Loe raamatut: «Haltewunschtaste»

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Nele Heyse

Halte-

wunschtaste

Roman

mitteldeutscher verlag

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2013

© mdv Mitteldeutscher Verlag GmbH, Halle (Saale)

www.mitteldeutscherverlag.de

Gesamtherstellung: Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale)

Umschlaggestaltung: Jana Steffen

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2014

ISBN 9783954622764

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Widmung

AUF DER KIPPE

GESPENSTERWECKEN

RISSE

SCHNEE

… für meinen Mann und meinen Sohn …

AUF DER KIPPE

Die Tage gleiten ins Dunkel. Der Rasierspiegel hat Spritzer, und Philipp wird sie nicht entfernen. Warum auch, wenn morgen Olga kommt, seine ukrainische Putzfrau. Der Gedanke, dass er sich für sie extra aus seinem Loft entfernen werden würde, zwingt ihn augenblicklich ins Erwachen. Eben noch war er wie ein vergessener Greis in sein Badezimmer geschlurft. Er hatte sich an den Waschbecken entlanggetastet, den Regentropfen entgegengegähnt, die in Schlieren die Fensterscheiben hinunterlaufen, und sich die drei Meter weiter zur Badewanne geschleppt. Dort war er auf deren unteren Rand zum Sitzen gekommen. Er hatte die Beine übereinandergeschlagen, und während er seinen Oberkörper einzuwiegen begann, musste er immer wieder gegen die Schwere seiner Lider ankämpfen. Es gelang ihm, in die gegenüberliegende Ecke zu blinzeln. Sein Liegesessel prangte ihm von dort entgegen wie ein Museumsstück, das einen unantastbaren Bereich für sich beansprucht. Daneben der in einen Tontopf gezwungene Apfelsinenbaum.

„War wohl nichts, Alter“, hatte er gehaucht, und das konnte vieles heißen. Das Konzept dieses Badezimmers, welches er als immerhin einer der gefragtesten Architekten der jüngeren Generation zu verantworten hat und das ihm seit geraumer Zeit missfällt, gehört ebenso dazu wie die Trauer um die Restschatten seiner frühen Inspirationen, die sich mit seinem späten Aufstehen verflüchtigt haben. Wieder einer jener Tage, an dem es ihm nur schwer möglich sein würde, ein Bad zu nehmen. Die Verlorenheit, die ihn in der frei im Raum stehenden Wanne überkommen kann, kennt er nur zu genau. So hatte er lieber dem Regen zugehört, während er seinen Bart zu zwirbeln begann. Dennoch fühlte Philipp sich, wie er da in seinem Badezimmer saß, von Leere beschenkt. Einer Leere, die ihm erlaubt, einfach nur Zeit vergehen zu lassen. Ein Luxus, den er sich seit Tagen gönnt. Nur nachts schleicht er sich heraus, um zwei stille Ecken in seinem Kiez, für ein paar Schachteln Zigaretten und zum Entleeren des Briefkastens im Entrée seines Hauses. Danach allerdings nimmt er dann immer jede zweite der hundertvier Treppenstufen im Laufschritt wieder nach oben. Auf dass sein Herz das Pochen nicht verlernt, sagt er sich dabei, und ihn überkommt jedes Mal eine Lebendigkeit, die er so nachts bisher nur während der Liebe erleben konnte.

Jetzt aber, an diesem späten Vormittag, erhob er sich mühselig, streckte die Glieder von sich, als hätte er ihnen schon lange nichts mehr abverlangt. Er war zu seinem Rasierspiegel gewankt, gewankt, wie es einem Mann in der ersten Lebenshälfte nur nach durchzechter Nacht passiert.

Die kleinen weißen Sprenkel, mit denen der Spiegel übersät ist, erinnern Philipp nun daran, dass er morgen diese Auszeit in seinem Loft zu beenden hat. Ein wenig könnte er seinen Bart stutzen, denkt er. Die rotbraunen Stoppeln, die sich dann über das weiße Waschbecken verbreiten, wären ein weiterer Gruß an Olga. Seine Hand greift auch schon nach dem Schubfach mit den Utensilien für die Prozedur, da lässt er sie schlaff an sich herunterfallen. Der Tag scheint nicht gemacht für Tätigkeiten, die aus dem Rahmen fallen. Er hat auch heute nicht vor, dies Gesicht mit mehr als seinem Spiegelbild zu konfrontieren. So versinken seine Hände in den ausgebeulten Taschen seiner Cargo-Hose, dieser breitgerippten, etwas zu weiten Hose mit den am Boden schleifenden Beinen. In den Zeiten seines Sich-Verkriechens ist sie ihm ein unentbehrlicher Gefährte.

