchzt sie wesentlich leiser, ein letztes Mal, in den leeren Raum hinein.

„Evelin, Evelin, Evelin, bist du wach?“, etwas rüttelt an ihr. „Evelin, mein Liebling, du musst aufwachen.“ Erneut ein nun unsanfter werdendes Rütteln. „Oskar, hör auf so an deiner Schwester zu ziehen, sie wird ja noch seekrank.“ Ein verschmitztes Kichern, dann hört das Rütteln auf. Vorsichtig blinzelt Evelin sich den Schlaf aus den Augen und lugt auf den kleinen Wecker, der auf ihrem Nachttisch steht, er zeigt 00:18 Uhr. „Mama?“ Leicht schlaftrunken reibt sich Evelin die Augen und versucht sich an das grelle Licht um sie herum zu gewöhnen. „Was ist denn los?“ „Evelin mein Schatz, es tut mir so leid, es ist später geworden, dein Bruder ist bei Oma eingeschlafen und …, na ja ist ja auch egal, viel wichtiger ist, hast du was von deinem Vater gehört? Er ist immer noch nicht zu Hause und er geht nicht an sein Handy. Ich habe auch schon in der Firma angerufen, aber da geht immer gleich der Anrufbeantworter ran, ich mache mir langsam Sorgen.“ Mit einem Mal ist Evelin hellwach. Ihr Blut beginnt laut in ihren Ohren zu rauschen. Der Anruf von ihrem Vater, den hatte sie total vergessen. Wie von der Tarantel gestochen springt sie aus dem Bett, rennt aus ihrem Zimmer die Wendeltreppe hinunter durch die Tür in den Windfang. Auf dem Weg nach oben drückt sie immer wieder auf die Rückruftaste, doch jedes Mal überspringt das Gerät das Freizeichen und die unangenehme Computerstimme verkündet, dass der Teilnehmer zurzeit nicht erreichbar sei.

Als sie schnell atmend wieder in ihrem Zimmer ankommt, sitzt ihre Mutter immer noch mit besorgter Miene auf der Kante ihres Bettes. „Und, konntest du ihn erreichen?“ Resigniert schüttelt Evelin den Kopf und lässt ihr Handy sinken. „Nein, nichts, immer nur der Anrufbeantworter, aber das hat bestimmt nichts zu heißen, vielleicht ist er nur mit ein paar Kollegen etwas essen gegangen und er hat sein Handy irgendwo liegen lassen, du kennst doch Papa.“ Ihre Mutter wirkt wenig beruhigt. „Nein, dein Vater würde so etwas nie machen, ohne vorher Bescheid zu geben, außerdem habe ich bei Lilas Vater angerufen, da ist auch niemand zu Hause.“ Evelin legt ihrer Mutter eine Hand auf die Schulter und versucht möglichst überzeugend und beruhigend zu wirken, obwohl in ihrem Kopf der reinste Notstand ausgerufen wird und ein Unglücksszenario nach dem anderen auf ihre Netzhaut projiziert wird. Ihr kleiner Bruder, der von der ernsten Lage nichts mitzubekommen scheint, rennt an den beiden vorbei in sein Zimmer. Die kleinen Füße trampeln durch den Flur und als er wieder in Evelins Zimmer erscheint, hält der Fünfjährige seiner Schwester ein Blatt nach oben und blickt dabei in eine komplett andere Richtung, fast als hätte er vergessen, warum er hier ist. Evelin lässt die Schulter ihrer Mutter los und nimmt ihm das Blatt aus den winzigen Händen. Der kleine Junge nickt zufrieden und rast zurück in sein Zimmer. Langsam zieht Evelin das Bild zu ihren Augen. Es zeigt wild übereinander gelegte Striche und Kreise, die für einen Fünfjährigen erstaunlich präzise wirken. Lächelnd sieht sie ihre Mutter an. „Danke Oskar, es ist wunderschön, ich hänge es über mein Bett, ja?“ Keine Antwort aus Oskars Zimmer. Evelin, die auch keine Antwort erwartet hat, steigt auf ihr Bett und pinnt das Bild zu den anderen wirren Gemälden ihres Bruders. Dann wandert ihre Aufmerksamkeit wieder zu ihrer Mutter. „Es wird schon nichts passiert sein.“ Aufmunternd und immer noch sehr besorgt zieht die Frau auf der Bettkante die Stirn in Falten. „Dein Wort in Gottes Ohr Evelin, ich hoffe du hast recht.“

