Loe raamatut: «§4253», lehekülg 8

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11. High York, USA

Philippe beißt sich auf die Unterlippe, immer wieder geht er in seinem Kopf die Möglichkeiten durch, wie er seinen Kollegen die Lage erklären kann. Er ärgert sich über den Captain, der ihm diese lästige Aufgabe überlässt. Nun bereut er es fast, die Ordner, die ihm sein Chef überreicht hat, nicht doch vorher bearbeitet zu haben. Langsam schleicht er neben seinen Kollegen her. Der Gang ist eng und so früh am Morgen immer noch in einem leichten Dämmerlicht gefangen. Ab und zu kommt er an einem der kleinen Fenster vorbei und erhascht einen kurzen, aber doch intensiven Blick auf die hinter einem Hochhaus hochkletternde Sonne. Lange richtet er seine Augen in die Morgenröte, bevor die nächste Wand das Licht verbirgt und ihm die Sonne nur noch in Erinnerung als bunte Punkte über die Netzhaut tanzt. Obwohl der Gang, umso weiter sie dem Großraumbüro kommen, immer enger wird und das Gewicht auf Philippes Brust immer schwerer, verlangsamt sich sein Schritt weiter. Dieses Mal gewinnt tatsächlich das ungute Gefühl, über das, was er gleich sagen wird, über die Angst von den auf ihn zukommenden Wänden, zerquetscht zu werden.

Dorian, der neben Philippe durch den schummrigen Gang stapft, immer einen Schritt hinter ihm, aus respektvoller Angst sich ein zweites Mal an diesem Tag seinen heiligen Zorn zu verdienen, mustert seinen Freund von hinten. Irgendetwas an Philippes Art hat sich heute geändert, nicht nur, dass er heute nicht immer schneller wird, umso weiter sie in den engen Gang vordringen, sondern sich immer weiter zurückfallen lässt, beunruhigt ihn, es sind nicht das ständige Ziehen an der Unterlippe und das aggressive Verhalten vorhin in seinem Büro, es ist das fortwährende Murmeln von Worten, das Dorians Haare zwingt sich wie Antennen aufzustellen. Er hört Philippe seine Muttersprache nicht oft sprechen, die meiste Zeit, die er ihn kennt, hat Philippe immer in Englisch gesprochen und obwohl der französische Akzent schwer zu verbergen ist, spricht er es fließend und ohne einen einzigen Fehler. Selbst wenn sie in Gefahrensituationen gekommen sind und Philippe und er mit gezogener Waffe hinter einer aufgeklappten Autotür Schutz suchten, sprach er fließendes, einwandfreies Englisch. Aber jetzt murmelt sein Partner in einem Gemisch aus perfektem Französisch und gebrochenem Englisch vor sich hin und Dorian, der zwanghaft versucht den Worten zu lauschen, versteht kein Wort aus dem Mund seines Freundes. Philippe ist sehr schwer aus der Ruhe zu bringen und hätte man Dorian gefragt, was seine Schwäche sei, würde er vermutlich verneinen und sagen, dass dieser Mann keine Schwäche besitzt, obwohl er es besser weiß; obwohl er weiß, dass Philippe panische Angst vor geschlossenen Räumen und engen Gängen hat, würde er sagen nein, diesen Mann bringt nichts aus der Ruhe. Doch ausgerechnet heute bricht Philippe alle Annahmen, die Dorian über ihn gesammelt hat, er ist gereizt und unkonzentriert, wie er da durch den schummrigen Gang schleicht. Mit geballten Fäusten nimmt der rothaarige Mann seinen Mut zusammen und packt den immer noch englisch-französisch murmelnden Mann vorsichtig an der Schulter.