‚Ach ja‘, besinnt er sich, indem er seinen Briefkastenschlüssel ertastet, ‚da gab es diesen Brief.‘ Irgendwo hatte er ihn liegengelassen, heute Nacht. Einen dicken Brief, in einem A4-Kuvert. Philipp stöhnt, stöhnt so laut, wie es einer Stimme möglich ist, die seit Tagen nur für leise Selbstgespräche bemüht wird. Sollte ihn nun gerade dieser Brief wieder in die Normalität der Welt zurückschicken? Ein Brief von Stefanie, einer Affäre, die mehr als drei Jahre zurückliegt. Es war nicht ihr erster Brief an ihn. Sie hatte ihn aber, wie er sich jetzt zu erinnern müht, im letzten Jahr verschont. Verschont mit solchen Zeilen wie: „Man muss Gefühle annehmen wie das Schicksal.“

Wäre sie damals nicht der Idee dieser Briefe erlegen, handgeschriebener Briefe in einem Duktus, der so wenig in dieses Jahrtausend passt wie das Bemühen von Postkutschen, vielleicht hätte er nichts gegen eine Wiederholung ihrer donnerstäglichen Besuche bei ihm gehabt. Angenehm zurückhaltend hatte er Stefanie in Erinnerung, nicht besonders gesprächig, unaufdringlich und vor allem nie fordernd. Ideale Voraussetzungen für das Aufrechterhalten einer Affäre. Dennoch hatte er sie beendet. Aus dem gleichen Grund, der ihn davon abhielt, jemals etwas mit Olga anzufangen, hatte er sie beendet. Olga, dieser wohlgeformten Frau aus dem Osten. Die hohen Absätze, die Leggins, das überschminkte Gesicht waren nicht unbedingt Attribute einer guten Putzfrau. Doch Olga verstand ihr Handwerk. Schließlich war sie die Empfehlung eines befreundeten Reisejournalistenpaares, und die hatten ihm erzählt, dass je schlechter es den Menschen in der Ukraine ginge, desto mehr würden die Frauen sich dort anmalen und ihr weniges Geld für modische Kleidung ausgeben. Schon nach Olgas ersten Arbeitsstunden in seinem Loft vertraute er ihr seinen Schlüssel an. Die Geschmeidigkeit, mit der diese Ukrainerin den Sauger über seine Dielen gleiten ließ, hatte ihn dermaßen verwirrt, dass er sich dabei ertappte, im Anblick ihres Hinterns zu versinken. Dabei drängte sich ihm die Frage nach Olgas Umgang mit ihrer Körperbehaarung dermaßen zwingend in sein Beobachten, dass er sich bedroht sah, von seiner Erregung übermannt zu werden. Einzig sein Gewissen war es, was ihn damals davor bewahrte, seinem Trieb nachzugeben und der jungen Frau die Hand zwischen ihre Schenkel zu schieben. Seit diesem Nachmittag vermied es Philipp, seiner Putzfrau beim Arbeiten zuzusehen und sie mit seiner Anwesenheit zu stören.

