Loe raamatut: «§4253», lehekülg 5

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Im unteren Flur angekommen, legen sie den regungslosen Körper für einen Moment ab, um sich den Rauch aus den Lungen zu husten. „Die Luft ist hier unten viel schlechter“, prustet die Frau Felix entgegen. „Ja, wir müssen uns beeilen, aber haben Sie das auch gehört?“ Ein Nicken. „Ja, was war das?“ Beide sehen in die Schwärze des Flurs, der sich vor ihnen in völliger Dunkelheit erstreckt. „War das ...?“ Sie kann ihren Satz nicht mehr zu Ende sprechen, da bricht mit einem lauten Knacken, Knirschen und Schlagen der obere Flur unter den Flammen zusammen. Mit entsetzten Gesichtern starren sie den Treppenaufgang nach oben, aus dem sie wenige Sekunden zuvor gekommen sind. Eine gewaltige Rauchwolke wird durch die Wucht des Aufpralls durch den Flur geschickt und bringt den beiden eine Welle aus heißer Luft, kleinen Holzspänen, die wie Geschosse durch die Luft fliegen, und einen Wind, der an ihren Haaren und Kleidern reißt. Felix drückt die Frau mit einer groben, aber im letzten Moment richtigen Gewalt zu Boden, so dass sie der Stichflamme noch rechtzeitig ausweichen können, die mit dem Windstoß gekommen ist. Für einen Moment erleuchtet der Raum in aggressiven Rot-, Gelb- und Blautönen. Kurz denkt Felix eine Frau im Schein der Flammen gesehen zu haben, aber er verwirft den Gedanken recht schnell wieder, denn als die Flammen sich wieder in dem Nichts aufgelöst haben, aus dem sie gekommen sind, liegt nichts als Leere vor ihnen. „Ist es vorbei?“, flüstert Felix’ Begleitung, gerade so leise, dass er es über das Fiepen in seinen Ohren hören kann. „Ich weiß es nicht, denke schon, geht es Ihnen gut?“ Vorsichtig tastet er nach der Frau, die er neben sich vermutet, doch statt der warmen Haut, die er erwartet, berühren seine Finger die eiskalten Lippen des Toten, der immer noch neben ihm liegt, und Felix jagt ein Schauer über den Rücken. „Ja, mir geht es gut und Ihnen, sind Sie verletzt?“ Langsam schiebt Felix ein Knie unter seine Hüfte und setzt sich auf. Wie zur Antwort auf ihre Frage schießt ein warmer Schmerz in Felix’ Schulter und etwas Heißes läuft ihm den Arm herunter. Mit zittriger Hand lässt er seine Finger über die Schulter gleiten, bis sie einen spitzen Gegenstand ertasten. Wieder meldet sich Felix’ geplagter Magen und er hustet heftig, da seinem Körper aber anscheinend die Flüssigkeiten ausgegangen sind, bleibt es bei einem trockenen Würgen. „Ja, mir geht es gut. Ich bin unverletzt“, lügt er in die Dunkelheit und hofft inständig, dass sie das Stöhnen, das er verlauten lässt, nachdem seine Finger den spitzen Gegenstand umfasst und mit schnellem Ziehen nach vorne aus seiner stechenden Schulter gezogen haben, nicht hören kann. Fast sauer, schnipst er den daumengroßen Holzsplitter zur Seite und versucht den Gedanken zu verdrängen, dass das Ding auch sein Auge hätte treffen können. „Können Sie die Taschenlampe sehen?“ Nur Dunkelheit. „Nein es ist zu dunkel, ich sehe sie nicht, wir sollten weitergehen, hier ist es nicht sicher“, entgegnet sie ihm. „Ja, ich weiß, aber kommt es mir nur so vor oder wird es da heller?“ Felix tastet erneut nach der Frau und bekommt diesmal ihren Ellbogen zu fassen, er zieht sie mit sich nach oben und beide starren, dicht an dicht, in den kleinen Lichtkegel, der sich vor ihnen auftut. Felix kann ihren heißen Atem an seinem Arm spüren. „Hallo, hallo? Ist da wer?“, ruft er.

