Abschied einer Mörderin

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Abschied einer Mörderin
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Abschied einer Mörderin

Blutbücher

Von Nick Stein

Man tötet einen Menschen, und man ist ein Mörder. Man tötet Millionen, und man ist ein Eroberer.

Man töte sie alle, und man ist ein Gott.

— Jean Rostand,

französischer Biologe und Schriftsteller

Kapitel 1

Ich hatte das Morden längst aufgegeben, als ausgerechnet er mir über den Weg lief.

Ich musste ihn ablenken, bloßstellen oder beseitigen, um mein Lebenswerk nicht zu gefährden.

Nur einer dieser Wege war wirklich sicher. Ich musste ihn beseitigen.

Ich konnte auf ein erfolgreiches Leben zurückblicken. Ich hatte Erfolge gefeiert, ich war reich, ich hatte den gefährlichsten Menschen der Welt unschädlich gemacht. War das nicht Grund genug für einen geruhsamen Lebensabend, wenn man mit Ende dreißig davon sprechen durfte?

Er hatte mich hier rein zufällig angetroffen und leider sofort erkannt. Noch im gleichen Wimpernschlag war mir klargeworden, dass er wegmusste, und wie ich es anstellen konnte.

Das Morden. Es war mir zugelaufen wie ein süßer kleiner Hund.

Mein erster Mord war strenggenommen gar keiner gewesen. Ich hatte eine Freundin mehr oder weniger legitim um ihre fantastischen Manuskripte gebracht, als ihr lüsterner Ehemann, der glaubte, ich wäre an ihm interessiert statt an ihrem Werk, sie eine Schlucht hinuntergestürzt hatte, im Glauben, damit wäre der Weg zu mir frei. Ich war nur indirekt schuld an ihrem Ende gewesen.

Mit ihren Romanen hatte ich meine erste Karriere gestartet, erst als Lektorin, dann als Herausgeberin, später als Autorin, unter wechselnden Pseudonymen.

Meine eigenen Werke waren nie gut genug gewesen; als Lektorin war ich an gute und einsam lebende Autoren herangekommen, die ich bestohlen und dann entsorgt hatte. Niemand hatte sie je vermisst oder an mehr als einen Unfall geglaubt. Ich bin ziemlich stolz darauf.

Auch meine schönste Trophäe gehört dazu. Gero von Witzleben, den ich im Keramikofen zu Asche verbrannt hatte. Mit seinen Überresten und einer Menge Ton hatte ich eine Statue seiner selbst geformt und gebrannt. Einem keramischen Kunstwerk. Witzleben war selbst ein recht erfolgreicher Mörder gewesen, der mit viel Witz und Geschick jene Lektoren und Lektorinnen umgebracht hatte, die seine Werke nicht herausgeben wollten. Ich wäre die Nächste geworden, wäre ich ihm nicht zuvorgekommen.

Er steht heute mit den Skulpturen von sieben anderen toten Dichtern als teures Werk im Haus eines reichen Mafia-Bosses in New York, als Gruppe um einen Tisch platziert, auf dem ihre Werke liegen. Der Klub der toten Dichter.

Damals hatte dieser aufdringliche Jungbulle mich als Zeugin befragt, später aber selbst verdächtigt und mich sogar in meiner Villa in Italien festnehmen können. Ich war ihm und der Mafia, die mich inzwischen als Belastung angesehen hatte, nur entgangen, indem ich meinen Tod vorgetäuscht hatte. Ich hatte eine todessehnsüchtige junge Frau an meiner Stelle ans Steuer eines Sportwagens gesetzt, dessen Bremsleitungen ich beschädigt hatte. Im Wagen selbst waren genügend Spuren von mir, Haare, Fingerabdrücke und Datenträger, alle Hinweise deuteten bei der verbrannten Leiche auf mein erstes Ego. Viola Kroll.

Europa hatte ich verlassen müssen. Ich hatte auf die Beziehungen eines meiner anderen Opfer gesetzt und mich bei einem New Yorker Verlag als Übersetzerin beworben. Schon damals hatte ich die Nase vom Morden voll; ich hatte genug Geld erwirtschaftet und wollte ein neues Leben beginnen.

Meine Geschichte hatte mich eingeholt. Der Verlag, genauer einer seiner Direktoren, hatte herausgefunden, dass ich nicht Johanna Svensson war, als die ich mich ausgab, denn die Schwedin war genauso tot wie meine sonstigen Lieferanten, sondern ihre Mörderin Viola.