Und Steffi? Ihr Brief, dieser schwere, dicke Brief liegt unweit des Waschbeckens auf dem gläsernen Teewagen. Philipp fallen die Druckbuchstaben seines Namens auf dem Kuvert in die Augen, und irgendwie fühlt er sich ertappt. Ertappt, den Brief vielleicht gar nicht erst geöffnet zu haben, hätte er schon anhand der Schriftzeichen den Absender erkannt. Er sollte ihn hinter sich bringen, wenigstens zu einem Teil, sagt er sich. Dieser Tag hat ihn bis eben nicht mit Entschlusskraft verwöhnt; und die Verpflichtungen sind auch heute auf ein Mindestmaß beschränkt. Sein Büro funktioniert bestens ohne ihn. Er sieht sich nicht einmal genötigt, einen seiner Mitarbeiter anzurufen oder gar Erkundungen bei seiner langjährigen Sekretärin Frau Finkelstein, die mit umfassenden Kompetenzen ausgestattet ist, einzuholen. Sie haben dort alles im Griff, in solchen Tagen, an denen ihr Chef sich eine Auszeit gönnt. Dennoch, zu einem Studentenprojekt, das vor geraumer Zeit von ihm initiiert wurde, muss er sich persönlich äußern. Der Termin für ein Zeitungsinterview haftet an seiner Magnetwand. Außerdem hat er sich mit einem seiner Vorträge, den er im Januar in Tel Aviv und in Sidney halten wird, zu beschäftigen. Er muss ihn den jeweiligen Gegebenheiten anpassen, aktualisieren und in seinem Kern kürzen. Das alles aber verlangt eine Routine, die Philipp nicht übermäßig fordern wird. Da er sich sicher sein kann, dass Frau Finkelstein und sein gesamtes Büro ihn hartnäckig, aber auch diplomatisch und sensibel abzuschotten versteht, wird er sich weiterhin nicht einmal bequemen müssen, seine E-Mails zu öffnen. Belastet fühlt er sich im Augenblick nur von Überlegungen um das Besorgen anstehender Weihnachtsgeschenke. Geschenke, zu denen ihn Freundschaft und Familie verpflichten. Dabei hat er, verglichen mit den in seinem Büro erstellten und sich jährlich verlängernden Namenslisten, nur eine verschwindend kurze und seit Jahren konstant gebliebene Liste abzutragen. Die anderen unterliegen der Zuverlässigkeit Frau Finkelsteins. Er würde in der nächsten Woche lediglich genötigt sein, einige Unterschriften unter die Grußkarten seines Büros zu setzen. Aber auch diese ihm verbleibende Namensliste, die neben dem Termin für das Telefoninterview mit der Zeitung an seiner Magnetwand hängt, belastet ihn. Ja, er fühlt sich beinahe einer kleinen Überforderung ausgesetzt, und während er ratlos vor sich hinstarrt, meint er sich erinnern zu müssen, dass es früher, als er noch in dem kleineren, vermauerten Teil Deutschlands lebte, leichter gewesen sei, mit Geschenken Freude zu bereiten. Die herrschende Mangelwirtschaft setzte immerhin Phantasie frei. Man musste nur eines dieser zahlreichen Produkte, für die es wieder einmal einen Engpass gab, ergattern. Nötig waren dafür Beziehungen und ein gewisses Organisationstalent. Die Überlegung, ob dem zu Beschenkenden der rare Artikel überhaupt etwas bedeuten könne, spielte dabei eine untergeordnete Rolle. Genügte es doch, im Besitz eines begehrten Tauschobjektes zu sein, das wiederum zu einem Geschenk werden konnte, für den nächsten sich unweigerlich bietenden Anlass. Philipps Mutter, die damals Leiterin einer Musikalienhandlung war, verfügte über begehrte Schallplatten, die in verschwindend geringen Mengen ausgeliefert wurden. Schätze also, die fast ausschließlich unter dem Ladentisch gehandelt wurden. Gerade zur Weihnachtszeit boten sie ihnen alle Möglichkeiten zum Tauschen oder Verschenken. Seinem besten Freund konnte er auf diese Weise sogar einen jener Parkas unter den Weihnachtsbaum legen, den zu tragen für junge Leute, die sich für unangepasst hielten, geradezu Pflicht war. Auch erzgebirgische Artikel, geschnitzte Engel, Figürchen und Spielzeug, als Baumbehang oder zum Aufstellen auf der Fensterbank, waren für den durchschnittlichen DDR-Bürger nicht oder nur schwer zu erwerben, da sie zur Devisen beschaffenden Exportware zählten …

Philipp fällt Stefanie ein, deren Brief noch immer im Badezimmer liegt, während er sich inzwischen an seinem Espresso-Automaten in der Küche wiederfindet, die Milch für einen Latte Macchiato aufzuschäumen. Sicher hätte es Stefanie, von deren Hang zum Kitsch Philipp überzeugt ist, Freude bereitet, ihm beim Beschaffen jener Raritäten behilflich zu sein. Stammte sie nicht aus irgendeinem Ort im Erzgebirge, oder war es doch der Harz? Jedenfalls kam sie für ihn aus einer Welt, in der die Uhren noch langsamer tickten und man sich Briefe schrieb mit Sätzen, die Hedwig Courths-Mahler nicht besser hätte formulieren können.