Komplett aus seinen Gedanken gerissen spürt Philippe die Hand, die von hinten auf seiner Schulter platziert wird, und fährt erschrocken herum. „Alles gut bei dir?“, spricht ihn der rothaarige Mann leise und sehr respektvoll an. „Ja, natürlich ist alles gut, was sollte nicht gut sein Dorian?“ Den Worten Sicherheit verleihend mustert er die Reaktion seines Partners. „Ich weiß nicht, ich dachte nur weil …, weil ...“, druckst Dorian nach den richtigen Worten suchend weiter. „Du dachtest was?“ Ein Ausdruck von Spott schwingt in den Worten des Lieutenants wieder und Dorian bereut bereits ihn angesprochen zu haben. Der Situation jetzt aber heillos ausgeliefert kratzt er sich nervös an der hochgezogenen Augenbraue, schaut verunsichert zu Boden und presst die Worte heraus, die sich aus Angst vor Veröffentlichung an seinen Kehlkopf krallen. „Du wirkst etwas unsicher. Philippe, mag ja sein, dass nichts los ist, aber ich kenne dich einfach schon zu lange, um dir das zu glauben, es tut mir leid, wenn dir das heute respektlos erscheint, aber ich sorge mich eben um meinen Partner.“ Anscheinend zufrieden mit seinen Worten nimmt Dorian einen festeren Stand an und zeigt etwas mehr von seinem Selbstbewusstsein. „Es tut mir leid, wenn ich hart war Dorian, mir wurde nur heute Morgen eine Last zuteil, die ich noch zu tragen üben muss.“ Philippe räuspert sich, sieht sich verstohlen um und schmunzelt. „Ohne dir jetzt zu nahe treten zu wollen oder es als Ausrede zu benutzen, würde es dich stören unser Gespräch später fortzusetzen, es scheint mir hier doch etwas eng zu werden.“ Immer noch mit einem verschmitzten Lächeln tippt Philippe Dorian auf die Schulter und beschleunigt, um den Gang jetzt doch sehr eilig zu verlassen. Dorian, der perplex über die doch schnelle Rückverwandlung seines Freundes im Gang steht, zuckt nur mit den Schultern und folgt ihm in das wuselige Großraumbüro, in das Philippe gerade seinen Fuß gesetzt hat. Während Dorian diesen Raum abgrundtief hasst und mit dem ständigen Surren und Piepen der Drucker, dem Diskutieren und Schreien von Verdächtigen und Kollegen, dem ständigen Zug durch ein offenes Fenster oder dem Flackern von rauf- und herunterfahrenden Bildschirmen überhaupt nicht klarkommt, ist es für Philippe das reinste Paradies. Der große offene Raum bietet ihm die Luft, die seine Lunge zum Atmen braucht, die belebte Umgebung erinnert ihn an die Zeit, in der er selbst noch ein unerfahrener Officer war, und selbst als er zum Detektive aufstieg, mochte er den Geruch der Druckerpatronen und er genoss auch damals schon die Tatsache, dass es hier immer etwas zu sehen gibt. Er bereut nicht die Stelle des Lieutenants angenommen zu haben, ganz im Gegenteil, er mag die Verantwortung, die ihm zuteil geworden ist, aber es gibt eben auch Dinge, die er vermisst und die ihm manchmal wie ein harter Preis vorkommen. Er verachtet dieses winzige Büro, um das alle immer so schrecklich respektvoll herumhuschen, und er wünscht sich manchmal die Zeit zurück, in der er einfach unauffällig in einen Raum wischen konnte, um sich einen Kaffee einzugießen, ohne dass er jemandem groß aufgefallen wäre. Heute hören die Leute auf zu reden, brechen ihre Gespräche ab, nehmen verstohlen Haltung an und prosten ihm nur wohlwollend mit ihren Tassen zu. Sie tun es eben genauso, wie Philippe es getan hat, als damals sein Lieutenant den Raum betreten hat, und sie tun es genauso, wie er es heute noch tut, wenn der Captain in das winzige Büro schleicht. Genauso ist es auch an diesem frühen Morgen, während zuvor noch wüstes Treiben den großen Raum erfüllt hat und die vielen Streifenpolizisten und Detektives wild durcheinander wuselten, scheint mit dem Betreten von Philippes Fuß über die Schwelle eine Ruhe über das Büro zu fallen. Die meisten richten ihre Aufmerksamkeit für einen Moment von ihrer Tätigkeit ab, um sie dem Mann zu schenken, der das Büro betreten hat.

Für einen Moment stutzt Philippe und seine Füße bewegen sich nicht über die Schwelle hinweg, denn obwohl es so früh morgens ist, platzt der Raum an diesem Tag fast vor Kollegen. Erst als Dorian sich an seinem Lieutenant vorbeischiebt, um hinter einer der Stellwände an seinem Schreibtisch Platz zu nehmen, bricht Philippes Erstaunen und er erinnert sich, warum er hergekommen ist. Dorian ist froh wieder an seinem Schreibtisch zu sitzen, er hält es heute für unklug zu nah um Philippe herum zu sein und auf keinen Fall will er neben ihm stehen und versehentlich in die Schussbahn seiner Kollegen geraten. Das ist eine Bürde, die Philippe heute allein schultern muss und das weiß er auch.