Der Verlag lag in einer Übernahmeschlacht mit einem anderen Medienkonzern, der Dumb Media Group, die ihn übernehmen wollte.

Der Direktor hatte einen Plan. Wenn ich, die erfolgreiche Mörderin, Ronald Dumb, den sattsam bekannten Milliardär, auf meine unauffällige Weise erfolgreich vom Leben zum Tode beförderte, würde er mich laufenlassen und außerdem über die Börse Hunderte von Millionen zusätzlich verdienen. Das Letztere hatte er mir nicht erzählt, ich war ihm trotzdem draufgekommen.

Was ein guter Plan war. Den ich leicht abänderte, damit ich selbst dieses Geld verdienen konnte, denn auch Ronald Dumb bekam eine ähnliche Geschichte vorgesetzt, so dass ich auf beiden Seiten über Derivatehandel massiv verdienen konnte.

Ronald Dumb war ein eitler Pfau von Milliardär, der mehr auf seine Frisur als auf seine Sicherheit bedacht war. Ich ertränkte ihn nach einem gemeinsamen Golfspiel in seinem opulenten Waschbecken, indem ich ihn beim Haare färben unter seine goldenen Wasserhähne zwängte, bis er ertrunken war. Es sah wie ein Unfall aus.

Trophäe Nummer zwei, die größte von allen, nicht zu toppen. Den gefährlichen Unhold beseitigt, viele Millionen verdient, ohne Schrammen davongekommen.

Von New York aus hatte ich mich erst nach England abgesetzt, nach London, und von dort aus nach Schottland.

Auf dem New Yorker Flughafen war mir dieser Jungbulle begegnet, der mich dort nicht erkannt hatte. Ich war mir zumindest nicht sicher; er hatte mich trotz meines veränderten Aussehens angestarrt. Nun tun das viele Männer, denn ich bin eine sehr ansehnliche Frau; bei ihm war das anders. Kritisch, zweifelnd, verdächtigend.

Danach hatte ich ein paar Jahre Ruhe gehabt. Ich hatte nichts getan, mich in meiner neuen Identität in London herumgetrieben, Leute kennengelernt, nur leider keinen der Royals.

Andererseits wäre mir als gesuchter Mörderin zu viel Publicity schlecht bekommen, selbst wenn mich alle für tot hielten.

Nichtstun war noch nie etwas für mich. Ich habe schon immer den Erfolg gebraucht, den Rausch der Bewunderung, den ansteigenden Schwall des Applauses, den Kick, den mir Morde genauso gaben wie Erfolg. Macht über andere. Ich war die Beste, und alle sollten das wissen.

Andere Gefühle waren etwas für Loser.

Irgendwann erzählte mir ein flüchtiger Bekannter in einem Londoner Club, dass er eine der geschlossenen Destillen in Schottland kaufen wolle; es gäbe einige mit hervorragenden Namen, und schottischer Whisky wäre noch für Jahre eine erfolgversprechende Investition.

Das war etwas nach meinem Geschmack. Ein Schloss in den Highlands, Beschäftigung als Herstellerin eines erstklassigen Brandes, Zeit zum Schreiben und für die Kunst. Werke in 3D-Druck sind meine Spezialität; sie mussten ja nicht wieder die Asche von Leichen enthalten. Eine Destillerie als Feigenblatt für mein zusammengemordetes Vermögen, das war es. Korrekt Steuern zahlen, ansonsten im Hintergrund bleiben, nur die Creme der Gesellschaft treffen, als eine neue Frau, die mit den Mörderinnen Viola und Johanna nichts zu tun hatte.

Bis mein schlechtes Karma wie ein Bumerang auf mich zurückgeflogen kam, in Form des Schnüfflers Lukas Jansen, der scheinbar gern Whisky trank und plötzlich und unerwartet hinter mir gestanden hatte.

Und mich erkannte.

Gut. Wenn er schon Whiskyliebhaber war, sollte er Whisky bekommen, bis an sein Lebensende. Mit den richtigen Beigaben, so dass er gar nicht lange auf dieses Ende warten musste. Vorher musste ich meine Spuren wieder verwischen und mich unsichtbar machen. Ein paar Tage später, ein, zwei Wochen, dann konnte er mit einem Glas in der Hand vor seinem Kamin friedlich einschlafen.

Genau so würde ich es machen.