„Zu Zeiten, Liebchen, zu Zeiten …“, murmelt er und meint, ohne auch nur im Geringsten daran zu denken, was er sich seit Tagen gönnt, dass es doch gegen ein Innehalten im Advent wenig einzuwenden gäbe, wären damit nicht die Erwartungen an das bevorstehende Fest verbunden. Nun, wenn sich morgen Olga seines Lofts annehmen würde, könnte er sich mit dem leidigen Thema der Weihnachtseinkäufe auseinandersetzen. Philipp spürt, wie sich seine bis eben noch so beharrlich aufeinandergepressten Lippen entspannen. Er tastet sacht die Konturen seines Mundes ab und bemerkt erneut ein paar zu lang geratene Barthaare. Während er sie zu zwirbeln beginnt, entscheidet er sich, morgen die leidige Parkplatzsuche in der Nähe von DUSSMANN auf sich zu nehmen, um den Wagen mit allerlei Büchern, CDs und Kunstbänden vollzustopfen. Philipp knipst den Schalter des Espresso-Automaten aus und wünscht sich, dass ihm dies auch mit jedem weiteren Gedanken an das Thema Weihnachtsgeschenke und den zu stutzenden Oberlippenbart gelänge. Dass sich nun wieder der etwas verhuschte Blick Stefanies in seinen Vormittag gedrängt hat, nimmt er zu seiner eigenen Verwunderung sogar als willkommene Ablenkung. Während er in seinen Kaffee zwei gehäufte Löffel Zucker rührt, geht er zurück in sein Badezimmer, ihren Brief vom Teewagen an sich zu nehmen. Etwas ungeschickt, da ihm wegen seiner Kaffeetasse nur eine Hand zur Verfügung steht, fischt er die doppelseitig dicht beschriebenen Seiten aus dem Umschlag. Das Kuvert ist ihm dabei auf die Fliesen gefallen, auch ein Stück Papier kleineren Formats. Beides lässt er liegen, um sich später daran erinnern zu wollen. Jetzt zieht es ihn in sein Atelier. Dort wirft er sich auf die breite Fläche seiner Minotti-Couch mit Blick auf die riesige, angeschrägte Fensterfront. Eine stille Minute lässt er noch verstreichen, dann nimmt er sich Stefanies Brief an.

Etwas wundert ihn das Datum, 29. Juni, das in der oberen rechten Ecke des ersten Bogens steht. Philipp blättert in dem Stapel, als handle es sich um das Manuskript eines Vortrags. Was hatte sie nur damit bezweckt, ihn mit dieser Fülle an handgeschriebenen Zeilen zuzuballern, fragt er sich, indem er irgendwo im ersten Drittel ihrer Aufzeichnungen zu lesen beginnt.

Gerade zieht die Sonne über die Dächer. Ein rotgoldenes Licht, es soll ein schöner und heißer Tag werden. Mein Fenster ist geöffnet, ich höre schon die ersten Lastwagen, und die Geschäftigkeiten beginnen. Noch ist alles möglich, sagt der Tag. In einer halben Stunde öffnet der Bäcker an der Ecke.

Und Du?!!! Philipp! Du wirst gleich geweckt werden, nehme ich an, oder lässt man Dich länger schlafen? Du bist als Erster dran. Sie richten sich auf eine lange OP ein. Um acht treffen sich die Ärzte zu ihrer Besprechung, und nach halb neun geht es dann los, schieben sie Dich in den Fahrstuhl und bringen Dich runter in den OP.

Philipp angelt sich die Schachtel Zigaretten, die auf den Dielen liegt und in der sein Feuerzeug eingeklemmt ist. Hastig zündet er sich die erste Zigarette an diesem späten Morgen an. Dabei ist er bemüht, Stefanies Zeilen nicht aus den Augen zu lassen.

Es wird niemand bei Dir sein, selbst wenn Du eine Frau hättest, dürfte sie Dich nicht hinter die eisernen Türen begleiten. Gehörte ich zu Dir, zu Dir in Dein Leben, hielte es mich ganz sicher nicht zu Hause. Ich wäre, um Dir näher zu sein, ganz selbstverständlich im Krankenhaus. Oh, ich glaube auch jetzt nicht, dass es mir einzig und allein mit diesen Zeilen genügen wird, die entsetzliche Spannung der nächsten Stunden zu ertragen. Ich werde wohl meine Freundin Simone, die auf Deiner Station arbeitet, unter irgendeinem Vorwand besuchen, und dann werde ich vielleicht auch erfahren, wie alles verläuft und ob … Oh, Philipp, zu denken, Dich so ausgeliefert zu wissen und nichts, auch nichts im Verborgenen für Dich tun zu dürfen …

„Er hat kaum eine Chance“, hat Werner gesagt. „Wir müssen es versuchen, aber das Risiko ist sehr hoch, allerdings, täten wir nichts, würde er die nächsten Tage auch nicht überleben.“