Aus dem Schwarz des Flurs vor ihnen taumelt eine Frau. Ihr einst weißes Dukjon-T-Shirt ist grau vom Ruß und mit einer Hand presst sie es gegen Mund und Nase, in der anderen hält sie ein Handy, mit dessen Taschenlampe sie den beiden ins Gesicht leuchtet. Ein entsetzter Schrei entgleitet ihr und beinahe hätte sie ihr Handy fallen lassen, wenn Felix es nicht im letzten Moment, kurz vor dem Boden, aufgefangen hätte. Der hastigen Bewegung folgt eine Erinnerung an seine Schulter und er knickt stöhnend zusammen. Felix’ Begleiterin schnellt ihm hinterher und leuchtet mit dem Handy auf seine blutende Schulter. „Sie verdammtes Arschloch, Sie sind ja doch verletzt. Da, Sie bluten.“ „Das ist nichts“, flucht Felix und entreißt ihr das Handy. Mit der Hilfe der beiden Frauen kommt er wieder auf die Beine und die drei bleiben in einem Halbkreis stehen. Felix wischt der Frau, die aus dem Flur gekommen ist, den Ruß aus dem Gesicht und schreit erleichtert auf. „Cara! Oh mein Gott, es geht dir gut.“ Ungläubig gafft er Pauls Sekretärin an. „Ja, ich bin okay, aber habt ihr das gehört? Da muss was eingebrochen sein. Wir sollten verschwinden und Herrgott“, springt die rundliche Frau entsetzt zur Seite, „was ist mit dem Mann passiert?“ Felix folgt ihrem Blick, packt Cara an beiden Schultern und dreht sie von dem Toten weg. „Sieh da nicht hin, das ist jetzt alles unwichtig Cara, wichtiger ist, hast du Paul gesehen?“ Die Sekretärin windet sich erst in Felix’ Armen, dann lässt sie ihre Augen von dem Körper ab und sieht in Felix’ dunkle Pupillen. „Paul Barens, ja, ja, den habe ich gesehen, er ist den Flur runtergerannt, er wollte nachsehen, ob da noch jemand ist. Er hat mich rausgeschickt, um den anderen Bescheid zu sagen. Oh Felix, er hat so seltsame Dinge zu mir gesagt.“ Dicke Tränen rollen ihr über das rundliche Gesicht. „Ich glaube, er hat mir mein Leben gerettet.“ Felix’ Hand fliegt vor seinen Mund, er dreht sich einmal um die eigene Achse und reißt sich wieder zusammen. „Okay Cara. Du und …“ Fragend betrachtet er die Frau neben ihm. „Fiona“, entgegnet sie ihm mit einem Augenrollen. „Okay, du und Fiona werdet diesen Ort nun schnellstmöglich verlassen.“ Die Sekretärin wimmert. „Nein, nein Felix, das kann ich nicht, du musst uns helfen.“ Felix packt sie fester an den Schultern und gibt seiner Stimme einen festen, bestimmten Klang. „Doch Cara, das kannst du. Hast du mich verstanden?“ Die Schultern der Frau hören auf zu beben, mit ihrem Arm wischt sie sich die Tränen vom Gesicht, nimmt Felix das Handy aus der Hand und nickt einige Male, so, als müsste sie sich selbst noch von dem Plan überzeugen. „Es ist ja wohl hinfällig dich nach deinem Plan zu fragen. Aber Felix, versprich mir eins.“ Ein wütender Zeigefinger schwebt vor seinem Gesicht. „Bring Paul ja lebend zurück.“ Dann lässt sie von ihm ab, schiebt sich das Handy zwischen die Zähne, packt kraftvoll nach den Beinen des Toten und deutet Fiona an, es ihr gleich zu tun. Fiona nickt Felix noch einmal zu, schiebt die Hände unter die Schultern der Leiche und die beiden verschwinden in der Dunkelheit.