Kapitel 2

Während des Landeanfluges auf Heathrow fiel sein Blick auf die Londoner City, aus der ein markanter Turm wie der Überrest einer zersprengten Kathedrale nach einem nuklearen Angriff herausragte. The Shard, daneben die Tonne des Gherkin, dazwischen die altehrwürdigen Baudenkmäler wie St. Pauls und der Tower of London.

Die Hauptstadt der Sünde, was finanzielle Gier anging. Lukas Jansen, inzwischen Beamter beim BKA, hatten mehrere Spuren hierhergeführt.

Um die Versorgung Deutschlands mit dringend benötigtem Erdgas hatten sich russische Syndikate, die ihre Pipeline durchdrücken wollten, mit US-Agenten geprügelt; Nord Stream 2 gegen LNG-Terminals, ein gigantisches Milliardengeschäft. Beide Seiten wollten die riesigen Kavernen unter Friesland nutzen, es war zu Sabotagen und katastrophalen Bränden gekommen, beide Seiten hatten gegenseitig ihre Agenten ausgeschaltet. Es hatte Tote und Verletzte gegeben.

Nachdem es zu einer Art Waffenstillstand gekommen war, hatte eine dritte Seite einen Cleaner geschickt, der die noch umherirrenden Auftragskiller beider Seiten unauffällig beseitigt hatte, Unfälle, unglückselige Verkettungen von Umständen, so hatte es ausgesehen.

Nur eben nicht für ihn. Jansen hatte die Spur des Cleaners bis nach London verfolgen können, nachdem diese dritte mysteriöse Macht ihn fast im Wattenmeer kaltgestellt hätte.

Hier, in den Schaltzentralen des Kapitals, saßen Leute, die dafür sorgten, dass stets alles reibungslos ablief; ein Unternehmen oder eine Gruppe, der es dafür auf ein paar Menschenleben nicht ankam. Kollateralschäden für den permanent reibungslosen Ablauf der Wirtschaft und der Gewinnmaximierung, bei dem die Partikularinteressen von Russengas und Fracking-Gas aus den USA nur störten.

Er hatte keine Ahnung, wer dahintersteckte; eine große Versicherungsgruppe oder ein schattiger Rückversicherer? Ein diskreter Zirkel der Finanzwelt, dem es um die Stabilität des Aktienmarktes ging?

Deswegen war er diesmal nicht hier. Seine Familie war damals, als der Cleaner zugeschlagen hatte, auf den Kapverdischen Inseln in einem Safe House untergebracht gewesen. Dort hatte es seiner Frau Lisa und den Zwillingen so gut gefallen, dass sie jetzt dort ihren Sommerurlaub verbrachten, und genau dort wollte er hin.

 

Dennoch hatte er sich zwei Tage Aufenthalt in London gegönnt, bevor es weiterging. Außerdem hatte er bei dieser Flugverbindung noch dreihundert Euro eingespart, für einen Kommissar durchaus lohnend.

Er hatte ein paar schwache Spuren, die in den Sumpf der City führten, in den Moloch des im Dunklen wirkenden Geldes.

Der Airbus flog jetzt über Hammersmith und setzte zur Landung an. Jansen schnallte sich an.

Was soll’s, dachte er sich. Dafür ist später auch noch genug Zeit. Ich miete mir ein Auto und fahre nach Schottland. Eine Spur hatte auch dorthin geführt, die inzwischen zwar nicht mehr wichtig war, an die er sich aber dennoch gut erinnerte; ein teurer Single-Malt-Whisky war damals im Spiel gewesen, dessen leergetrunkene Flasche ein Rocker bei einem Angriff auf eine Gasverteileranlage bei Esens als Molotow-Cocktail benutzt hatte. Blair Athol hieß er, die Flasche für achthundert Euro, handsigniert, mit nur einer Flasche pro Kunden.

Sein Freund und Kollege Werner Heim hatte ihm als Ergänzung seines BKA-Ausweises eine Karte von Interpol besorgt, mit der er schneller durch die komplizierten Nach-Brexit-Kontrollen kam als die anderen Reisenden, die in langen Schlangen geduldig warteten.

Flüge nach Edinburgh gingen vom selben Terminal 5 ab. Er musste wieder hoch zum Abflug; es gab Flüge im Standby, sogar einen günstigen, und er konnte gleich zum Gate durchgehen. Das Gepäck flog weiter nach Praia auf den Kapverden, mit Handgepäck ging alles viel schneller. Mehr brauchte er für zwei Tage nicht.