„Kann ich für einen Moment Ihre Aufmerksamkeit haben?“, beginnt Philippe den Vortrag, den er sich in seinem Kopf endlich zurechtgelegt hat. Es dauert einen Moment, bis auch der Letzte begriffen hat, dass er nun den Mund halten und aufhören sollte Akten zu kopieren, und erst als alle Augen gespannt auf den Mann an der Tür gerichtet sind, beginnt der mit seinen Ausführungen. „Schön, da ich jetzt Ihre ungeteilte Aufmerksamkeit genieße, werde ich Ihnen sagen, warum Sie heute in aller Herrgottsfrühe aus den Betten geklingelt wurden, um auf dem Department zu erscheinen. Es ist Ihnen bestimmt nicht entgangen, dass die Funksprüche sich heute Morgen überschlagen und dass Sie mit Ihrer Arbeit kaum hinterherkommen. Vielleicht haben einige von Ihnen auch bereits Gerüchte über Social Media oder andere Netzwerke erhalten und reimen sich Ihren Teil zusammen. Ich muss Sie leider enttäuschen, wenn ich Ihnen sage, ich werde keines dieser Gerüchte bestätigen und ich kann Ihnen zu diesem frühen Zeitpunkt auch noch nichts über die bisherige Lage verraten. Es mag sein, dass unsere Politik lügt und Dinge verschweigt, ich werde das aber nicht tun. Ich kann Ihnen, wie gesagt, bedauerlicherweise nicht sagen, was es mit diesen Gerüchten auf sich hat, wo sie herkommen oder welche wahr sind. Was ich Ihnen zu diesem Zeitpunkt aber sagen kann, ist, dass es um § 4253 geht, von dem Sie mit Gewissheit, in den letzten paar Monaten, schon etliche Male in den Nachrichten gehört haben, auch der erste Absatz dürfte den meisten mittlerweile ja gut bekannt sein. Dieser erste Absatz ist nun veröffentlicht worden, damit wird der § 4253 nun in Kraft treten. Welche Absätze er noch bringen wird, ist zu diesem Zeitpunkt noch unklar, bleiben wir also bitte erstmal ruhig und warten ab, was da noch auf uns zukommt.“ Ein entsetztes Raunen durchdringt die Ruhe, die den Raum zuvor befallen hat, und löst Murren in den Reihen aus. Einige der Frauen und Männer rufen Fragen in den Raum: „Warum hat uns das keiner gesagt?“ „Was genau besagt der erste Absatz?“ „Ist es der einzige, der veröffentlicht wurde, und welche werden folgen?“ „Ist unsere Regierung gestürzt worden?“ oder „Warum weiß die Bevölkerung vor uns davon?“. Für einen Augenblick lauscht Philippe in das Tosen hinein, dann aber hebt er seine Hand und schlagartig verstummt das Stimmengewirr wieder. „Wie gesagt, ich kann Ihnen leider keine Ihrer Fragen beantworten, Sie müssen mir heute einfach vertrauen und ungefragt die Befehle befolgen, die ich Ihnen heute geben muss. Da draußen sind Menschen, denen es genauso geht wie Ihnen, sie haben auch Fragen und wissen nicht, was richtig ist oder an was sie noch glauben dürfen, manchen geht es vermutlich schlechter als Ihnen, weil sie ihren Job oder ihre gesamte Existenz verloren haben. Die Menschen da draußen haben Angst, sie sind verunsichert und fühlen sich von ihrer Politik hintergangen und wir wissen alle, dass Angst und Ungewissheit seltsame Sachen in Menschen auslösen können.“ Ein bestätigendes Nicken durchzuckt den Raum, einer der Männer, ein bulliger Mann mit einem breiten Stiernacken und mit so aggressiven Zügen, dass Philippe in Panik ausgebrochen wäre, wenn er nicht wüsste, wie sanft und freundlich dieser Officer in Wahrheit ist, fragt: „Aber Lieutenant, was sollen wir denn da draußen machen, die drehen alle komplett durch?“ Durch den Einwurf gelähmt, bleibt Philippe für einen kurzen Augenblick ruhig und hält seine Aufmerksamkeit eisern auf den schrankgroßen Mann gerichtet, leicht spöttisch zieht er dann seine Augenbraue in die Höhe, zuckt kaum merklich mit den Achseln und erwidert mit einer Mischung aus französischer Gleichgültigkeit und amerikanischem Ernst: „Na ja, ich würde vorschlagen Ihren Job, das sollte für heute einen guten Ansatz darstellen.“ Einige der Detektives lachen, halten aber erschrocken inne, als sie dem misstrauischen Blick ihres Lieutenants ausgeliefert sind. Der Mann mit Stiernacken nickt peinlich berührt und tritt zurück in die Reihe seiner Kollegen. „Ich möchte, dass Sie heute alle den Streifenpolizisten helfen und sich bitte nicht zu fein fühlen auch als Detektive mit anzupacken, da draußen finden Plünderungen und Schlägereien statt, die geklärt werden müssen. Ich möchte, dass Sie nur in Zweier-Teams vorgehen und niemand einen Alleingang macht. Berichte dürfen Sie mir unaufgefordert auch morgen einreichen. Konzentrieren Sie sich heute mehr auf den Außeneinsatz und kommen Sie bitte heute Abend alle heil wieder zurück und bevor Sie gehen, möchte ich Sie noch einmal daran erinnern, wir tragen unsere Waffen zu unserem eigenen Schutz und nicht, um ein Leben frühzeitig zu beenden.“ Und mit einem Blick auf Dorian fügt er noch hinzu: „Auch ich gehe heute in den Außeneinsatz, Mr. Carter Sie kommen mit mir, bei Fragen wenden Sie sich an den Captain, an mich oder an die Leitstelle.“