Da nach der Aufregung und der stetig anhaltenden Sorge um Ehemann und Vater nicht mehr an Schlafen zu denken ist, setzt Evelin sich neben ihre Mutter und legt ihren Kopf auf ihren Schoss. Ihre Augen wendet sie dabei zu den vielen Malereien an der Decke. „Glaubst du, dass er irgendwann sprechen wird?“ Das sanfte Gesicht ihrer Mutter schaut nun zu ihr runter. „Glaubst du, dass er es nicht tun wird?“ Sie küsst Evelin auf die Stirn. „Ich glaube einfach“, spricht sie weiter, „dass er auf die richtigen Worte wartet und dass er einfach noch nichts Wichtiges zu sagen hatte.“ Mit diesem Satz schließen beide die Augen und lauschen dem in der Ferne rauschenden Meer. Es folgen ein Poltern und ein Schlüssel, der im Schloss gedreht wird.

7. High York, USA

Es war ein Scheißtag! Philippe konnte sich auch gar nicht erklären, wie ein eigentlich so schöner Tag so rasant schnell so aus dem Ruder laufen konnte. Vielleicht lag es an dem Anruf, den er so früh morgens erhalten hatte, obwohl er doch seinen freien Tag hatte. Vielleicht lag es an den Worten, die sein Chef ins Telefon gebrüllt hatte, ohne einmal Luft zu holen, oder es lag an dem Kaffee, der trotz des sechsten Stücks Zucker immer noch schmeckte, als wäre er zum dritten Mal in der Mikrowelle erhitzt worden. Vielleicht lag es auch an den ganzen anderen Dingen, die an diesem Tag folgten, dass Philippe sich abends auf die kleine Stufe vor dem Department setzte, in den wolkenlosen Nachthimmel starrte und sich wünschte einfach im Bett liegen geblieben zu sein.