Die Zerstörung, die durch das Einbrechen des oberen Flurs entstanden ist, hat ein weitaus größeres Ausmaß, als Felix es zunächst angenommen hat. An vielen Stellen sind die Flammen durch die Wucht der Erschütterung und des Einknickens der Trägerbalken ausgedrückt worden, an anderen Stellen haben die Flammen durch das neu errungene Brennmaterial aber angefangen sich immer weiter aufzubäumen und an manchen Stellen lecken sie bereits an der Decke und zwingen Felix in die Knie. Manchmal will er aufgeben, will umkehren, weil die Luft zu heiß, die Flammen zu groß oder der Weg versperrt ist. Jedoch jedes Mal, wenn Felix sich einreden will, dass es okay ist umzukehren, dass er alles in seiner Macht Stehende getan hat, dass er hilflos ist gegenüber den Bergen aus Schutt, die sich im gesamten Flur erstrecken, jedes Mal hört er dann ein Knacken, ein Säuseln oder ein Brodeln, was ihn weitersuchen lässt, das ihm die Kraft gibt einen weiteres Trümmerteil hochzustemmen oder durch die nächste Flammenwand zu springen. Immer wieder ruft er den Namen seines Freundes in die Dunkelheit hinein, schreit die Flammen an, die versuchen an ihm zu züngeln, bis seine Kehle heiser ist, bis er kaum noch einen Ton über seine Lippen bringen kann. Doch egal wo er sucht und egal wie laut er schreit, nirgendwo erscheint ein Lebenszeichen. Hier ist niemand. Langsam tropft die Erkenntnis in Felix’ erschöpfen Körper. Hier ist niemand mehr; selbst wenn es hier jemanden gegeben hat, kann er dem Einsturz der Decke, den tonnenschweren Stahlträgern und Betonteilen, den lodernd heißen Flammen und der brennenden, rußigen Luft kaum lebend entkommen sein. Erschöpft lässt er sich auf einen Holzbalken fallen, der zwischen zwei Türrahmen klemmt. Er reibt sich die trockenen Augen und wischt sich mit dem schweißnassen Ärmel seines Overalls den Ruß aus dem Gesicht. „Er ist tot“, flüstert er in die Dunkelheit des Flurs hinein. In der Ferne kann er das Knacken des Feuers hören. „Er ist tot“, ruft er ein wenig lauter, doch seine Stimme kann sich über die Lautstärke der Flammen nicht erheben. Er ruft es wieder und wieder, aber es scheint, als würden die Flammen jedes Mal lauter knacken, wenn er seine Stimme erhebt, fast so, als wollten sie nicht, dass dieser Satz die Mauern der Fabrik verlässt.

Nach einer Weile erhebt er sich, streift sich mit den Händen über seine Oberschenkel, ballt die Hände zu Fäusten, um sich zu fassen und will gerade den Weg raus aus der Hölle suchen, als er mit seinen Schuhen auf etwas Weiches tritt. Erschrocken fährt er zurück, stolpert über den Holzbalken und fällt rücklings über ihn hinweg. Für einen Moment rotieren seine Gedanken. Was war das? Wahrscheinlich nur ein Schwamm oder ein Poliertuch aus der Lackiererei oder es könnte ... Felix rappelt sich wieder auf, krabbelt auf allen Vieren über den Holzbalken und tastet in der Dunkelheit nach der Stelle, an der sein Fuß zuvor gestanden hat. Seine Finger ertasten den weichen Gegenstand, es kostet ihn viel Überwindung das raue, warme Stück abzutasten, doch als er begreift, was seine Finger da gefunden haben, fährt ihm ein Schauer durch den ganzen Körper. „Paul, Paul, Paul bist du das?“ Keine Antwort. Ohne sich davon beirren zu lassen, springt Felix auf, reißt einen großen Holzspalt aus dem Balken, auf dem er zuvor gesessen hat, und rennt, so schnell es die Umstände zulassen, den Flur zurück, den Flammen entgegen. Hustend und würgend erreicht er das Feuer und schaudert bei dem Anblick. Die Flammen haben sich viel weiter vorgearbeitet und lassen den Flur zu einem Flammenmeer werden. Felix schüttelt den Kopf – egal, dies war ein Problem, das er später lösen muss. Hektisch hält er den Holzspalt in die Flammen, die auch sogleich gierig an ihm lecken. Mit dem brennenden Spalt rennt er zu der Stelle zurück, an der er seine Entdeckung gemacht hat. Das Licht der improvisierten Fackel zeichnet gespenstische Schatten an die schwarzen Wände. Am Holzbalken angekommen rammt er die Fackel in den Schutt und beugt sich zu der weichen Entdeckung herunter. Felix fixiert mit seinen Augen die Hand, die vor ihm liegt. Nervös fingert er nach dem Puls. Bubum, bubum, bubum. Er ist sehr schwach, aber dennoch spürbar. Die Hand ist riesig, keine Frage, das kann kein anderer sein. Im Licht der Flammen erkennt er nach und nach den Rest seines Freundes. Er liegt mit dem Gesicht nach unten, bäuchlings auf dem Boden, seine Arme hat er von sich gestreckt. Nach der ersten Erleichterung, seinen Freund doch noch lebend gefunden zu haben, erblickt Felix schon die nächste Hürde, die vor ihm liegt. Vorsichtig tastet er den großen Holzbalken ab, der quer über seinem Freund liegt. Er ist groß und wuchtig, viel zu wuchtig, als dass Felix ihn ohne Hilfe heben könnte. Eine brodelnde Hitze steigt in ihm auf, sie macht sich in seinem Brustkorb breit und steigt seine Kehle nach oben, bis hin zu seinem Kopf. Felix drückt seine Handflächen gegen die Schläfen, er drückt so fest er kann, um seinem Kopf Ruhe zu gebieten, aber das laute Pochen, die Hitze und das Gefühl sein Schädel könne bersten, lassen ihm keine Ruhe. Was soll er nur tun? Es scheint auf einmal weitaus schlimmer zu sein, seinen Freund zwar gefunden zu haben, ihn dann aber lebend zurücklassen zu müssen, als ihn einfach nie zu finden.