Mit schnellen Schritten fliegt Philippe durch das enge Treppenhaus zurück in die Tiefgarage, die er heute Morgen so eilig verlassen hat. Mittlerweile ist es 07:40 a.m., normalerweise ist das die Uhrzeit, zu der er mit seinem Auto durch den dichten Verkehr zur Arbeit fließt, aber heute ist ein anderer Tag und er fängt gerade an so richtig scheiße zu werden, beschließt Philippe, während er die Tür zur Tiefgarage durchquert. Schon einmal ein paar stickige Atemzüge aufsaugend, wartet er auf Dorian, der das Treppenhaus, unverständlicherweise, wie ein normaler Mensch durchquert und so immer ein wenig später als Philippe durch die graue Tür rauscht. Gemeinsam gehen die beiden an Philippes altem Jeep vorbei zu einem der schwarz lackierten Wagen am Ende der Halle. Dorian, der den Autoschlüssel neben einem Becher Coffee to go in den Händen hält, drückt auf den kleinen Knopf, der dem Auto die Öffnung befiehlt. Zum Erstaunen der beiden Männer blinkt nicht der Wagen auf, der vor den beiden steht, sondern ein mit Polizeifolie foliierter, handelsüblicher Streifenwagen. Während sich beide Männer verwirrt anschauen, kommen ihnen zwei Frauen entgegen, die verschmitzt lachend einen Autoschlüssel schwenken. „Sucht ihr den hier?“, spricht sie die kleinere der beiden Frauen mit einem breiten und triumphierenden Lächeln auf den Lippen an. Genervt reißt Philippe Dorian den Autoschlüssel aus der Hand und betrachtet das Schild mit der Aufschrift „Streifenwagen“, das als Anhänger an ihm herunterbaumelt. „Ja, ganz richtig“, spricht die braunhaarige Frau gehässig weiter, „wir haben den letzten Zivilwagen erwischt.“ Nun wieder die kleinere Frau: „Tut uns wirklich leid Lieutenant, aber wer zuerst kommt und so.“ Dann steigen die beiden laut lachend in den schönen schwarzen Wagen und brausen über die Rampe aus der Tiefgarage an den beiden verdattert dreinblickenden Männern vorbei. Philippes Anspannung ist in der ganzen Halle spürbar, mit gekräuselten Lippen holt er aus und verpasst Dorian einen Schlag auf den Hinterkopf, danach nimmt er seinem verdutzten Partner den Kaffee aus der Hand, nimmt einen tiefen Schluck und begibt sich wortlos in den Streifenwagen. Dorian, der wenig später neben ihm auf den Beifahrersitz fällt, grinst unsicher und schuldbewusst, aber Philippes Miene ist zu seinem Erstaunen weniger gereizt als mehr amüsiert. Dorian steckt Philippes Lachen an und ohne dass einer der beiden so richtig weiß warum, sitzen sie in einem High Yorker Streifenwagen und lachen.