Nach der Ankunft in Schottland mietete er sich einen Landrover und fuhr los, Richtung Pitlochry, an Perth vorbei, das es nicht nur in Australien gab, wie er erstaunt feststellte.

Gegessen hatte er im Flieger genug. Es war Nachmittag, die Fahrt sollte laut Navi eine Stunde und zwanzig Minuten in Anspruch nehmen. Ein Kinderspiel. Jansen streckte sich, knackte mit den Fingerknöcheln, machte ein paar Dehnübungen und angedeutete Karateschläge und zwängte seine Einsneunzig hinter das Steuer.

Beim Linksabbiegen und nach einem Kreisel bog er jeweils einmal auf die rechte statt auf die linke Spur ab, bevor er sich ans Linksfahren gewöhnt hatte. Und einmal hätte er aus Versehen statt zu schalten fast die Tür geöffnet; mit links zu schalten war sehr ungewohnt.

Warum machten die Schotten das mit, diesen Linksverkehr, dachte er. Die sind doch sonst so vernünftig und europafreundlich, anders als die Engländer mit ihrem Brexit.

Anderthalb Stunden später stand er auf einem leeren Parkplatz vor der Brennerei, wo der Stoff herkam. Blair Athol war nicht nur ein Whisky, sondern auch der Name eines Schlosses in der Nähe, wie ein Hinweisschild anzeigte.

Das Gebäude hatte bereits geschlossen, obwohl es noch nicht achtzehn Uhr war; Jansen fragte in seinem gebrochenen Englisch einen Einheimischen, den er kaum verstand, der ihm aber klarmachte, dass er den Whisky auch im Hotel bekommen würde. Er schickte ihn zum Hydro Hotel, das aussah wie das Klubhaus eines Golfklubs.

Am nächsten Morgen, nach einem ungewohnt fetten englischen Frühstück, war er der Erste, der sich für eine Führung anmeldete. Zu viel probieren durfte er nicht, wenn er zurück nach Edinburgh fahren wollte. Besser früh anfangen, hatte er sich ausgerechnet, dann bist du nachher wieder nüchtern.

Im Verkaufsraum, von wo aus die Führung starten sollte, fühlte Jansen sich betrogen. Angeboten wurden fast ausschließlich amerikanische Whiskeys, und das in Schottland; Johnny Walker und Bell’s.

Er fragte sich durch. Irgendjemand hatte die Brennerei übernommen und der ursprünglichen Destille von Blair Athol nur noch ein kleines, aber feines Steinhaus gelassen, in dem ausschließlich Single Malt verkauft wurde. Gebrannt wurden sie alle gemeinsam in den großen und schlichten Hallen vor dem Parkplatz.

Jansen hatte Glück. Die Führung durch die Brennerei des ursprünglichen Blair Athol, der nach dem Schloss in der Nähe benannt war, ging gerade los.

Der Führer sprach ein merkwürdiges Englisch, das ihn von der Aussprache her ans Deutsche erinnerte. Ein ausgewanderter Landsmann? Nein, er war Schotte, antwortete er auf Jansens Frage.

Diese Führung hätte ich auch in Jever haben können, dachte sich der gebürtige Friese. Whisky wurde nicht anders gebraut als Bier, bis auf den Umstand, dass das Malz über einem Torffeuer zubereitet wurde und dessen Geschmack annahm.

Das Produkt sah nicht anders aus als ein dunkles Bier, bevor es in alten Kupferkesseln destilliert und zum Reifen in gebrauchte Sherry-Fässer abgefüllt wurde.

Jansen fiel unter seinen Mitbesuchern eine Frau auf, die ihm bekannt vorkam. Sie stellte viele Fachfragen in gutem Englisch, nicht Schottisch, und so, wie sie fragte, wollte sie anscheinend selbst in die Herstellung von Whisky einsteigen.

Jansen trat hinter sie, um besser verstehen zu können, und berührte sie zufällig an der Schulter. Sie fuhr herum, erschrocken, und auch Jansen fuhr der Schreck durch die Glieder, als er ihr ins Gesicht sah. Es war der Schock, jemanden unerwartet zu treffen, ohne sagen zu können, wie diejenige hieß und wer sie war. Kein Name fiel ihm ein.