Du hast ein Aneurysma im Kopf. Werner rief mich gestern an und erzählte mir, dass er Dich unters Messer bekäme. „Weißt du, wem ich morgen die Ehre habe, ins Hirn zu gucken? Du wirst es nicht glauben, Dein Seefelder, Philipp Seefelder kommt unters Messer …“ Er sprach weiter und nicht ohne Triumph in seiner Stimme, oder bildete ich mir das nur ein? Mir zitterten die Knie und ich fühlte mich …naja, da mir übel und schwarz vor Augen wurde, bangte ich sogar, umzukippen. Werner schien etwas davon gespürt zu haben, jedenfalls bot er mir an, vorbeizukommen, wenn es mir schlecht ginge, aber ich konnte ihn nicht sehen, ich wollte überhaupt niemanden sehen. Ich rannte in meiner kleinen Wohnung sinnlos hin und her und überlegte mir nutzlose Dinge, denn es gab nichts, einfach gar nichts, was ich für Dich hätte tun können. Noch nicht einmal eine Nachricht, einen Gruß durfte ich Dir schicken, weil ich mir sicher war, dass Du ihn nicht wünschtest. Wer würde jetzt bei Dir sein, fragte ich mich immer und immer wieder, und was geht in Dir vor: jetzt – mit dieser Diagnose? Dass die Ärzte Dich über die Konsequenzen Deines Zustands aufgeklärt haben, ist sicher. Das sind die Momente, in denen ich mich erinnere, einmal beten gelernt zu haben. Ich tat es, immer wieder diese Nacht, und werde es wohl weiter tun, weil es das Einzige ist, was ich tun kann, weil mir nichts anderes zu tun zusteht …

Ich wusste, dass es sinnlos gewesen wäre, heute Nacht ins Bett zu gehen. Ich saß lange in grüblerisch kreisenden Gedanken auf meiner Couch, trank einen Kaffee nach dem anderen, obwohl die eigentliche Anspannung, der nächste Tag, ja noch vor mir lag und ich dann vielleicht meine Kraft für die zu erwartende Nachricht bräuchte … Na ja, und gegen zwei setzte ich mich dann hier an meinen kleinen Schreibtisch unter dem Fenster, mit Blick über die Dächer und zur Spitze des Fernsehturms, und dachte, um Dir nah sein zu dürfen, hilft es vielleicht, einen Brief zu schreiben. Vielleicht erhältst Du ihn ja auch …vielleicht – aber dann … –

Bei der Beerdigung meiner Großmutter warfen ihre Urenkel, meine Nichten und Neffen, kleine, selbstverfasste Briefe auf ihren Sarg … –

Vielleicht werden ja auch diese Zeilen, von Schaufeln schwarzer Erde bedeckt, in ein Grab geworfen? –

Solltest Du es aber schaffen, oh, Philipp, dann sollte auch ich etwas geschafft haben, – mit diesem Brief nämlich, meinen Abschied!, meinen Abschied von Dir für mich! Wenigstens in Worten hätte ich den mir erzwungen! – Aber abschicken werde ich diesen Brief dann nicht mehr. Warum auch Dich noch einmal bedrängen, Du brauchst meine Zeilen nicht, für Dich gibt es nichts mehr zu klären, was in irgendeinem Zusammenhang mit mir stünde …

Philipp lässt die beiden Seiten, die er nur zufällig aus Stefanies Brief gewählt hatte, sinken. Dass er vor einem halben Jahr dem Tod näher gewesen war als dem Leben, hatte er inzwischen verdrängt. Verdrängt wie den gesamten Krankenhausaufenthalt. Seine Mutter weiß bis heute nicht, wie es damals um ihn stand. Er kann sich nur erinnern, seinen Anwalt informiert zu haben und dass er mit ihm über seinem Testament gesessen hatte. Nicht einmal sein Büro wusste genau Bescheid. Gefühlt ist das für ihn mindestens so lange her wie seine letzte Begegnung mit Stefanie. Wieder ein Beispiel dafür, wie das Vergehen von Zeit relativ zu betrachten sei, meint Philipp und beginnt, sich weiter in Gedankenspielen zu verlieren. Überhaupt alles, alles ist relativ, sagt er sich, Liebe, Begehren, Trauer und Freude. So, wie der Ausgang seiner Operation nur relativ als ein Glücksumstand zu betrachten sei. Er lebt weiter, relativ gut weiter, kann weiter Aufträge entgegennehmen, die anderen, nicht weniger begabten Architekten entgehen. Es wird keiner an seiner Stelle die Chance bekommen, Vorträge an Orten zu halten, um die man ihn, den Philipp Seefelder, gebeten hat. Es bleibt so, wie es ist, ohne dass es so bleibt, wie es ist, denn auch das ist relativ. Während dieser Gedanken betrachtet Philipp die glimmende Asche am Zigarettenstummel in seiner Hand. Sie brennt sich bis an den Filter heran und kippt dann ab, zerfällt in ihre kleinen grauen Partikel, die er umgehend zu einem Häufchen auf seinen Dielen zusammenpustet. Den Reststummel drückt er im Aschenbecher aus. Seine kleine Nichte Julika sowie Olga und die Stiftungen, die Philipp in Ermanglung von „Abkömmlingen“, wie es im Anwaltsdeutsch heißt, in seinem Testament bedacht wissen wollte, waren, ohne von ihrem möglichen Segen erfahren zu haben, leer ausgegangen. Das könnte nun auch als ein relatives Pech angesehen werden. Wieder starrt Philipp vor sich hin und zwirbelt seinen Bart. Von jeder Wahrheit ist das Gegenteil ebenso wahr, zitiert er Hermann Hesse und stellt dabei fest, dass ihn diese Überlegungen auch nur relativ ablenken können von Stefanies Brief, dessen nächste Seiten er nun weiter zu überfliegen beginnt. Nachdem er aber bemerkt, den Faden weder verfolgen zu können noch ihn überhaupt gefunden zu haben, zwingt er sich an den Anfang des Briefes, um Wort für Wort mit dem Lesen zu beginnen.