Bevor Philippe die Kupplung kommen lässt und dem Wagen den Start befiehlt, trinkt er den letzten Schluck aus dem ehemalig Dorian gehörenden Kaffee, zieht sich seine Atemmaske über und rollt aus der Parklücke. Etwas traurig sieht Dorian dem Kaffee hinterher und will gerade die Frage nach einem neuen stellen, als Philippe ihm zuvorkommt und die umgestellte Frage kopfschüttelnd abwehrt, bevor sie seine Lippe verlassen kann: „Nein. Nein Dorian, kannst du nicht.“ Stöhnend zieht auch Dorian sich die Atemmaske über und der Wagen beschleunigt die Rampe nach oben, um das Department zu verlassen. Durch die offenen Fenster dringt der abgasverpestete, heiße Fahrtwind in den Innenraum und sofort steht beiden Männern der Schweiß auf der Stirn.

Dorian respektiert Philippe sehr, für ihn ist es eine Selbstverständlichkeit Philippe die Angst vor geschlossenen Räumen zu nehmen und die ekelige, heiße und gelbe Luft der Stadt zu ertragen. Für Philippe hingegen ist es keine Selbstverständlichkeit, dass ein Mensch, auch wenn es ein Freund ist, für einen anderen seine Gesundheit aufs Spiel setzt, und in die verpestete Luft zu atmen. Philippe weiß, dass Dorian es nicht macht, um ihm in irgendeiner Art zu schmeicheln oder sich gut mit ihm zu stellen, er macht es tatsächlich aus einer Art Verständnis zu den Dingen, die Philippe durchleben musste. Dorian ist immer da gewesen, seit Philippe bei der Polizei angefangen hat. Er lernte ihn am ersten Tag der Polizeiakademie kennen. Sie saßen bei der großen Eröffnungszeremonie nebeneinander auf den unbequemen Klappstühlen und weil Philippe seinen Hut auf irgendeine Art und Weise verloren hatte, zog auch der damals noch sehr junge Dorian seine Mütze vom Kopf und sie kassierten gemeinsam die Schelte ihres Ausbilders, über die Unfähigkeit, auf ihre Uniformen acht zu geben. Damals konnte sich Philippe nicht erklären, warum ein völlig Fremder so etwas tun sollte, wie konnte er auch wissen, dass Dorian zuvor gesehen hatte, wie Philippe von ein paar anderen Trainees zusammengeschlagen worden war und sie hämisch und brutal lachend seine Mütze mitnahmen und den aus ihren Augen wertlosen französischen Flüchtling auf dem Boden der Umkleide zurückließen. Dorian hatte sich damals für seine eigenen Landsleute so geschämt, dass er versuchte es mit dieser Geste wiedergutzumachen und Philippe so beweisen wollte, dass nicht alle Amerikaner solche Arschlöcher sind.

Aus dieser simplen Geste wuchs in den folgenden Jahren eine Freundschaft, die Dorian zwar nicht angestrebt, aber doch genießen lernte. Selbst als Dorian aus der Akademie flog und Philippe alleine seine Marke überreicht bekam, brach ihre Freundschaft nicht, eher das Gegenteil sollte der Fall werden und ohne dass Dorian es verhindern konnte, revanchierte sich der junge Franzose und half dem durch seine Hilfe immer besser werdenden Dorian erneut durch die Akademie. Ein Jahr später war es dann Dorian, der alleine seine Marke abholte und es war Philippe, der neben Dorians Mutter aus der Zuschauerreihe zu ihm hochjubelte. In den folgenden Jahren kämpften sich die beiden immer weiter die Karriereleiter nach oben und erst Philippe, dann Dorian wurden zu Detektives befördert. Erst als sie sich schon einige Jahre kannten und Philippe endlich sein Wahlrecht erhielt, begann er sich Dorian zu öffnen. Er erzählte ihm von Frankreich, von der furchtbaren aussichtslosen Lage, den hoffnungslosen Versuchen der französischen Regierung der Lage entgegenzutreten und irgendwann auch von der entsetzlichen und unmenschlichen Flucht, die der damals fünfzehnjährige Junge auf sich nahm, um in ein, aus seiner Sicht, besseres Leben zu kommen. Er zwängte sich neben einigen Dutzend anderen französischen Klima­flüchtlingen in einen Schiffscontainer, der von amerikanischen Schleusern von Frankreich nach Baltimore, in den US-Bundesstaat Maryland verschifft werden sollte. Es musste für den Jungen damals wie die einzige Möglichkeit erschienen sein, ein gutes Leben führen zu können. Philippe erzählte Dorian von dem Gefühl, als die dicken Containertüren hinter ihnen geschlossen wurden, und von der Dunkelheit, die sich über die dicht an dicht gedrängten Männer, Kinder und Frauen legte. Er erzählte ihm von dem Ruckeln und Schlagen, als der Container auf das Schiff verladen wurde, wie Bauklötze purzelten die Menschen übereinander und schlugen sich Arme und Beine, Köpfe und Schultern an den rauen Containerwänden auf. Immer wieder berichtete er Dorian von der beklemmenden Enge, von der stickigen heißen Luft, bis hin zu solcher Kälte, dass er seine Beine nicht spüren konnte.