Philippe wacht langsam auf, es fällt ihm schwer seine Augen zu öffnen, sein Mund ist trocken und klebrig, mehrmals blinzelt er, um seine Augen zum Aufwachen zu überreden. Immer noch halb in dem Traum, in dem er vor wenigen Minuten noch gesteckt hat, versunken, richtet er sich schwerfällig aus dem Bett auf. Es dauert, bis er begreift, was ihn geweckt hat. Das kleine schwarze Gerät, das neben seiner Matratze auf einem kleinen Hocker liegt, blinkt heftig, wechselt dabei völlig übermotiviert die Farbe und schrillt so laut, dass Philippes Ohren sich wie betäubt anfühlen. Immer noch schlaftrunken greift er nach dem kleinen ellipsenförmigen Gegenstand. 4:12 a.m. steht auf dem Display. Während er genervt das Gerät zum Ohr zieht, nimmt er den Anruf an, der sich zuvor so laut angekündigt hat. Da sein Mund immer noch der Trockenheit erlegen ist, bekommt er nur ein knappes „Mmh“ heraus. „Lafin! Herrgott! Wie lange muss ich eigentlich klingeln lassen, bis Sie sich mal bereit erklären den Anruf auch anzunehmen?“ Die Stimme des Captains schrillt wie eine feine Nadel durch den Hörer und bohrt sich schmerzhaft in seinen Gehörgang. Bevor Philippe, immer noch im Dämmerzustand, antworten kann, bohrt die Nadel sich bereits weiter durch sein schmerzendes Ohr. „Na ja, ist ja jetzt auch nebensächlich, ich weiß, dass Sie sich für heute eigentlich freigenommen hatten, letztendlich ist es aber so, dass ich Sie hier brauche, am besten umgehend. Hier bricht gerade ein Sturm los und ich brauche jemanden, der bereit ist sich diesem Sturm zu stellen. Es ist mir egal, wie Sie es machen, ob Sie hierher fliegen, schwimmen oder fahren, aber ich möchte Sie in einer Stunde in Uniform im Department sehen!“ Und bevor Philippe überhaupt begreift, was er da gerade gehört hat, ist nur noch ein Tuten in der Leitung. Er wirf das Telefon, das er ja bereits eh schon mehrere Zentimeter von seinem Ohr weggehalten hat, irgendwo auf den Hocker neben seiner Matratze. Erschöpft von der Lautstärke, der Uhrzeit und seinem immer noch trockenen Mund lässt er sich zurück in die Kissen fallen. Mit einer ruckartigen Bewegung zieht er sich die Decke über den Kopf. – Das war ein Traum Philippe, ganz sicher, das war nur ein ganz beschissener Albtraum, den du dir eingebildet hast, trotzdem will ich aber mal wissen … – Vorsichtig schiebt er einen Arm unter der dünnen Decke hervor und tastet erneut nach dem Telefon auf dem Hocker. Unter der Decke betrachtet er ein zweites Mal das Display. 4:17 a.m. Mit dem Daumen scrollt er zur Anrufliste. Letzter Anruf 4:12 a.m., Captain, steht da. Stöhnend pfeffert er das Telefon aus dem Bett und schält sich aus der wohlig warmen Decke, die ihn immer noch umgibt. Genervt richtet er sich von der Matratze auf, streckt sich, lässt seine Gelenke knacken und atmet mit nach oben gerichteten Armen tief ein. Sein Blick fliegt an die hohe Decke des alten Lofts, in dem er schon seit einer Ewigkeit wohnt. Er hatte es gekauft, als diese alten Fabrikhallen noch in den schlechten Teil der Stadt gehörten und sie als Schandfleck bezeichnet worden waren. Oft hatte Philippe sich gegen einen Abriss wehren müssen und wurde um unmenschliche Uhrzeiten von Räumungsdiensten aus dem Schlaf geklingelt. Doch Philippe konnte sich immer durchsetzen, das war eine Stärke, die er schon als Teenager besessen hatte. Während also neben ihm die alten Fabrikhallen weggerissen wurden und die Abrissbirnen und Bagger tage- und nächtelang Lärm verbreiteten, blieb er standhaft und schützte die letzte alte Fabrikhalle mit allem, was er bekommen konnte. Irgendwann, nach zahlreichen Petitionen und geplanten Demonstrationen, schaffte er es die alte Fabrik unter Denkmalschutz stellen zu lassen.