Es kommt Felix wie eine Ewigkeit vor, es ist wie ein halbes Jahrhundert, die Zeit, in der er in einem dunklen, halb zerstörten Flur steht, seinen Kopf zwischen den Händen hält, die Hitze zu spüren, die in ihm brodelt, die Angst Paul zurücklassen zu müssen und ja, auch die Angst selber zurückzubleiben. Diese eine Szene ist es, die Felix immer wieder verfolgt, wenn er nachts hochschreckt, wenn er an einer Tankstelle den Zapfhahn in den Tank hält oder wenn er mit seiner Familie den Sonntagskrimi schaut. Diese Szene voller Verzweiflung und Angst, nicht der Tote, den er geborgen hat, nicht der Holzsplitter in seiner Schulter, sondern dieser Moment, in dem alles so weit weg, alles so verloren scheint, der ist es, der ihn immer wieder einholt.

Auch eine Ewigkeit hat mal ein Ende und so hört Felix es plötzlich, so, als wäre es schon immer da gewesen, ein leises fast überhörbares Klopfen. Leise, aber dennoch kontinuierlich. Es kommt von weiter hinten im Flur, aus dem Teil, den Felix noch nicht erkundet hat. Felix kneift die Augen zusammen, kann durch den dicken Rauch im Flur aber nichts sehen. ­­– Okay Felix, egal, du schaffst das, auch ohne etwas zu sehen.– Zitternd schließt er die Augen ganz, konzentriert sich nur auf seine Ohren und auf das Geräusch, das, als er sich nähert, immer deutlicher wird. Mit einem leichten Ruck stoßen seine Schienbeine gegen eine große Betonplatte. Vorsichtig und bedacht bückt er sich und greift ein wenig unsicher, aber bestimmt unter die Platte. Er ertastet Metall, es ist warm und bewegt sich in seiner Hand wie eine Schlange. Mit einem kräftigen Zug zieht Felix es aus seinem Versteck. „Oh, Herr Felix Mending, haben Sie den Feueralarm gehört? Ich glaube wir sollten evakuieren, soll ich die Feuerwehr rufen?“ Felix schüttelt seine Entdeckung. „Ja, es brennt, aber hey, scheiß doch auf die kack Feuerwehr, die kommen jetzt auch zu spät!“, erwidert er niedergeschlagen dem kleinen Roboter. „Herr Felix Mending, das ist eine zutiefst negative Äußerung, ich kann Sie gerne an unseren Haustherapeuten weiterleiten, wenn Sie es wünschen?“ Felix schüttelt den kleinen Kerl kräftiger. „Nein, nein ist schon gut, aber hey“, keimt in Felix eine Idee auf, „wie viel kannst du heben? Wie viel Gewicht meine ich?“ Der Roboter deutet auf das zerschlagene Display in seinem Greifer. „Mein maximales Stemmgewicht liegt bei zehn Kilo, das ist das Doppelte meines Eigengewichts, Herr Felix Mending.“ Die Wolke der Hoffnung zerplatzt so schnell, wie sie gekommen ist. Egal. Er muss es versuchen, welche Wahl hat er denn auch? Flink packt er den kleinen Roboter. Die improvisierte Fackel ist mittlerweile nur noch ein glühendes Stück Glut, aber Felix braucht seine Augen nicht für das, was er vorhat. Hektisch klemmt er die Greifarme des Roboters unter den Holzbalken, der noch immer schwer auf seinem Freund liegt, gibt dem kleinen Kerl die Anweisung zu heben und stemmt dann selbst die Beine in den Boden, um den Balken zu heben.

Wer weiß, wie viel der kleine Roboter am Ende wirklich half den Balken zu bewegen, aber das ist in diesem Moment nicht wichtig; wichtig sind die Hoffnung und der Schein der Unterstützung, die Felix dazu bringen den Balken in die Höhe zu stemmen. Er wendet alles auf, was er an Kraft in sich trägt, er lässt die Hitze und das Pochen raus aus seinem Kopf, in seine Arme und Beine laufen und stemmt den Balken von seinem Freund hinunter.