29. Juni

Lieber Philipp, da, wo ich herkomme, gibt es eine kleine Bahn, die nicht an jeder Station hält, es besteht aber die Option, denn in dieser Bahn wird man auf die „Haltewunschtaste“ hingewiesen, die betätigt werden kann, wenn man an einer dieser Stationen aussteigen möchte. Das Wort, den Begriff „Haltewunschtaste“ liebe ich sehr. Es gibt ihn wahrscheinlich wirklich nur in jener Bahn, die die vergessenen Orte meiner Kindheit verbindet.

So oft, wenn wir zusammenlagen, es ist jetzt bald drei Jahre her, oder auch nur, wenn wir beieinandersaßen, Du noch nicht diese Mauer gegen mich errichtet hattest, wünschte ich mir, es gebe auch in meinem Leben hier, in der Großstadt, eine solche Haltewunschtaste, und wie sehr, wie sehr wünschte ich sie jetzt, jetzt in diesem Augenblick oder für die nächsten Stunden … noch einmal anzuhalten, noch eine kleine Verzögerung, einen Aufschub vor der Gewissheit, die der nächste Tag bringen wird.

Als Freund vermochte ich Dich nicht zu binden. Wahrscheinlich ist Dir der Horizont meiner kleinen vogtländischen Welt zu begrenzt gewesen.

Eigenartig, immer wenn ich nach Hause kam, empfanden mich die alten Leute – es gibt ja dort fast nur noch alte Leute – als fremd und ihnen entwachsen. Ich bin heimatlos geworden, und gerade nach der Begegnung mit Dir weiß ich nicht mehr, wo ich hingehöre …

Ich sehe Dich vor mir, wie Du Deinen Bart befühlst und ungläubig die Augen niederschlägst, so, als wolltest Du nachschauen, ob es ihn noch gibt. Ich weiß, Du fragst nach Jacob, meinem Ehemann; und da war sicher ein häufiges Fragen in Dir, gerade in den Monaten unserer Begegnungen. Ich schreibe ‚Begegnungen‘, weil wir ja gar nicht wirklich zusammen waren. Wir haben Zeit miteinander verbracht, und es gab diese Momente der Nähe, die immerhin ausreichend waren für die Entscheidungen meines jetzigen Lebens, denn sie haben für mich alles verändert.