Philippe verließ das Fabrikgebäude nicht, auch nicht als die Polizei kam, um die Gegend zu evakuieren, weil sie beim Bau des neuen Parks gegenüber ein illegales Trisalpetersäureglyzerinester-Lager fanden. Philippe blockte auch damals ab und blieb auf eigene Gefahr. Mit der Zeit folgten dem neuen Park neue Häuserblöcke, die auf dem alten Fabrikgrund gebaut wurden, und die „letzte überlebende Fabrikhalle der Stadt“, wie es die Presse gerne nannte, wurde kernsaniert und zu neuen, hippen Loftwohnungen umgewandelt. Heute leben hier Modeblogger, Fernsehreporter, Zahnärzte und alle die, die es sich leisten konnten, in dem nun angesagtesten Viertel der Stadt eines der beliebten Lofts zu mieten oder sogar zu kaufen. Viele Male wurden Philippe schon horrende Summen geboten und auch seine Freunde rieten ihm immer wieder zum Verkauf seines über die Jahre um das 400-Fache im Preis gestiegenen Lofts. Philippe ist es aber egal, wie viel Geld er haben könnte, Geld ist ihm nicht wichtig, ist es ihm nie gewesen. Solange er Brot und Butter kaufen kann, reicht es ihm. Wenn er sich von der Matratze erhebt, um sich zu strecken und seine Muskeln zu dehnen, knarzen die alten Dielen, die das kleine Loft säumen, gerade so, als wollten sie ihn begrüßen. Das kann kein Geld der Welt ersetzen. Auch an diesem Morgen knarzen sie leise und beschwichtigend, als spürten sie die angespannte Stimmung, die sich auf ihnen breitgemacht hat. Nachdem er sich nicht mehr ganz so steif wie zuvor fühlt, tragen ihn seine Beine über die Dielen bis ins kleine Badezimmer. Hier ist der einzige Platz im Haus, an dem Philippe eine Tür hat, die er schließen kann. Meistens ist ihm aber nicht danach die schwere Eichentür hinter sich zuzuziehen, er fühlt sich in geschlossenen Räumen schnell eingesperrt, schnell gefangen, so, als würde da ein Gewicht auf seiner Brust sein, jedes Mal, wenn eine Tür hinter ihm geschlossen wird. Also lässt er auch an diesem Tag die Tür des Badezimmers offen. Er wäscht sich mit kaltem Wasser den Schlaf aus den Augen und nimmt einen großen Schluck aus dem kühlen, nach Chlor riechenden Nass, um seinen immer noch trockenen Mund zu besänftigen. Als er den Kopf vom Wasserhahn hebt und sich mit dem grauen Handtuch durchs Gesicht wischt, sieht ihm im Spiegel, der über dem Waschbecken mit einer Lederschnur befestigt ist, ein Mann entgegen. Das dunkelbraune, fast schwarze Haar ist von feinen grauen Härchen durchzogen, die sich an den Schläfen verdichten und immer mehr von dem einst braunen Haar verschlucken. Die Augen sehen trotz der leichten Falten, die sie umgeben, wachsam aus, so als gehörten sie einem Kind, das noch nicht genug gesehen hat und immer noch wissbegierig Neues aufsaugt wie ein durstiges Tier das Wasser. Die schmale Nase, die über den ebenfalls schmalen Lippen thront und hie und da eine mal neue, mal ältere Narbe zeigt, und der Mund, der trotz der Schmalheit sympathisch wirkt. Außerdem sind da noch die kantigen Wangenknochen, die Philippes Gesicht einrahmen und es manchmal fast so aussehen lassen, als würden sie es zusammenhalten wollen.

Er wendet sich von dem Spiegelbild ab, das ihm wie jeden Morgen entgegenblickt, und wandelt durch die offene Holztür, über die knarrenden Dielen zum Kleiderschrank, der von einem Vorhang verdeckt in einer der Ecken platziert ist. Sein Weg führt ihn an dem Hundekorb vorbei, der neben der Matratze auf einem kleinen Holzpodest liegt. Die dürre Windhunddame hebt verschlafen ihren Kopf. Mit schiefen Lefzen blinzelt sie ihm entgegen, so, als wundere sie sich, was ihr Herr so früh am Morgen auf den Beinen macht. Sanft streicht Philippe ihr über den zierlichen Kopf und flüstert ihr besänftigend etwas ins Ohr. Beruhigt durch seine Stimme schiebt sie ihren Kopf wieder unter ihre Vorderläufe und atmet einmal kräftig aus, erst jetzt kann sie sich wieder entspannen, jetzt, wo sie weiß, dass alles okay ist. Vorsichtig zieht Philippe die kleine Hundedecke über den dünnen Hund und tritt vom Hundekorb weg ans Fenster. Immer noch müde lässt er seine Augen über die noch schlafende Stadt streifen, die sich vor dem großen, hohen Fenster erstreckt. In der Ferne kriecht langsam das Licht des Morgens unter dem Smog der Straßen hervor. Bis hier oben auf die kleine Anhöhe, auf der Philippes und die vielen anderen Wohnungen thronen, reicht der Smog nicht, es wirkt fast so, als traue er sich nicht weiter nach oben, als wolle er im Schutz der Hochhäuser eingebettet bleiben.