Die flüchtige Begegnung ließ ihn nicht mehr los; sie hatte eine tiefsitzende Erinnerung losgetreten, die gleich eine Flut von Signalen an andere Synapsen sendete und ihn in Alarm versetzte. Wer war diese Frau? Woher kannte er sie?

Sie hatte eine graublaue Kurzhaarfrisur, die sie wie eine Katze aussehen ließ, auch die beiden halbrunden Schnitte vor der Stirn mit einem spitz zulaufenden Dreieck in der Mitte erinnerten ihn an Catwoman. War das die Schauspielerin? Nein. Die war dunkelhäutig gewesen. Halle Berry.

Wie alle trug sie ein Namensschild, das sie als Vanessa Hemsford auswies, was ihm nichts sagte. Doch dann hatten die Impulse durch seine angeregten Gehirnareale Jansens Hörzentrum erreicht; die Stimme! Er kannte sie. Daran erinnerte man sich stärker und länger als an das Aussehen einer Person, und sie ließ sich kaum verändern. Frisuren, Haar- und Augenfarben, Teint, das alles konnte man wechseln wie ein Hemd, die Stimme nicht.

Und dieses Organ gehörte zu einer Frau, die er irgendwann, irgendwo einmal verhaftet hatte. Er kannte sie, gut sogar, sie versetzte ihn in helle Panik, doch der Name wollte nicht aus dem Gedächtnis aufsteigen. Wer war diese Person, die so anders aussah, als ihre Stimme erwarten ließ?

Die Frau hatte braune Augen. Hätten sie nicht blau sein sollen? Die Haare lang und rotblond?

Mit der Stimme war auch etwas anders. Sie war rauchiger, sie war das Äquivalent eines Single Malt, während die Erinnerung eher wie ein Bourbon klang.

War sie es doch nicht? Erlebte er eine Art falsches Deja Vu? War sie jemand aus dem Fernsehen?

Der Name Vanessa Hemsford sagte ihm gar nichts.

Viola Kroll, schoss es schlagartig wie ein elektrischer Schock durch Jansens Bewusstsein, als die Erinnerung wie ein Sektkorken aus ihrem Schlummer herausploppte.

Er hatte diese Frau in Italien verhaftet. Und sie dann später in New York, auch schon anders aussehend, auf dem Flughafen gesehen, während eines Kurzurlaubs mit der Familie.

Sie war nach allem, was Werner Heim und er über sie herausgefunden hatten, eine vielfache Mörderin. Heim und Jansen hatten sie nach der Verhaftung aus formalen Gründen der italienischen Justiz übergeben müssen; in Rom war sie gegen Kaution freigelassen worden, und gleich am Tag darauf war sie bei einem Autounfall in der Toskana gestorben. Sie war mit zweihundertzwanzig aus einer Kurve der Autostrada geflogen und sofort tot gewesen. Im Auto hatten sich Haare, Ausweise, Fingerabdrücke und andere Spuren von ihr gefunden, die Leiche selbst war verbrannt und nur noch ein Stück auf Zwergengröße geschrumpfte Kohle gewesen.

Wie war es möglich, dass sie trotzdem überall auftauchte und noch lebte, auch wenn sie anders aussah? Hatte sie eine Doppelgängerin, eine Zwillingsschwester?

Sein Aussehen konnte man ändern, bei der Stimme, beim Gang und der Körpersprache war das nicht so einfach. Sie war es, jetzt war sich Jansen schon zu neunzig Prozent sicher.

Vanessa Hemsford hatte gerade eine Frage über den Angels’ Share gestellt, den Anteil des Whiskys, der im Laufe der Zeit verdunstete, als Jansen sich eine kurzfristige Überraschungsstrategie zurechtlegte, seinen Mut zusammennahm und sie ansprach.

»Mensch, Viola, was machst du denn hier?«, sprach er sie von hinten an wie einer, mit dem sie schon im Sandkasten gespielt hatte. »Willst du jetzt Whisky brauen, oder was?«

»Genau,« entfuhr ihr eine spontane Antwort, bevor sie ihren Lapsus bemerkte, herumfuhr und erstarrte.

Sie war es selbst, nicht eine Schwester. Sonst hätte sie nicht auf die Ansprache mit ihrem Namen Viola reagiert.

Aber schon hatte sie sich wieder in der Gewalt.

»Excuse me?«, sagte sie mit schiefgelegtem Kopf und gerunzelter Stirn. Sie sprach auf Englisch weiter.