Damals vermieden wir es, über Jacob zu sprechen, aber ich denke, dass es wichtig für mich ist, Dir jetzt von ihm, als einem Teil von mir, zu erzählen. Denn was weißt Du schon über mich? – Oh, oder sollte ich nicht besser fragen, was wünschtest Du überhaupt zu wissen? Nun – Jacob, ja, Jacob, der wunderbarste Mann, mit dem mich mein Schicksal unverdient beschenkt hat. Das weiß ich, und damit stehe ich bis heute nicht allein. Gerade ich, die Steffi, die ihre ganze Kindheit und Jugend nichts wirklich auf die Reihe gebracht hat, ihre Eltern und Lehrer enttäuschte, gerade, als sie einmal eine Hoffnung in sie gesetzt hatten; das hässliche Entlein, viel zu blass, viel zu dünn, viel zu lang mit den weißblonden Schnittlauchfädchen auf einem ausgesprochenem Jungenkopf. Wie oft wurde ich verwechselt und nicht meinem eigentlichen Geschlecht zugeordnet. Als ich auf die Spezialschule für Musik in Belvedere delegiert wurde, kam gleich zu Beginn ein Mitschüler auf die Idee, mich Stefan zu nennen, was alsbald die ganze Klasse und sogar ein Teil der Lehrkräfte übernahm. Wenn ich abends im Bett lag und mich mein entsetzliches Heimweh zum Weinen brachte, hänselten mich die anderen Mädchen damit, dass ich doch ein Junge sei und ‚Indianer keinen Schmerz kennen würden‘, bis dann eine besonders vorwitzige Flötistin bemerkte, dass es wohl bei ‚Albino-Indianern anders sei‘; und ab jenem Abend hatte ich meinen Spitznamen für die gesamte Schule weg. Doch das allein war nicht der Grund, dass ich schon nach dem ersten Halbjahr nach Hause geschickt und wieder in meine alte Klasse umgeschult wurde. Ich nahm zwar den ‚Albino-Indianer Stefan‘ nicht mit dorthin zurück, aber fortan war ich nun die Versagerin Steffi.

Mein Geigenspiel, die große Hoffnung meines Vaters, der aus einer alten Geigenbauerfamilie stammt, gab ich ganz auf, und nun hatte ich gar nichts mehr, was mich irgendwie auszeichnen sollte oder wert machte, geliebt zu werden. Mein Vater zeigte mir sehr deutlich seine tiefe Enttäuschung; und meine Mutter, die eh nur das Sprachrohr ihres Mannes ist und dazu sehr abhängig von Äußerlichkeiten, was auch ihre besondere Affinität für ihre erstgeborene Tochter, meine Schwester Ulrike, verständlich macht, wurde nur noch kühler zu mir. Ulrike war schön, schön wie eine Elfe, schon von Geburt an, wurde immer wieder erzählt. Alles war verliebt in dieses Kind, meine Mutter sogar so stark mit ihr verbunden, dass sie während ihrer zweiten Schwangerschaft nach drei Jahren Angst vor dem zu erwartenden Kind bekam. Sie glaubte, ihre Liebe nicht teilen zu können, und erhoffte sich wenigstens einen Jungen, einen Bruder für ihre Ulrike, der dann vielleicht eine andere Art der Aufmerksamkeit gefordert hätte. Es musste für sie eine große Enttäuschung gewesen sein, als ich dann kam. Zwar sah ich sofort aus wie ein Junge, länger als die Durchschnittsbabys, haarlos, mit ausladendem Hinterkopf, aber ich sollte nun mal ihre Tochter sein, ein Mädchen wie ihre große Liebe Ulrike. Es kostete sie wohl einige Kämpfe, mich wirklich anzunehmen, und nicht nur ich habe ihr allzu starkes Bemühen gespürt. Schon durch die Ahnung, was es sein kann, vorbehaltlos angenommen zu werden. Ich hatte dieses Glück zweimal in meinem Leben; und da ich das jetzt so niederschreibe, denke ich, dass ich dadurch sicher schon zu den Auserwählten auf diesem Erdball gehöre. In meiner Kindheit hatte ich meine Großmutter Maria und später Jacob, die mich zu ‚lesen‘ verstanden, die mich nahmen, so uneben, wie ich für diese Welt und den mir zugedachten Zeitraum geschaffen worden war. Aber ich schweife ab – nun endlich zu Jacob!

Jacob war der Sohn des Obermedizinalrates Doktor Wagner in unserem Ort. Er wusste schon als Junge, dass er die berufliche Tradition seiner Familie fortsetzen würde. Er ging in die Abiturklasse meiner Schwester Ulrike und war manchmal bei uns zu Hause. Die beiden waren befreundet, doch bei Ulrike war es mehr als nur Freundschaft, die sie für den Bestschüler ihrer Klasse empfand. Eigentlich hatte sie genug Verehrer, so schön und so klug wie sie war, aber Jacob war etwas Besonderes und da auch Ulrike, die Elfe!, sich für etwas Besonderes, hielt und nicht nur von unserer Mutter darin bestätigt wurde, musste es folgerichtig sein, dass sich jeder eine Verbindung der beiden wünschte. Doch es kam anders, unerklärlich anders. Ich hatte gerade die Ablehnung für den Besuch der Erweiterten Oberschule erhalten, was für meine Eltern keine neuerliche Enttäuschung darstellte, da sie ohnehin nicht mit meiner Annahme gerechnet hatten. Irgendwie schien überhaupt niemand mehr etwas von mir zu erwarten. Doch ich hatte all meinen Ehrgeiz daran gesetzt, meinen Notendurchschnitt auf das erforderliche Level zu bringen. Allerdings vernachlässigte ich dabei meinen „gesellschaftlichen Einsatz“. Als ich noch Geige gespielt hatte, war ich durch den damit verbundenen Übungsstundenaufwand entschuldigt, aber seit dem Dilemma in Belvedere hatte ich mein Instrument nicht mehr angerührt. Ich hatte mich mehr und mehr in mich selbst zurückgezogen. Die FDJ-Nachmittage waren mir ein Graus. Zu sehr fühlte ich mich als Außenseiterin, der noch immer der Stempel einer Versagerin anhaftete. –