Mit den Augen immer noch aus dem Fenster gerichtet dreht sich Philippe zu dem Vorhang um, der den kleinen Kleiderschrank verbirgt und so einen Raum ohne Tür schafft. Er schüttelt seinen Kopf, um seinen starren, müden Blick vom Fenster abwenden zu können, und greift nach der Uniform, die auf einem der Bügel an der alleinstehenden Kleiderstange hängt. Mit gewohnter Routine steift er sich die Hose über die Boxershorts und befestigt sie mit dem schwarzen, schweren Ledergürtel, der immer an der Hose hängt und seinen Platz nur für die Reinigung verlässt. Über die dunkelblaue, fast schwarze Hose zieht er das steife Hemd, mit den Schulterklappen, auf denen das Abzeichen mit dem einen goldenen Balken zu sehen ist, der seinen Rang markiert, darüber legt er die schwarze Krawatte. Seine Hände formen den Knoten trotz des wenigen Lichtes mühelos und legen anschließend den steifen Kragen darüber. Die schwarzen, langen Socken nimmt er aus einer kleinen Kommode, die unter einem modernen Bilderrahmen, der mit einem Nagel an der Backsteinmauer befestigt wurde und nicht mehr als einen schwarzen Fleck zeigt, steht. Die Socken stopft er sich in die tiefen Hosentaschen und läuft immer noch barfuß in die Küche, die gegenüber dem Schrank liegt und das andere Ende des Lofts markiert. Mit der einen Hand greift er zu der großen silbernen Kühlschranktür und mit der anderen zur Armbanduhr, die auf der Kücheninsel in einer Schale liegt. Die kühle Luft des Kühlschranks schlägt ihm entgegen und jagt ihm Gänsehaut über die Arme. Mit einem Knie hält er die schwere Tür offen und befestigt mit geübten Fingern die Uhr an seinem linken Handgelenk. Das flache Display leuchtet zur Bestätigung einmal kurz auf und nachdem es sich der Raumhelligkeit angepasst hat, springt Philippe der Ziffernblock entgegen: 4:30 a.m. Sich das Frühstück aus dem Kopf schlagend, schiebt er die Kühlschranktür mit dem Knie zu und greift stattdessen zu der Hundefutterdose, die neben der Kaffeemaschine steht. Er soll nicht als Einziger ohne eine ordentliche Mahlzeit enden. Hastig füllt er frisches Wasser in den einen und das Trockenfutter in den anderen Napf und hechtet zur Eingangstür. Schnell streift er die Socken aus der Hosentasche über und greift gestresst hinter die Tür, die seine wenigen Schuhe verbirgt. Zum Vorschein kommen die schweren schwarzen Stiefel, die zur Uniform noch fehlen. Kurz hält er inne und beäugt sie sorgfältig auf Dreck und Risse, dann schnürt er sie aufmerksam um seine Füße. Ein schneller Blick auf die Armbanduhr: 4:35 a.m. Wenn er es noch durch den dichten Verkehr pünktlich zur Arbeit schaffen will, muss er jetzt los. Seine rechte Hand, die er angespannt und gestresst durch den Zeitdruck zur Faust geformt nach unten hält, wird auf einmal kalt und nass. Erschrocken zieht er sie ruckartig nach oben und stößt dabei die spitze Hundenase beiseite, die zuvor sanft gegen die Hand gedrückt wurde. Die Windhunddame fiepst empört und springt verwundert zur Seite. „Oh Rina, das wollte ich nicht!“ Mit schlechtem Gewissen kniet Philippe sich auf den alten Dielenboden zu der Hündin herunter, langsam hält er dem immer noch erschrockenen Tier seine Hand hin und säuselt beschwichtigend. Dann schlingt er seine Arme um ihren dünnen Körper und klopft ihr im Aufstehen liebevoll auf die Seite, als Ausgleich leckt sie ihm den Handrücken und verschwindet anschließend wieder im Dämmerlicht des Lofts. Immer noch von schlechtem Gewissen geplagt, schnappt Philippe sich Auto- und Haustürschlüssel und schiebt die wuchtige Industrietür auf. Zur Begrüßung schlägt ihm die feuchte, warme Luft des Treppenhauses entgegen, die ihm die Entscheidung gegen den dicken Mantel schnell abnimmt.