Manchmal hielt er in seinen Berichten inne und ein Schauder lief ihm durchs Gesicht. Dorian stellte sich die Berichte so realistisch wie möglich vor, er meinte zu hören, wie der Wind des offenen Ozeans an dem Container riss, er hörte das donnernde Tosen der Wellen, die gegen Bug und Container schlugen, und er spürte die Kälte, die in seine Knochen fuhr, jedes Mal, wenn Philippe weitererzählte. Manchmal dachte Dorian, dass Philippes Ausführungen nicht schlimmer werden könnten, aber dann kam etwas, was Dorian sich nicht einmal vorstellen wollte.

Durch das unruhige Meer waren die Wasserflaschen ausgelaufen und die übrig gebliebenen Flaschen wurden an Alte und Kinder vergeben. Philippe erzählte, wie seine Zunge von Stunde zu Stunde, von Tag zu Tag pelziger wurde, wie ihm das Schlucken und Atmen immer schwerer fiel und seine Wahrnehmung durch den Durst getrübt wurde. Am vierten Tag waren alle Wasserreserven verbraucht und Philippe redete sich immer wieder ein, dass sie bestimmt bald da wären, dass es bestimmt nicht mehr so lange dauern konnte, ganz sicher würde er bald den Hafen sehen und Wasser aus Eimern trinken. Durch den dichten Sturm, den das Schiff zu diesem Zeitpunkt durchlaufen hatte, verspätete sich aber die Ankunft und am Abend, als die Sonne über den Meeresspiegel kippte, war es nicht das Jubeln von Menschen, das er hören konnte, sondern das Schreien einer Frau, das durch den muffigen Container schallte. In ihren dünnen Armen hielt sie den kleinen Säugling, immer wieder presste sie ihn an ihre Brust und schrie zu einem Gott, der in dem engen Container keinen Platz gefunden hatte, immer wieder pustete sie dem mittlerweile blau angelaufenen Baby in den Mund, klopfte ihm auf den Rücken, aber sein Schreien würde sie nie wieder hören können. Am Morgen des fünften Tages wickelten zwei Männer die winzige Gestalt in eine Decke und eine der Frauen, die neben Philippe saß, legte eine Kette um das menschliche Knäuel, die ihn auf der Reise begleiten sollte. Eine Reise, die der Säugling nun alleine antreten musste, die Reise, die wir alle einmal alleine meistern müssen. An diesem Tag, kurz bevor die Sonne unterging, in der Zeit, in der sie die Welt in ein romantisches Rot und ein kämpferisches Orange tauchte, lief das Schiff mit einer Verspätung von einem Tag in Baltimore ein. In dem Container wurde es unruhig und vielen der Geflüchteten fiel es schwer unter der Aufregung und Angst still zu bleiben. Im Container roch es nach Erbrochenem, Schweiß, Urin und Kot, aber das fiel keinem mehr auf, als eines der kleinen Mädchen, die durch einen Spalt nach draußen lugte, rief: „Le port, le port! On là fait!“ Zu Dorians Entsetzen war das nicht das Ende der Geschichte gewesen und Philippe hatte ihn gefragt, ob er wirklich hören wollte, wie es weiterging, und Dorian hatte immer wieder schwer geatmet und ihm erwidert: „Ja Philippe, ich werde mir das anhören, ich will meine Augen und Ohren nicht vor der Wahrheit verschließen.“ Und Philippe hatte weitergeredet, manchmal liefen ihm Tränen die Wangen herunter, keine davon fing er auf, so, als wollte er nicht berühren, was seiner Vergangenheit angehörte.