In dem Moment, als der Balken sich von Paul gelöst hat, atmet er gierig die Luft ein, nur um danach so heftig zu husten, dass Felix schon denkt, dass er ersticken muss. Aber er erstickt nicht, auch nicht, als Felix versucht, ihn auf die Beine zu stellen, und nicht, als er es endlich geschafft hat und sie auf dem Weg nach draußen sind. An diesen Teil erinnert Felix sich kaum noch, er scheint wie von seiner Festplatte gelöscht zu sein, er hat keine Ahnung mehr, wie er Paul und sich die Treppen zur Werkshalle hinunterbekommen hat, wie er ihn an den Flammen vorbeigeschleppt und sich die Hände am heißen Zufahrtstor verbrannt hat. Das Einzige, das später wiederkommt, ist das Gefühl den ersten frischen Atemzug zu tun, das Gefühl die kühle Nachtluft in seine schmerzenden Lungen zu saugen, das Gefühl, wie er das Bewusstsein verliert, und das Gefühl auf der Trage des Krankenwagens zu liegen, einfach nur dazuliegen und sich tragen zu lassen, ohne die Sorge einen Fehler zu machen, ohne die Sorge einen Freund zu verlieren.

9. Greifswald, Deutschland

Jalma runzelt fragend die Stirn, wie kann so etwas sein? Ungläubig und mit der absoluten Sicherheit, sich trotz des dritten Mal Lesens doch verguckt zu haben, liest sie die Mail ein viertes und ein fünftes Mal, selbst als sie die Mail ein sechstes Mal überfliegt, wollen sich die Worte nicht ändern. Nervös schiebt sie den Schreibtischstuhl auf dem Linoleumboden hin und her. Ihre Augen sind eisern auf den Bildschirm gerichtet. Nach dem siebten Mal Lesen löst sich ihre Hand wie eigenständig von der Tastatur und gleitet zielsicher in die Aktentasche, die neben dem Schreibtisch steht. Einige Sekunden später scheint sie gefunden zu haben, nach was sie gesucht hat, und kehrt aus den Tiefen der braunen Tasche zurück. Anstatt auf die Tastatur fliegt die Hand weiter an der Schreibtischplatte vorbei in Richtung Jalmas Gesicht. Gekonnt platziert sie eine Zigarette in ihren Mundwinkel und fliegt erst dann wieder auf die Tastatur zurück. Jalma, die ihre Augen immer noch starr auf den Computerbildschirm richtet, zündet die Zigarette mit dem Feuerzeug, das die andere Hand bereits aus der Schreibtischschublade gefingert hat, an und nimmt einen tiefen Zug in ihre Lungen. Erst als die Wirkung des Nikotins einsetzt, lösen sich ihre Augen vom Bildschirm und sie bläst den Rauch an die Bürodecke, dem Feuermelder entgegen. Desinteressiert beobachtet sie, wie der Rauch sich an der Decke verteilt. Nach einem weiteren, genießerischen Zug entspannen sich ihre Augen allmählich; um ihnen weitere Ruhe zu gönnen, lehnt Jalma ihren Kopf auf die Rückenlehne und schließt ihre Augen. Leider hält die erhoffte Entspannungsphase nur wenige Sekunden, bevor ihre Anwaltsgehilfin die Ruhe durchschneidet und sie zwingt ihre Augen wieder zu öffnen. Mit einem Lächeln öffnet sie die Tür und sprudelt in den Raum herein. „Herrgott, Herrgott, die Fusionsanwälte gehen einem ja tierisch auf die Nerven, du wirst nicht glauben, was ich von …“ Ihr Gesprudel verstummt schlagartig, als sie die Zigarette sieht. „Jalma!“, ruft sie ärgerlich durch den Raum hindurch und wischt auch sogleich hustend und wild mit den Armen gestikulierend an dem Schreibtisch vorbei zu dem hinter Jalma liegenden Fenster. Mit einem beherzten Ruck und der Entschlossenheit eines Feuerwehrmanns zieht sie das Fenster auf und hustet in die heiße Luft hinaus. Anschließend greift sie hektisch nach einer auf dem Schreibtisch liegenden Akte und fächert damit in der Luft herum. Jalma, die das Ganze ohne eine Regung ihres Körpers beobachtet, nimmt einen weiteren Zug und stößt die Luft durch ihre Nase in den Raum, dann drückt sie den Stummel auf der Schreibtischplatte aus und schiebt die Asche mit der Maus in den Papierkorb. Angespannt lehnt sie sich in ihrem Lederstuhl zurück und dreht sich zu der dürren, immer noch wild fuchtelnden Gehilfin um. „Jalma, Herrgott, du kannst hier doch nicht rauchen, nicht nur, dass das natürlich streng verboten ist, denk doch mal daran, wenn der Feuermelder angegangen wäre, diesen Einsatz hättest du dann bezahlen müssen, und dieser scheußliche Geruch.“ Mit gerümpfter Nase sieht sie an die Decke zu dem Feuermelder hinauf. „Der ist aus“, entgegnet Jalma mit völligem Desinteresse an den Sorgen ihrer Anwaltsgehilfin. „Wie aus? Was ist aus?“, bekommt sie auch sogleich die Antwort. „Na ja, der Feuermelder, den habe ich ausgemacht. Weiß ich ja selber, dass der sonst angehen würde.“ Die hektische Frau schnappt nach Luft. „Du hast was bitte? Oh Gott, oh Gott, weißt du eigentlich, was das für Konsequenzen gehabt hätte, wenn ein Feuer ausgebrochen wäre, nicht auszumalen.“ Mit einer Hand hält sich die dürre Frau, die Jalma oft an ein Erdmännchen erinnert, ihren Kopf, die andere hält symbolisch die Nase zu. „Wilma, jetzt mach mal einen Punkt, lass diesen Gott aus dem Gespräch heraus und mach dich locker. Wenn es in meinem Büro anfängt zu brennen, ist es doch egal, ob mein Rauchmelder funktioniert, bis sich die Flammen durch die Tür gefressen haben, hätte es entweder einer gemerkt oder der Rauchmelder im Flur wäre angegangen, aber jetzt genug von diesen Banalitäten, lies das!“ Noch genervter als zuvor dreht sie den Computerbildschirm in die Richtung ihrer immer noch japsenden Kollegin und steht auf, um ihr ihren Platz anzubieten. Verdutzt über die viel zu entspannte Antwort ihrer Chefin setzt sie sich auf den unter ihr viel zu breit wirkenden Lederstuhl und setzt, nicht ohne Jalma noch einmal einen ernsten Blick zu schenken, die Brille auf. Bevor sie sich interessiert zum Bildschirm hinüberbeugt, versucht sie noch einmal an Jalmas Vernunft zu appellieren. „Ich verstehe eh nicht, warum du so viel Geld für diese Totmacher ausgibst, ich meine, wie viel Geld kostet eine Packung, 40 Euro?“ Jalma rollt angespannt mit den Augen und schiebt den Stuhl näher an den Schreitisch heran. „Es sind 32 Euro, wir sterben eh alle, hast du in letzter Zeit Nachrichten gesehen, die Polkappen sind nahezu weg, es gibt mehr Klimaflüchtlinge, als irgendein Land der Welt versorgen kann, und der Regenwald brennt zum dritten Mal dieses Jahr. Also könntest du mich und meine Nikotinsucht bitte einmal ignorieren und dich dieser, meiner Meinung nach, völlig merkwürdiger Mail, widmen?“ Den verdutzten erdmännchenartigen Blick analysiert Jalma als Ja und deutet mit einem gequälten Lächeln auf den Bildschirm. Die Gehilfin lässt ein eingeschnapptes „Hm“ erklingen und beginnt die Mail zu überfliegen.

