Loe raamatut: «Marken für Menschen»
Thomas Harder | Nicolas Wüthrich
Marken
für
Menschen
Wie weiter nach dem
Marken-Missverständnis
Versus · Zürich
Im nachfolgenden Text sind bei der Verwendung von männlichen Personenbezeichnungen stets Männer und Frauen gemeint.
Für den Lesefluss verzichten wir auf Quellenverweise im Text.
Ein ausführliches Quellenverzeichnis findet sich am Ende des Buchs.
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© 2016 Versus Verlag AG, Zürich
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Gestaltung Umschlag: Tim Landheer · Winterthur
Schriftarten: Minion, Frutiger
ISBN 978-3-03909-701-2
eBook-Herstellung und Auslieferung:
Brockhaus Commission, Kornwestheim
Inhalt
Prolog | Etwas läuft fundamental schief |
Kapitel 1 | Das Menschenbild als Fundament |
Das Menschenbild stellt die Weichen
Facette 1: Menschen sind sozial
Facette 2: Menschen suchen Vertrautes
Facette 3: Menschen sind einzigartig
Facette 4: Menschen sind feinfühlig
Facette 5: Menschen reagieren emotional
Menschen sind so, wie man mit ihnen ist
Kapitel 2 | Wie man Marken für Menschen umsetzt |
Nicht die Marke macht die Differenz, sondern die Differenz die Marke
Dimension 1: Konkret-präzise Leistungen schaffen Emotionen
Dimension 2: Differenzierung – vom Feinsten
Dimension 3: Wertschöpfung und Nutzen
Dimension 4: Konsequenz, Konsistenz und Kontinuität – die sich entwickeln
Dimension 5: Kundschaft als Instanz
Das Konstruktive Nein
Kapitel 3 | Wie Marken für Menschen Führung und Entwicklung radikal verändert |
Marke zu Ende denken
Haltung 1: Marken für Menschen sind Schöpfer
Haltung 2: Marken für Menschen durchdringen das Ganze
Haltung 3: Marken für Menschen sind ganz bei sich und ihrem Wesen
Haltung 4: Marken für Menschen vertrauen ihrer Kundschaft und hören ihr anders zu
Haltung 5: Marken für Menschen machen den Markt – wenn Kommunikation mitmacht
Epilog | Marke ist nicht mehr das Gleiche |
Quellen
Autoren
Prolog
Etwas läuft fundamental schief
Schauplatz 1
Aus einer Medienmitteilung vom 24. Juli 2000: «Von heute an tritt unser Unternehmen unter einem Namen auf, BP. Das vertraute grün-gelbe BP-Zeichen in Form eines Schildes sowie die Amoco-Flamme werden durch ein neues Symbol ersetzt, welches einen Sonnendurchbruch in den Farben Grün, Weiss und Gelb darstellt. Nach dem Sonnengott Helios benannt will das neue Logo die Dynamik jeder Form von Energie veranschaulichen (…). Wir sind überzeugt, dass es Identifikation und gemeinschaftliches Handeln unserer 100 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in über 100 Ländern massgeblich stärken wird. Von ihnen hängt ab, dass wir unsere Produkte und Dienstleistungen so produzieren und verteilen, dass wir unserem Anspruch, ein fortschrittliches, verantwortungsvolles Unternehmen zu sein, genügen.»
Mit dem neuen Auftritt lanciert BP eine weltweite Kampagne «BP – beyond petroleum» mit der Kernbotschaft, besonders ökologisch und verantwortungsvoll zu handeln. Anzeigen, Plakate und Werbespots tragen die Botschaft auf breiter Front ins Publikum. In Marketingfachzeitschriften und -vorträgen wird BP durch seine Kampagne zum viel genannten Musterbeispiel für einen erfolgreichen Imagewandel – vom Ölmulti zum Ökokonzern.
Zehn Jahre danach: Auf der BP-Bohrplattform Deepwater Horizon im Golf von Mexiko tritt Gas aus und explodiert. Die Bohrplattform sinkt. Weil das Bohrloch nicht verschlossen werden kann, fliessen während mehrerer Monate geschätzte 600 Millionen Liter Öl in den Golf von Mexiko und verschmutzen Flora und Fauna massiv. Man geht davon aus, dass der Golf von Mexiko noch jahrzehntelang davon belastet sein wird.
Untersuchungen bringen an den Tag, dass BP nicht nur auf Deepwater Horizon grundlegende Sorgfaltspflichten missachtete, sondern aus Spargründen auch andernorts grosse Risiken für Menschen und Umwelt in Kauf genommen hat, ja dass BP entgegen dem vermittelten Bild gar keine substanzielle Ökologie-Strategie verfolgte.