»Sie müssen mich verwechseln, mein Herr. Außerdem ist es unhöflich, mich bei meiner Frage zu unterbrechen. Lassen Sie mich bitte in Ruhe weiter zuhören, ja?«

Jansen blieb eng hinter ihr stehen; sie wirkte jetzt sichtlich irritiert.

Ein anderer Besucher fragte nach der Art der Holzfässer.

»Du hast deinen Tod nur getürkt, oder?«, flüsterte Jansen ihr zu. »Ich werde das untersuchen lassen. Du entkommst mir nicht noch einmal, Viola.«

Mit dem Ergebnis, dass sie einen kleinen Aufruhr verursachte und Jansen rausgeworfen wurde.

»Das ist ein verdammter Stalker, der Bursche, der stellt mir schon länger nach«, behauptete sie. »Der hat mir gerade an den Po gefasst! Kann bitte jemand die Polizei rufen? Das ist doch unerhört, was manche Leute sich erlauben! Und das in Ihrer altehrwürdigen Brennerei!«

Den letzten Satz hatte sie an den Führer gerichtet.

Der bat ihn höflich zu gehen und sich doch der nächsten Führung anzuschließen, wenn er wirklich Interesse an Whiskys und nicht nur an dieser Frau hätte, die er im Übrigen bitte in Ruhe lassen möge.

Jansen war raus aus der Führung, aber nicht vom Gelände. Er stand verdattert vor dem Haus; was nun?

Kapitel 3

Beim ersten Umdrehen hatte ich nicht gewusst, wer da hinter mir stand, um einiges größer als ich selbst. Ich kannte viele Menschen, aus meiner Berliner Zeit, aus New York und London. Ein flüchtiger Bekannter?

Als er mich über die Schulter ansprach, reagierte ich freundlich auf seine nett klingenden Worte. Im selben Moment klingelte es in meinen Ohren; ich kannte dieses wohltönende Organ, kräftig und doch etwas piepsig. Ein deutscher Bulle, einer der lästigen Verfolger, die mich damals am Lago Maggiore in Schwierigkeiten gebracht hatten.

Ihn auf die Schnelle loszuwerden, war mit den Waffen einer Frau einfach. Einer empörten schönen Frau glaubte das jeder, dass ihr ein Schnösel wie der hochgeschossene Jungbulle an den Po gegriffen hatte.

Als die Führung weiterging, ging ich im zweiten Stock unauffällig ans Fenster und spähte hinaus. Jansen schlenderte mit gesenktem Kopf zu einem Landrover auf dem Parkplatz, nachdem er wütend einige Steine hier- und dorthin gekickt hatte. Er stieg ein und parkte um, gerade noch in Sichtweite der anderen Autos auf dem Parkplatz.

Er wartete auf mich und wollte mir folgen.

Gut. Das würde ich nicht bemerken, nahm ich mir vor. Er sollte mir folgen, ich wusste schon, wie ich ihn abhängen konnte. Ich hatte gestern bei einer anderen Destillerie, Dalwhinnie, zu viel probiert und meinen eigenen Wagen stehen lassen. Ein netter Herr hatte mich mit zurück nach Perth genommen, wo ich mir vor Monaten eine Villa gekauft hatte.

Ich würde mit meinem Mietwagen dorthin fahren und die Führung noch einmal mitmachen oder zumindest anfangen. Mein eigener Wagen stand auf dem Mitarbeiterparkplatz, den Tesla würde ich stehen und später abholen lassen. Die Extrakosten waren es mir wert.

Polizisten sind so berechenbar. Jansen würde mich aus sicherer Entfernung beobachten und warten, dass ich weiterfuhr. Also würde ich ihm im Tesla ein schönes Ziel liefern, wo er mich suchen konnte und wo ich niemals hinfahren würde. Dufftown. Das konnte er mit einem kurzen Blick aufs Navi leicht feststellen.

Ich selbst verließ die Destille in Dalwhinnie durch den Hintereingang und fuhr zurück mit meinem eigenen Wagen nach Perth, einige Meter an ihm vorbei, mit einem Kopftuch. Er bemerkte mich nicht, sah nur erwartungsvoll auf meinen Mietwagen.

 

Sein Kennzeichen hatte ich mir aufgeschrieben und prüfte sie zu Haus nach. Sie fing mit SK an, was für Edinburgh stand, und war auf eine Mietwagenfirma eingetragen. Ich habe in meiner Karriere gelernt, mit welcher Software ich was hacken konnte, und klopfte mir geistig auf die Schulter.