Während sie interessiert Zeile für Zeile abfliegt und dabei immer wieder murmelnd mitliest, löst Jalma ihre Hand von der Armlehne und wendet sich zum Fenster. Die heiße brennende Luft, die ihr entgegenschlägt, verursacht ihr sofort Kopfschmerzen, trotzdem greift sie nach dem Fenstersims und lehnt sich in die Hitze des Nachmittages hinaus. Tief saugt sie die Luft in ihre immer noch nikotinisierte Lunge und genießt das Gefühl, wie die Hitze um ihre Nasenflügel brennt. Sie mag dieses Gefühl, es erinnert sie an Zuhause, es erinnert sie an die Zeit, in der sie mit ihrer Schwester nach der Schule an den Strand fuhr, sie sich ihre Kleider vom Leib rissen, um möglichst schnell nach den Surfbrettern zu greifen und in den kühlen Nachmittagswellen zu verschwinden. Die Luft war damals heiß, aber die Kühle der Wellen ließ sie erträglich werden und wenn sie oder ihre Schwester eine Welle bekamen und das Privileg genossen sie bis zum Ende zu reiten, war es das mächtigste Gefühl der Welt. Gerade so mächtig, dass man das Gefühl hatte nichts auf der Welt könnte schlimmer sein, als das Ende dieser Welle zu erreichen. Nachdem sie ihre Arme nicht mehr spürten und ihre Beine von den Riffen aufgeschnitten waren, ließen sie sich in den Sand fallen und lachten so lange über die vielen Male, die sie vom Bord gerutscht waren oder eine Welle sie heruntergespült hatte, bis die Sonne auf das Wasser hinabgesunken war. Dann war die Zeit gekommen sich aufzumachen, nach Hause zu fahren, die Bretter in den Truck zu verladen, sich den Sand vom Körper zu reiben, in die engen Kleider zu schlüpfen und in die Hitze des Wagens zurückzukehren. Genau da war dieses Gefühl, die Luft im Auto war jedes Mal so heiß, dass es an den Nasenflügeln brannte, das machte aber nichts, denn die Hitze wurde durch den Fahrtwind herausgeweht und die kühle, feuchte Luft der hawaiianischen Inseln strömte herein, gerade so, als wollte er den Tag herauswehen, um die Nacht anzukündigen.