Als er endlich, leicht außer Atem, auf dem Gehweg vor der großen Halle steht und sich nach seinem Auto umschaut, lässt ihn das Gefühl nicht los, heute nicht pünktlich im Department zu sein. Genervt von dem Gedanken findet er den alten Jeep gegenüber einem Baum, der trotz Sommer keine Blätter trägt und dessen kahle Äste abgebrochen auf dem Dach des Jeeps liegen und den Bürgersteig säumen. Beim Überqueren der Straße fällt seine Aufmerksamkeit auf eine alte Frau, die einen Einkaufswagen befüllt mit Decken, Dosen, einem kleinen Kofferradio und allerlei anderem Gerümpel vor sich herschiebt. Ihre Kleider sehen abgenutzt, aber gepflegt aus, die Löcher der Hose sind hie und da mit Stoffstücken überdeckt und an manchen Stellen von Fäden geflickt worden. Das alte, über die Zeit grau gewordene Hemd ist sorgfältig in die Hose gesteckt und die vielen Flecken mit Blumen und Herzen übermalt. Die Schuhe sind abgenutzt und rissig, trotzdem sorgfältig abgebürstet. Ihre langen, grauen Haare hat sie mit einem alten Bleistift aus dem Gesicht gesteckt und um ihren Hals trägt sie eine Kette aus alten Holzperlen, die als Highlight einen alten Bierdeckel als Brosche zeigt. Man sieht ihr an, dass sie viele Nächte an schlechten Orten verbracht hat und an den tiefen Falten unter Augen und Mund sieht man die harten Zeiten, die sie durchleben musste. Dennoch unterscheidet sie sich, in ihrer gepflegten Art, von den anderen Obdachlosen, die um die Sommerzeit gerne in dem kleinen Park gegenüber Philippes Wohnung unter einem großen Baum schlafen.

Philippe unterbricht seine schnellen Schritte und lenkt sie in Richtung der alten Dame mit ihrem Einkaufswagen. Verlegen grinsend hält er ihr den Haustürschlüssel mit dem Messinganhänger hin. Die alte Frau schlägt ihm kopfschüttelnd gegen die Schulter und schiebt den quietschenden Wagen weiter über die Straße. Philippe hechtet ihr mit schnellen Schritten hinterher und hilft den schweren Wagen auf der anderen Seite über den Bordstein zu heben. „Irma, bitte, ich brauche dich.“ Wieder versucht er ein verlegenes Grinsen. „Weißt du was, Philippe?“, ohne stehen zu bleiben, geht sie weiter, „ich glaube, du musst dein Leben mal selbst in den Griff bekommen, außerdem, hast du mal auf die Uhr gesehen?“ Erschrocken fliegen Philippes Augen auf sein Handgelenk: 4:42 a.m. „Ja, wo du das gerade ansprichst, ich habe kaum Zeit und bin eigentlich schon viel zu spät dran.“ Die alte Frau hebt ihren Zeigefinger und legt ihn über Philippes Lippen, dann fährt sie über die Buchstaben, die auf der rechten Ärmelseite eingraviert sind und ihn als Polizisten auszeichnen. „Philippe, du bist ein guter Mensch, aber du bist wirklich zu jung, um immer so viel Stress zu haben. Ein Mann sollte Zeit für seinen Hund haben und auch für andere Dinge, die wichtiger als Hunde sind.“ Besorgt streift sie ihm über die Wange und nimmt vorsichtig den Schlüssel aus Philippes Hand. „Außerdem sollte ich mich nicht so oft mit der Polizei sehen lassen.“ Sie lacht, sieht sich verstohlen um und beugt sich über den Wagen näher zu ihm heran. „Nachher denkt noch jemand ich sei ein schlimmer Finger.“ Mit diesen Worten wendet sie sich von ihm ab und schiebt ihren Wagen weiter den Gehweg nach oben. „Danke Irma, du weißt, wie dankbar ich dir dafür bin und Rina hat auch schon ihr Futter bekommen“, ruft er ihr nach, bevor Irma noch einmal ihre Hand hebt und ohne sich umzudrehen hinter einer Häuserecke verschwindet.