Er hatte den Wagen am Flughafen gemietet, war also mit dem Flugzeug hergekommen. Hatte er nach mir gesucht? Unwahrscheinlich, denn dann hätte er in Perth vor meiner Tür gestanden und nicht bei einer Führung einer kleinen, aber feinen Whiskybrennerei. Das konnte nur Zufall gewesen sein.

Passagierlisten unterliegen dem Datenschutz, mich da einzuhacken war mir noch nie gelungen. Ich kannte aus meinen Londoner Tagen einen jungen Mann, der bei British Airways arbeitete, und rief ihn an. Ich würde zusammen mit einem Lukas Jansen fliegen, er wäre nicht erschienen.

»Sein Flug geht auch erst morgen«, erklärte er mir. »Nach London. Dann könnten wir uns doch mal wieder treffen, Victoria, was meinst du? Oder fliegst du auch auf die Kapverden? Ich bin in Heathrow, ihr habt drei Stunden Übergangszeit, auf einen Kaffee? Was meinst du? Und soll ich den Flug gleich für dich buchen? Du stehst noch nicht auf der Liste, Sweetheart.«

»Ich rufe dich an«, säuselte ich zurück. »Wenn ich es schaffe, ich wollte vorher noch einiges einkaufen. Vielleicht fliege ich erst später. See you, Norton.«

Ich rechnete nach. Wenn Jansen auf mich wartete und irgendwann weiter nach Dufftown fuhr, musste er abends zurück, um den Flug am nächsten Morgen zu erwischen, oder durch die Nacht fahren.

Ich musste darauf setzen, dass die Begegnung Zufall gewesen war, ansonsten stand er bald vor meiner Tür, mit einer Waffe in der Hand.

Er hatte mich schon einmal unrechtmäßig festgenommen, in der Schweiz. Aber anstatt mich den Schweizer Behörden vorzuführen, hatte er mich in eine deutsche Exklave gefahren, die nur über die Schweiz zu erreichen war, aber der deutschen Gerichtsbarkeit unterlag.

Der brachte es fertig, mich hier privat festzunehmen und auf einem Fischtrawler zurück nach Deutschland zu bringen, um mich vor ein Gericht zu stellen. Das Risiko durfte ich nicht eingehen; ich übernachtete in einem Dorfgasthaus in der Nähe, von dem aus ich mein Haus beobachten konnte.

Jansen war bei seiner Jagd nach mir nie allein unterwegs gewesen. Er war immer von einem ältlichen Polizisten begleitet worden, Werner Heim, der mehr Erfahrung und Befugnisse als der Jungbulle hatte, ein BKA-Agent.

Heim hatte ursprünglich meinem Opfer Gero von Witzleben nachgestellt, bis er und Jansen herausgefunden hatten, dass dessen letzte Spur zu mir geführt hatte. In Italien hatten sie einen Bildband gefunden, in dem praktisch alle meine Morde aufgelistet waren, ein Produkt meiner eigenen Eitelkeit, die ich noch heute verfluchte.

Ich hatte den Bildband für meinen Schönling von der Mafia angefertigt, der mein wichtigster Kunde war und den Verkauf meines Werks an einen New Yorker Capo organisiert hatte. Der Klub der toten Dichter; acht keramische 3D-Künstler um einen Tisch mit Büchern, in jeder Skulptur die Asche der echten Person, vermischt mit Ton und Titandioxid. Nur er, Giovanni de Luca, hatte die Wahrheit darüber wissen sollen.

Mit dem Ergebnis, dass mich auch die Mafia tot sehen wollte, als die beiden mir diesen Bildband gestohlen hatten und alles aufgeflogen war. Meine Eitelkeit hatte meinen Morden die Perfektion genommen. Das verfolgte mich bis heute.

Ich durfte annehmen, dass Jansen auch diesmal Heim wieder einschalten würde. Der war der Hartnäckigere von beiden und würde sich wie ein Terrier an mir festbeißen; Jansen war jemand, der das Glück des Naiven hatte, ihm fehlte der Scharfsinn Heims. Beide zusammen waren gefährlich.

Auch allein war jeder von ihnen eine Bedrohung. Dafür hatte ich mir kein neues Leben aufgebaut, um am Ende mein Ansehen und mein immenses Vermögen wieder zu verlieren und eines Tages am Pranger zu stehen.