Ein Räuspern reißt Jalma aus ihren Erinnerungen und bringt sie in die Gegenwart des Bürokomplexes zurück. Sie richtet ihren müden Blick in die Tiefe der Häuserschlucht und beobachtet kurz die Autos, die sich auf der Straße vorbeischieben, bevor sie in die klimatisierte Luft ihres Büros zurückkehrt und das Fenster hinter ihr schließt. „Also Jalma, auch ich habe diese Mail ein paarmal lesen müssen, um es zu glauben, aber jetzt bin ich mir ganz sicher. Ja, da möchte wirklich einer seinen Arbeitgeber verklagen, weil er von heute auf morgen seinen Job verloren hat.“ Jalma kann die Trockenheit ihrer Gehilfin nicht fassen. „Ja Wilma, das habe ich selbst gelesen, aber der Grund, der Grund ist das, was mich so sprachlos macht, hast du den Grund überhaupt gelesen?“ Mit hochgezogenen Augenbrauen starrt sie ihre Gehilfin an. „Ja, ja natürlich habe ich den gelesen, das macht mich etwas skeptisch, wenn du mich fragst, würde ich das erstmal überprüfen. Ich glaube ich habe noch die Nummer einer Führungskraft von Dukjon, ich werde da gleich mal anrufen.“ Jalma winkt ab. „Nein vergiss es, gib mir die Nummer, um diese Angelegenheit möchte ich mich selbst kümmern.“ Hektisch schiebt sie das verdatterte Erdmännchen zur Seite, das sich gerade noch rechtzeitig erheben kann, um aus dem Raum komplimentiert zu werden. In Jalmas Augen funkelt die Vorfreude auf diesen spannenden Fall, den sie gerade kommen spürt, und sie ruft ihrer Anwaltsgehilfin noch hinterher: „Stell mir das Gespräch dann bitte in die Leitung“, bevor sie die Glastür hinter ihr schließt.

Das Gespräch mit einem Herrn Kron ist für Jalmas ohnehin schon erregtes Gemüt wenig zutunlich. Der Mann am anderen Ende der Leitung scheint unter einem enormen emotionalen Druck zu stehen und es ist sehr schwer seine Erläuterungen zu verstehen, da immer wieder Leute in sein Büro stürmen. Vermutlich ist das in Anbetracht der Tatsache, was da gerade vor sich geht, keine Besonderheit. Marcel Kron, der stellvertretende Geschäftsführer von Dukjon, bestätigt Jalmas schlimmste Vermutungen. Nach einer Viertelstunde angespannten Gesprächs wirkt es, als würde in ihm eine Reißleine bersten und alles, was er noch sagen kann, bevor es in der Leitung piept, ist, dass er dringend mit irgendeinem Paul Barens reden muss und er jetzt leider, so unhöflich das auch wäre, dieses Gespräch beenden müsse. Er entschuldigt sich noch ein paar Mal, dann wird die Verbindung unterbrochen, ob durch Marcel Kron oder eine andere Person, das kann Jalma nur vermuten.