BP muss für Deepwater Horizon Kosten in der Höhe von 54 Milliarden US Dollar tragen. An einen Ökokonzern denkt bei BP niemand mehr.
Schauplatz 2
«It’s all plug and play, with markedly different cars coming from the same Lego set.» (Übersetzung siehe Quellenverzeichnis) Diese Aussage macht Bob Lutz, Verantwortlicher für die globale strategische Unternehmens- und Produktentwicklung bei General Motors, anlässlich eines Vortrags in Zürich. Er stellt dort den sogenannten Touchpoint-Ansatz von General Motors für die Differenzierung zwischen den vielen Marken im Konzern vor. Er erläutert, dass die Teile und Komponenten, mit denen die Kunden nicht in Berührung kommen, vereinheitlicht und damit Kosten gespart werden. Die Ausprägung der Marken werde durch Unterschiedlichkeit an den Touchpoints hergestellt. Als Paradebeispiel für den Ansatz präsentiert Lutz, wie die Marke Invicta an die Mittelklasse-Plattform mit Chevrolet, Saab, Opel/Vauxhall angeschlossen wird.
Auf eine Frage aus dem Publikum, ob diese Vereinheitlichung Marken mit echtem Profil wie Saab nicht schwäche, antwortet Bob Lutz: «Wenn man es nicht weiss, ist die gleiche Herkunft der Autos schwer festzustellen.»
Saab und Invicta sind fünf Jahre später vom Markt verschwunden. General Motors meldet im Jahre 2011 nach mehreren Geschäftsjahren mit Milliardenverlusten Insolvenz an und muss durch eine staatliche Finanzierung wiederbelebt werden. Die Rolle als weltweit grösste Automobilhersteller übernehmen Toyota und VW.
Schauplatz 3
Aus einem in «Die Zeit» als redaktioneller Artikel veröffentlichten Manifest: «Für Hamburg hat die Konkurrenz der Standorte mittlerweile dazu geführt, dass sich die städtische Politik immer mehr einer ‹Image City› unterordnet. Es geht darum, ein bestimmtes Bild von Stadt in die Welt zu setzen: das Bild von der ‹pulsierenden Metropole›, die ‹ein anregendes Umfeld und beste Chancen für Kulturschaffende aller Couleur› bietet. Eine stadteigene Marketing-Agentur sorgt dafür, dass dieses Bild der ‹Marke Hamburg› in die Medien eingespeist wird. (…)
Liebe Standortpolitiker: Wir weigern uns, über diese Stadt in Marketing-Kategorien zu sprechen. Wir sagen: Aua, es tut weh. (…) Wir lassen uns nicht für dumm verkaufen. (…)
Wir denken an andere Sachen. An über eine Million leer stehende Büroquadratmeter zum Beispiel und daran, dass ihr die Elbe trotzdem immer weiter zubauen lasst mit Premium-Glaszähnen. Wir stellen fest, dass es in der westlichen inneren Stadt kaum mehr ein WG-Zimmer unter 450 Euro gibt, kaum mehr Wohnungen unter 10 Euro pro Quadratmeter. (…)
Wir glauben: Eure ‹wachsende Stadt› ist in Wahrheit die segregierte Stadt, wie im 19. Jahrhundert: die Promenaden den Gutsituierten, dem Pöbel die Mietskasernen ausserhalb. Und deshalb sind wir auch nicht dabei, beim Werbefeldzug für die ‹Marke Hamburg›.»
Schauplatz 4
Anfang 2008 übernimmt der Schweizer Lebensversicherer Swiss Life den deutschen Finanzdienstleister AWD mit der Absicht, für die eigenen Versicherungsprodukte Zugang zum deutschen und österreichischen Markt zu erhalten. Zentrales Verkaufsversprechen von AWD ist bis zu jenem Zeitpunkt die unabhängige Beratung.
Marktzugang für die Swiss Life Produkte und Unabhängigkeit der AWD-Beratung stehen in direktem Widerspruch. Entweder erreichen die Swiss Life Produkte ohnehin diese Märkte, weil sie die strengen AWD-Kriterien erfüllen und entsprechend empfohlen werden oder AWD gibt seine die Unabhängigkeit der Beratung sichernden Aufnahmekriterien auf.
Lange versuchen die beiden Unternehmen, diesen Widerspruch schönzureden. In den Märkten bleibt er jedoch hartnäckig an AWD hängen und wirkt sich negativ aufs Geschäft aus. 2009 schliesslich verbietet ein Gerichtsurteil AWD die Nutzung der Bezeichnung «Unabhängige Beratung».
Im Jahre 2012 muss Swiss Life bei der AWD-Beteiligung eine Abschreibung von über 600 Millionen Franken vornehmen. Die missglückte Akquisition führt auch zu einem Wechsel an der Spitze von Swiss Life.