Der Verkehr ist wie immer unausweichlich. Kilometerweit schlängelt sich Auto für Auto durch die vollgestopften Straßen. Vor Philippes Augen fallen die Minuten wie in einer Klappzahlenuhr schneller und schneller und er kann nichts dagegen tun, um sie aufzuhalten. In Gedanken fährt seine Hand mehrmals zum Handschuhfach, in dem das mobile Blaulicht auf seinen nächsten Einsatz wartet, aber die Vernunft hält ihn immer wieder davon ab. – Nein Philippe, das ist kein Notfall, oder doch? – Immer wieder richten sich seine Augen auf die Armbanduhr. 4:50 a.m. 4:52 a.m. 4:53 a.m. 4:59 a.m. Ständig dieser nervige Verkehr, der rund um die Uhr, den ganzen Tag, die ganze Nacht, lärmend durch die engen Straßen zwischen den Häuserschluchten führt. Die Fenster der Autos sind alle geschlossen, um den dicken Abgaswolken zu entgehen. Schleppend rollen sie Reifen für Reifen, Stoßstange an Stoßstange weiter. Egal wie lange die Wartezeit ist, egal wie lange eine Rotphase dauert, die Motoren dröhnen weiter und die vielen Menschen, die alleine und gelangweilt hinter den Lenkrädern eingeklemmt sitzen, genießen mit ausdruckslosen Gesichtern die Klimaanlagen, die sie die Hitze der Luft vergessen lassen. Die wenigen, die ihren Motor abstellen, die es ohne Klimaanlage und ohne gefilterte Luft wagen einzuatmen, die mit schweißnasser Stirn abwägen doch einmal das Fenster herunterzufahren, weil sie für einen kurzen Moment vergessen, dass durch heruntergefahrene Fenster schon lange keine kühle, frische Luft mehr hereindringt, sondern nur dicke Wolken von monatealtem Smog und Abgasen. Diejenigen, die das wagen, werden von lauten Hupkonzerten begleitet, weil sie es versäumt haben ihr Auto rechtzeitig zu starten, weil sie versäumt haben den Zündschlüssel rechtzeitig zu drehen und nicht schon vor der Gelbphase nervös loszurollen.

Auch Philippe gehört zu den Verkehrsteilnehmern, die ihren Wagen abstellen, sobald das Auto vor ihm mit blinkenden Bremslichtern zum Halten kommt. Er gehört zu denen, an denen man sich vorbeidrängelt, um sich vor sie zu setzen, sobald der Sicherheitsabstand zu groß wird, sobald die Lücke nur groß genug für das eigene Auto ist. Philippe hasst das Autofahren, er verflucht jede einzelne Sekunde davon, er hasst es, sich eine Maske aufziehen zu müssen, die die Luft filtert, bevor sie in seine Lunge dringt, weil er es nicht aushalten kann, in dem engen Jeep zu sitzen, ohne jedes einzelne Fenster aufzukurbeln. Er hält die Enge nicht aus, diesen entsetzlichen geschlossenen Raum, in den er sich fünf bis sechs Tage die Woche begeben muss, um zur Arbeit zu fahren. Nur wenn er die zierliche Hündin mal zum Arzt fahren muss, hält er die Fenster geschlossen, damit sie nicht den Abgasen ausgesetzt ist, nur dann kann er es, nur wenn er es wirklich muss, hält er es in dem engen Jeep mit geschlossenen Fenstern aus. Der alte Jeep besitzt zwar eine Klimaanlage, jedoch schaltet Philippe sie nie an, er versteht nicht, warum die Menschen sich zu teure Klimaanlagen in zu teure Autos bauen lassen, nur um sich für wenige Stunden ihres Tages falsche Temperaturen vorgaukeln zu lassen. Der Schock, den der Körper hat, jedes Mal, wenn er das klimatisierte Auto verlässt, war es Philippe wirklich nicht wert.

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