Aufgrund der ungeplanten Verspätung, mit der das Containerschiff im Hafen von Baltimore einlief, hatten die Schleuser den falschen Container von einem falschen Schiff geladen. Verwirrt und verwundert über die Kisten voll T-Shirts, versuchten sie zwar den richtigen Container wiederzufinden, da der aber unter einem anderen Namen geführt wurde, als sie annahmen und sie das Geld der Flüchtlinge ja bereits kassiert hatten, ließen sie die halbherzige Suche bald sein. Der Container, der Philippe und die anderen von Frankreich hierher zu einem Lastwagen bringen sollte, blieb verschlossen. Aus Angst sich bemerkbar zu machen und damit eventuell die falschen Amerikaner auf den Plan zu bringen, schwieg die menschliche Fracht und als sie bemerkten, dass kein Lkw kommen würde, dass keiner kam, um sie aus dem engen Container zu befreien, war es bereits zu spät. Philippe berichtete von der Panik, die in den hungrigen, durstigen und nach frischer Luft bettelnden Menschen ausbrach. Sie schlugen gegen die Containerwände, bis ihre Hände blutig wurden, sie schrien, bis ihre Kehlen heiser waren, und sie weinten, bis ihre Augen verquollen. Philippe hatte nur dagesessen, sich nicht bewegt, flach geatmet und sich immer wieder gefragt, ob Sterben weh tat, ob es eine Erlösung oder eine Qual sein würde. Er kratzte an der Wand des Containers, immer wieder, nicht um sie zu durchdringen, aber vielleicht um etwas zurücklassen zu können, ein Zeichen, für die, die ihn finden würden, damit sie sehen könnten, dass er hier war und gekämpft hatte. Ein Tag später starb die Frau, die neben Philippe gesessen hatte, eine ganze Weile hatte sie sich an ihn gelehnt, ihre alten runzligen Hände um Philippes gelegt und mit ihm gesungen, ihm gesagt, dass alles gut werden würde, wenn man nur ganz fest die Augen schließt und daran glaubt. Philippe hatte ihr nicht geglaubt, ihren Anforderungen aber Folge geleistet, damit wenigstens sie sich gut fühlen würde, damit sie weiter daran glauben konnte. Nach ein paar Stunden wollte Philippe dann aufstehen, um seine schmerzenden Gelenke zu strecken, er hatte an ihr gerüttelt und sie angeschrien, aber die Frau reagierte nicht mehr.

Dorian weinte, er weinte, wie er es nie getan hatte, wenn er schlimme Dinge in den Nachrichten hörte, aber das war etwas anderes, es war plötzlich persönlich geworden, jetzt, wo er Philippe vor sich sitzen hatte, wo er nicht umschalten konnte und einfach einen anderen Sender sah, jetzt war es wahr und real geworden und es berührte seine Menschlichkeit, wie ihn noch nichts berührt hatte.