Das Marken-Missverständnis
Die geschilderten Fälle stehen für eine Vielzahl von Ereignissen und Entwicklungen gleicher Art. Alle resultieren aus Überlegungen und Entscheidungen führender Akteure, welche auf diesem Weg Unternehmen und Institutionen zu Gewinn und Erfolg zu führen meinen. Wie ist diese Verirrung möglich?
Wir orten hinter diesen Entwicklungen ein fundamentales Missverständnis, wie Marken entstehen und funktionieren. Wir nennen es das Marken-Missverständnis. Das Marken-Missverständnis trennt Leistungserstellung und Marke – trennt Innen und Aussen:
Für das Aussen, «die Markenbildung», sind die Kommunikations-, Marketing- und andere aussenorientierte Aktivitäten wie das Mitarbeiterverhalten am Verkaufspunkt verantwortlich. Ein eigenständiges Instrumentarium, basierend auf Markenwerten und -botschaften, dient als Grundlage und ist darauf ausgerichtet, ein Markenimage oder -bild in den Köpfen der Menschen zu erzeugen. Für die Markenführung ist eine Person oder Abteilung unterhalb der Geschäftsführung verantwortlich, ihr Wirken ist aussenorientiert. Sie befasst sich mit Logos, Kommunikation, Events und Ähnlichem. In operative Themen ist sie nur am Rande involviert.
Das Innen, die Entwicklung und Führung der dahinterstehenden Unternehmen oder Institutionen, ist eine andere Disziplin. In den Führungs- und Entwicklungsinstrumenten kommt das Thema Marke vielleicht als separates Kapitel mit dem oben beschriebenen Fokus vor. Davon losgelöst werden aber strategische Pläne entwickelt und Entscheidungen getroffen, wird operativ gehandelt und gemessen. Bei Einkauf, Innovationsstrategie, Preispolitik, Controlling, Kostensenkungsprogrammen oder Mitarbeiterauswahl spielen Markenüberlegungen ebenso wenig eine wesentliche Rolle.
Diese Trennung ist ein Missverständnis, weil sich Marke sowohl durch das Innen als auch das Aussen bildet. Die eingangs beschriebenen Ereignisse führen dies stellvertretend vor Augen:
BP ist durch Werbung und PR in der Aussenwahrnehmung für eine gewisse Zeit zum Ökokonzern geworden, ohne dass im Innern adäquate Handlungen mit der notwendigen Konsequenz folgten. Der Deepwater Horizon Vorfall zerstörte das Bild eines ökologischen Unternehmens über Nacht. Mehr noch, die grosse Diskrepanz zwischen kommuniziertem Aussen und gelebtem Innen wird die Glaubwürdigkeit von BP noch lange belasten. Erst mittels überzeugender Taten während vieler Jahre – Arbeit am Innen also – kann sich BP in den Köpfen der Menschen rehabilitieren und wieder mit Ökologie in Verbindung bringen.
Bei General Motors wird deutlich, dass die Produktoberfläche und Touchpoints nicht zur Ausbildung einer tragfähigen Marke genügen. Erst wenn sich die Leistungen von Produkt oder Dienstleistung bis ins Innere unterscheiden – bei einem Fahrzeug zum Beispiel Qualität und Art des Motors, Sicherheit, Zuverlässigkeit oder Verbrauch – passiert dies.
In Hamburg erkennen engagierte Bürger, wie Marketinganspruch und Alltagswirklichkeit auseinanderklaffen. Ja, ihre Beobachtungen führen sie zum Schluss, dass das Marketing und seine Folgen das soziale Gefüge der Stadt destabilisieren.
Bei der Akquisition von AWD durch Swiss Life schliesslich werden strategische Entscheidungen isoliert und ohne Markengesamtsicht gefällt. Den von AWD durch jahrelanges Verhalten erarbeiteten Ruf als unabhängiger Vermögensverwalter untergräbt Swiss Life direkt und mit weitreichenden Folgen für beide Unternehmen, indem sie die AWD-Vertriebskanäle zur Erschliessung des deutschen Markts für die Swiss Life Produkte nutzt.
Das Marken-Missverständnis hat in den letzten Jahren weite Kreise gezogen, weil das Thema Marke beziehungsweise Branding hohe Beachtung gefunden und in fast allen Unternehmen und Institutionen Einzug gehalten hat – keine Universität ohne Markenprofessur, kein Lehrgang in Kultur-, Standort- oder Unternehmensmanagement ohne Markenblock, kein Strategie- oder Entwicklungsprozess ohne Markensequenz. Überall wird dem oberflächlichen, trennenden Verständnis von Marke gefolgt.