Jalmas Vorfreude, die vor zwanzig Minuten noch ihren ganzen Körper in Vibration versetzt hat, ist verschwunden. Das Einzige, was sie nun bis in die Tiefe ihrer Knochen spüren kann, ist Angst. Angst davor, dass sich alles ändern würde, sie hat schon vor einigen Wochen davon gehört, dass es eine neue Abstimmung geben soll, aber genau wie all die anderen Menschen um sie herum, die morgens einen Kaffee beim Bäcker holen oder im Supermarkt die Lebensmittel auf die Kasse heben, hat auch sie abgewunken und laut über die Banalität einer Weltpartei gelacht. Wie man sich doch irren kann. In Trance landet die zweite Zigarette des Tages in ihrem Mundwinkel. Nachdem sie einige schnappartige Züge genommen hat, springt sie auf, eilt mit der Zigarette im Mund um ihren Schreibtisch, zieht an der schweren Glastür und stolpert in den Vorraum ihres Büros. Die Anwaltsgehilfin lugt verdattert über ihren Computerbildschirm und reißt schockiert die Augen auf. Jalma ignoriert die empörten Rufe und eilt durch die zweite Glastür. Ihr Partner, der mit dem Hörer am Ohr zum Fenster gerichtet steht, schnellt herum und sieht verwundert auf die schnell atmende Jalma. Für einen Moment glaubt sie zu hören, wie am anderen Ende der Leitung jemand Hindi spricht, verwirft den Gedanken jedoch wieder. Entsetzt über die Respektlosigkeit des unaufgeforderten Eindringens bedeutet er ihr mit hektischen Bewegungen seiner freien Hand den Raum umgehend wieder zu verlassen. Jalma, die ihm nur einen rebellischen Blick entgegnet, nimmt ihre Zigarette aus dem Mundwinkel, fixiert ihren Partner mit den Augen und drückt seinen Anruf auf dem Gerät weg. Noch bevor der Mann seiner Wut Luft machen kann, kommt Jalma dem mit aufgeblasenen Wangen hochrot werdenden Mann zuvor. „Sie haben den ersten Absatz veröffentlicht, es scheint, als hätte sich die Weltpartei wirklich gebildet und du und ich wissen beide, dass da mehr als nur ein Absatz auf uns zukommt.“ Der Mann entlässt die Luft aus seinen Wangen und starrt konsterniert in Jalmas braune Augen. Dann beugt er sich über den großen Schreibtisch, nimmt ihr die Zigarette aus der Hand, lässt sich rückwärts in den klobigen Schreibtischstuhl fallen, lockert die Krawatte seines Maßanzuges und inhaliert den Rauch. Lange hält er den Rauch in seinen Lungen und stößt ihn erst nach einiger Zeit über den Schreibtisch hinweg. Starr und ohne eine Regung sieht er dem in Schleiern durch den Raum wabernden Rauch hinterher. Jalma wagt es nicht sich von der Stelle zu bewegen, angespannt beobachtet sie ihren sonst so gefassten Kollegen. Herr Kaiser, der das wohl als Aufforderung versteht, erhebt sich aus dem knarzenden Stuhl, zieht seine Krawatte wieder an seinen Platz, fährt sich durch die gegelten Haare und räuspert sich noch, bevor er sein Wort erhebt. „Jalma, ich danke dir sehr für diese Information, aber ich weiß nicht, was ich deiner Meinung nach jetzt damit anfangen soll.“ Mit dieser Reaktion hat Jalma nicht gerechnet. „Herrgott Nikolas, das ist deine Antwort? Wach auf und komm auf den Boden der Tatsachen zurück, wir wissen beide, dass der erste Absatz nur der Anfang ist, denk doch mal an den zweiten Absatz oder noch schlimmer den dritten oder vierten, wenn das alles so in Kraft tritt, wie es geplant wurde, ist das das Ende unser modernen Welt, vielleicht sogar das Ende dieser Epoche.“ Einen Moment sieht es so aus, als würde Jalmas Partner einen Neustart in seinem Gehirn vornehmen. „Jalma, dass eines mal klar ist, dass wir den § 4253 bereits lesen durften, ist ein Privileg gewesen, dass wir im jetzigen Augenblick wohl eher als ein Geheimnis handhaben sollten. Nicht vorstellbar, wenn die Bevölkerung zu früh davon erfährt. Im Augenblick sollten wir erst einmal die Füße stillhalten und in Erfahrung bringen, ob das hier nicht alles ein riesiges Missverständnis ist. Ich werde versuchen den Bundespräsidenten zu erreichen oder den Kanzler, ich denke ich habe hier noch irgendwo die Nummern. Entweder du wartest hier oder du gehst dich irgendwo einmal abregen; wenn du dich für hier entscheidest, bitte ich dich aber den Mund zu halten.“ Mit diesen Worten nimmt der attraktive Mann den Hörer vom Schreibtisch, tippt einige Zahlen hinein und hält sich den Finger vor den Mund, um Jalma noch einmal Ruhe zu gebieten. Während er mit einer Sekretärin nach der anderen redet, spürt Jalma ihre Knie, die allmählich unter ihrem Gewicht zusammenbrechen wollen. Mit einem tiefen, aber leisen Seufzer lässt sie sich auf das harte Sofa vor dem Bücherregal fallen und schließt die müden Augen. Für einen Moment versucht sie sich vorzustellen immer noch bei ihrer ersten Zigarette im Büro zu sitzen, dass sie eingeschlafen sein muss und dass alles nur ein kurzer, aber sehr realistischer Albtraum ist.

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