Natürlich war ich durch die Absage sehr niedergedrückt.Sie bedeutete immerhin ja auch, später nicht studieren zu dürfen und vielleicht niemals aus diesem Ort verschwinden zu können. Dennoch versuchte ich, meine Tränen zurückzuhalten, als ich nach Hause kam, um meiner Familie nicht noch Anlass zu geben, über die ganze Sache zu reden. Es wäre mir Ulrike und ihrem Besuch gegenüber peinlich gewesen. Sie sollten eher denken, es sei mir gleichgültig, nicht auf die EOS zu dürfen.

Nun hatten aber meine Schwester und ich nur ein gemeinsames Zimmer, und in dem saß sie gerade mit Jacob. Ich hatte also keine Chance, mich zurückzuziehen. Ein riesiger Kleiderschrank teilte zwar den Raum, so dass unsere Schreibtische und zur Hälfte auch unsere Betten gegenseitig nicht einsehbar waren, aber man bekam die Bewegungen und Geräusche des jeweils anderen unweigerlich mit. Ich hockte mich also mit angewinkelten Beinen ans Kopfende meines Bettes, nahm mir ein großes Buch, in dem ich zu blättern begann, ohne aber auch nur ansatzweise auf das zu achten, was es beinhaltete. Da stand Jacob plötzlich vor mir. „He!“, sagte er, „Steffi, ich wollte dich fragen, ob du Lust hast, am Penne-Ball teilzunehmen?“ Ich glaube, ich sah ihn überrascht, aber auch erschrocken an, dann antwortete ich mit einer völlig absurden Gegenfrage. „Ja, kommt ihr denn auch mit?“

„Ich gehe davon aus, dass unsere ganze Klasse da sein wird“, antwortete er mit einem kleinen, verunsicherten Lächeln, aus dem er sich aber sofort mit klaren festen Worten zu befreien verstand. „Wenn du Lust hast, würde ich dich abholen, und zwar schon eine halbe Stunde eher, da könnte ich dir noch meine Freunde von der Band vorstellen, wir werden auch drei Titel spielen, gleich zu Beginn. Deinen Eltern kannst du sagen, dass ich dich zurückbringe, wann sie es wollen.“ Er hatte sich das alles genau ausgedacht. Dennoch begriff ich immer noch nicht, dass er mich zu meinen schien mit diesem Angebot, und glaubte eher, in einen unwirklichen Taumel geraten zu sein. Erst als ich in den nächsten Tagen Ulrikes Spitzen gegen mich ertragen musste, die dann auch noch zu einer festen Gewohnheit für die nächsten drei Jahre werden sollten, fing ich langsam an zu begreifen, wenn ich es auch noch lange nicht wirklich fassen konnte. Ausgerechnet dieser Junge Jacob schien mich zu meinen. Und das wirklich ganz so, wie ich war, wie ich aussah und wie und was ich dachte. An nichts krittelte er auch nur im Entferntesten herum. Selbst meine geheimsten Phantasien konnte ich ihm offenbaren. Nichts hielt er für absurd oder abartig. Obwohl er sich selbst ein riesiges Leistungspensum auferlegte und sich meine kleinen, manchmal nur mühselig erworbenen schulischen Erfolge daneben recht kümmerlich ausnahmen, fielen sie ihm auf und lobte er mich auf eine Weise, dass ich das Gefühl hatte, er würde stolz auf mich sein. Als Jacob in Berlin studierte, setzte er alles daran, dass ich meine Ausbildung als Medizinisch-technische Assistentin ebenfalls in der Hauptstadt absolvieren konnte. Von da an begriffen wohl alle und langsam auch ich selber, dass es nichts mehr gab, was uns auseinanderbringen sollte. Warum Jacob sich nicht in meine schöne Schwester verliebt hatte, erklärte er mir später einmal damit, dass ihr Selbstbewusstsein und ihr Perfektionismus ihn abgeschreckt hätten.

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