Die Frau neben Philippe blieb nicht die Einzige. In der folgenden Nacht starben Menschen um Philippe herum, die eine Stunde zuvor noch gesund und ansprechbar gewesen waren, sie kippten plötzlich zur Seite oder schliefen ein, ohne je wieder aufzuwachen, und als Philippe dachte, jetzt, ja jetzt, war die Zeit gekommen, wo er auch gehen durfte, wo er die letzte Reise auch antreten durfte, als er glaubte der Durst würde nicht schlimmer, die Luft nicht stickiger und die Lage nicht aussichtsloser werden, öffneten sich die Türen des Containers und ein grelles Licht durchflutete den engen Raum. Einige hielten sich die Hände vor die Augen, es schien, als würde das Licht Schmerzen in ihnen verursachen. Ein wenig später blitzten rote und blaue Lichter durch den Container, fremde Menschen packten Philippe an Armen und Beinen, zogen ihn vom Boden und trugen ihn aus dem Container in die Freiheit. Ein Stechen in seinem Arm, Menschen, die in einer fremden Sprache auf ihn einredeten, die an ihm rüttelten und ihm Fragen stellten, die Philippe nicht zu beantworten wusste. Immer wieder versuchte er an Wasser zu kommen, aber keiner der Menschen um ihn herum schien ihn zu verstehen, einmal griff er nach einer Wasserflasche, die neben ihm auf den Boden gefallen war, aber als er sie gerade ansetzen wollte, riss ihm einer der weißen Gestalten die Flasche aus dem Mund, deutete auf einen Beutel über seiner Schulter und schüttelte immer wieder den Kopf. Aus lauter Verzweiflung, Todesangst und Unverständnis riss er mit aller Kraft, die er in sich finden konnte, dem weiß gekleideten Mann die Flasche aus der Hand, setzte sie an die Lippen und schüttete das kühle Nass nur so in sich hinein. Die Freude über die gewonnene Energie und die Rückgewinnung seiner Zunge war aber nur von kurzer Dauer, sein Magen krampfte unter der plötzlichen Wasserplage und Philippe übergab sich mehrere Male auf den rauen Asphalt, bevor er in eine Dunkelheit fiel, die so schwarz und leer war, wie kein Mensch der Welt es erleben konnte.

Nachdem Philippe seine Ausführungen beendet hatte, lagen sich beide Männer in den Armen. Noch am selben Tag fuhr Dorian in die Wache und suchte die Akte über jenen unverheißungsvollen Tag heraus, an dem der Container geöffnet wurde. Er starrte auf die Bilder der dicht an dicht gestapelten Menschen, auf ihre toten Augen, in denen keine Hoffnung lag, auf die Enge und auf die Zahlen, die auf der letzten Seite standen. Auf die Namen derer, die ihre Flucht in die Freiheit mit dem Leben bezahlen mussten, und auf die Namen derer, die mit diesen schrecklichen Bildern in ihren Köpfen weiterleben mussten. Obwohl die Schleuser gefasst worden waren, obwohl er wusste, dass Philippe nun das Leben führen konnte, das er führen wollte, fühlte er sich schuldig dafür, wie schlecht diese Menschen behandelt worden waren. Manche wurden sogar zurückgeschickt, zurück in ein Land, das kein Essen mehr hat, keine Anbauflächen, das meilenweit von Wasser bedeckt war und das jedes Jahr weniger Platz bot für seine Bevölkerung. In ein Land, in dem große Teile radioaktiv verseucht waren, und in ein Land, das viel zu spät etwas gegen die drohenden Überflutungen getan hatte. Immer wieder versuchten die Vereinten Nationen Frankreich dazu zu bewegen ihre Wälle zu vergrößern, ihre Atomkraft abzubauen und sich bereit zu machen für einen steigenden Wasserpegel und immer wieder hatten sie verneint und alle Hilfe abgelehnt auf Kosten der Menschen, die sich auf ihre Politik verlassen hatten.

Der Streifenwagen gleitet durch den dichten Verkehr, der zwischen den meterhohen Häuserwänden vorbeirollt. Die Luft wird immer stickiger und heißer, umso weiter die Sonne in den Himmel ragt, und die Autofahrer immer aggressiver. Sie hupen und drängeln, sie schreien hinter ihren Fenstern verborgen und schlagen genervt gegen Lenkräder und Armaturenbretter. Nur wenn der weiß- blaue Streifenwagen an ihnen vorbeikommt, machen sie Platz, halten mehr Abstand und verstummen mit aufgerissenen Mündern, glätten ihre geballten Fäuste. Philippe nervt das, dieses „Alibi-Gekusche“, wenn sie die Aufkleber und Aufbauten auf dem Wagen sehen, sie tun fast so, als würde Philippe Dorian auf der Stelle befehlen zu schießen, sobald sie an einem Wagen vorbeikommen. Es ist offensichtlich niemandem bewusst, dass sie wirklich nicht die Zeit haben, jeden Verkehrsrowdy in seine Schranken zu weisen, deswegen ist es Philippe auch eigentlich lieber einen Zivilwagen zu nehmen. Es ist ihm lieber in der Masse unterzugehen und die wahre Natur der Menschen zu beobachten. Kurz nachdem Dorian und er die Wache verlassen haben und Dorian das Funkgerät eingeschaltet hat, um der Leitstelle Position und Wagennummer durchzugeben, beginnt der Sturm aus dem Gerät zu wüten.

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