Ich hatte der Welt mit der Beseitigung von Ronald Dumb einen großen Dienst erwiesen; das sollte karmamäßig den Tod einiger kleinerer Lichter mehr als aufwiegen. Und auch der vorzeitige Tod zweier unwichtiger Polizisten würde die Waagschale von Gut und Böse nicht zu meinen Ungunsten neigen.

Ich goss mir einen Schluck Blair Athol ein, den ich heute erstanden hatte, und seufzte. Also noch zwei weitere klitzekleine Morde, nicht nur einer.

Der Whisky sandte einen wohligen Schauer erst durch meine Kehle und dann durch den ganzen Körper, sein Rauchgeschmack erfüllte mich mit Lust.

Das war eine neue Art Beute; Polizisten hatte ich noch nicht gehabt. Sie ohne Aufsehen zu beseitigen, würde einige Mühe erfordern. Eine Herausforderung, die reizte.

Ich nahm noch einen Schluck.

Whisky. Ich stellte mir vor, dass Jansen Heim eine Flasche als Andenken aus Schottland versprochen hatte. Er durfte seit dem Brexit nur noch eine Flasche mitnehmen, die würde er selbst haben wollen, wie ich ihn einschätzte.

Also würde ich Heim eine Flasche schicken. Heim war alt; die Essenz aus der Wurzel des Blauen Eisenhutes, farb- und geruchlos und Stunden später so gut wie gar nicht nachzuweisen, würde im starken Torfgeschmack nicht zu bemerken sein. Richtig bemessen, würde sie erst nach dem Genuss mindestens einer halben Flasche zum Tode führen. So würde es nicht auffallen. Zu stark, und er würde nach dem ersten Schluck umfallen. Zu schwach, dann passierte gar nichts.

Bei einem alten Mann würde es wie ein natürlicher Herztod aussehen. Er würde ihn abends vor dem Schlafengehen trinken und morgens nicht wieder aufwachen; am Abend würde er noch nichts spüren, so schnell wirkte das Gift nicht.

Ältere, korpulente Männer neigten zum Schnarchen. Also würde er allein schlafen, wenn er überhaupt verheiratet war und mit seiner Frau zusammenlebte. Mit etwas Glück würde sein Tod erst viele Stunden später bemerkt werden.

Kein perfekter Mord, denn vieles konnte schiefgehen. Jemand anderes konnte mit ihm trinken oder die Reste in der Flasche zu sich nehmen. Zwei ähnliche Tode würden auffallen.

Andererseits durfte ich nicht so lange warten, bis die beiden sich organisiert hatten und systematisch nach mir suchten. Darüber hatte ich keine Kontrolle. Ich musste sofort handeln.

Niemand fuhr zu meinem Haus; es war tatsächlich Zufall gewesen, dass Jansen mich getroffen hatte. Ich stand früh auf, kaufte mir eine Burka, die ich sofort überzog, fuhr los und setzte mich in ein Café auf dem Edinburgher Flughafen.

Jansen blieb berechenbar. Er kam pünktlich zu seinem Flug, mit einer Duty-Free-Tasche in der Hand, aus der eine Whisky-Flasche schaute. Sein Flug ging planmäßig ab.

Ich selbst hatte eine Flasche Macallan Estate für dreihundert Pfund gekauft, als Absender Lukas Jansen darauf draufgeschrieben und schickte sie nun vom Flughafen per DHL an Werner Heim, dessen private Adresse ich noch am vorigen Abend herausgesucht hatte.

Die Flasche hatte ich vorher auf der Toilette durch den Korken hindurch mit einer feinen Spritze mit dem Extrakt des Blauen Eisenhutes geimpft. Der Eigendruck des Korkens verschloss den Kanal sofort wieder, und das winzige Loch auf der metallenen Schrumpfhülle fiel nicht auf. Ich packte alles wieder ein, zog meine Handschuhe wieder aus und erledigte den Versand.

Wenn Jansen von seinem Urlaub zurückkam, würde Heim womöglich schon nicht mehr da sein. In der Zwischenzeit würde ich auch für ihn selbst einen Plan geschmiedet haben. Ein Beamter wie er hatte mit Sicherheit für zwei Wochen gebucht. Ich hatte nachgesehen; in Niedersachsen, wo er wohnte, liefen die Schulferien noch sechzehn Tage, dann mussten seine beiden Kinder in die zweite Klasse. Wie berechenbar! Der Junge war so gut wie tot.