Die Beispiele sind deshalb keine Einzelfälle, sondern Ausdruck einer systematischen Fehlentwicklung. In sehr vielen Unternehmen und Institutionen laufen Innen- und Aussenaktivitäten heute stark entkoppelt und ohne präzisen inneren Zusammenhang ab. Die Werbung zielt auf Emotionen ohne Bezug zur Leistung, das Marketing befragt Nichtkunden und definiert Wunsch- statt Leistungszielgruppen, die Produktion muss primär effizient sein, Forschung und Entwicklung innovativ, die Führung gut managen.
Wie weit vorgedrungen das Marken-Missverständnis ist, zeigen aber auch Rechnungslegung und Recht. In der Rechnungslegung ist es anerkannter internationaler Standard, Unternehmen und Marke separat zu bewerten. Mit anderen Worten werden Leistungserstellung und Aussenwirkung als voneinander unabhängig behandelt. Den zweiten, formalen Ausdruck des Marken-Missverständnisses gibt das Markenrecht. Es befasst sich einzig mit Namen und Zeichen. Und die Trennung wird auch vollzogen, wenn bei Akquisitionen nur die Rechte an Namen, Zeichen und Patenten gekauft werden, während die Produktion eingestellt wird.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass noch nie so viel über das Thema Marke geredet und geschrieben, aber bei genauer Betrachtung noch nie so wenig dafür gemacht worden ist wie heute.
Marken-Misstrauen als fatale Folge
Die auf dem Marken-Missverständnis beruhende Trennung von Innen und Aussen bleibt dem Publikum nicht verborgen. Mehr noch, diese Trennung ist zentrale Ursache des in den letzten Jahren eingetretenen enormen Vertrauensschwundes in Unternehmen und Institutionen. Kunden und Publikum spüren früher oder später, wenn Innen und Aussen auseinanderklaffen. Sie sind verärgert, wenden sich innerlich ab, wenn sie können auch mit ihrem Verhalten.
Das Marken-Missverständnis resultiert in Marken-Misstrauen – oder anders gesagt, Marke hat das Gegenteil von dem bewirkt, was beabsichtigt war und ist: Statt Vertrauen hat sie Misstrauen und opportunistisches Kaufverhalten gesät.
Es gibt viele und starke Anzeichen für das tiefe Misstrauen gegenüber Marken:
Marken werden zwar bewundert und gekauft, aber ebenso mit «den Preis nicht wert», «viel Fassade» und «Missbrauch von Marktmacht» gleichgesetzt.
Im Internet findet sich eine Vielzahl von Informationsplattformen und Foren rund ums Thema unredliches Verhalten von Markenherstellern.
In Rankings über Glaubwürdigkeit und Vertrauenswürdigkeit finden sich als Marken bekannte Unternehmen und Institutionen zunehmend in hinteren Positionen.
Laut einer Umfrage bei unserer Kundschaft erfüllen gerade ein Drittel der bekannten Unternehmen und Institutionen die Erwartungen, die sie wecken.
Das Buch «No Logo» von Naomi Klein hat diesem Unbehagen eine vielbeachtete Stimme gegeben und eine weltweite Anti-Label-Bewegung ausgelöst – das oben zitierte Manifest über die Stadt Hamburg als Marke bringt es auf den Punkt: «Wir sind nicht dabei. Lasst den Scheiss.»
Die Tiefe dieses Misstrauens ist fatal und wird in ihrer Bedeutung noch völlig unterschätzt. Es muss Führungskräfte beschäftigen, dass Wirtschaften und Arbeiten in der entstehenden Kultur des Misstrauens nie die gleiche Qualität und Effizienz erreichen kann.
Die durch das Marken-Missverständnis entstandene Fehlentwicklung wird noch verschärft durch die Kombination mit den neuen Möglichkeiten der Informations- und Kommunikationstechnologien. Weil diese Technologien enorme Effizienz- und Multiplikationsgewinne versprechen, verlocken sie aus dem Marken-Missverständnis heraus zu Leistungsabbau im Innen, dessen Folgen für das Aussen sprich die Kundschaft nicht bedacht werden – vermeintlich nicht bedacht werden müssen, weil dies ja die Marke an der Oberfläche richte.
Wieso wird diese Entwicklung nicht erkannt, wieso nicht reagiert? Wieso nicht die eigene Markenführung grundsätzlich hinterfragt?
Marken für Menschen
Die Wurzeln von Marken-Missverständnis und damit von Marken-Misstrauen sind im dahinterstehenden Menschenbild, in der Vorstellung der Führungsverantwortlichen, wie Menschen wahrnehmen und entscheiden, zu finden. Das aussenorientierte Markenverständnis geht von Menschen aus, die ebenso aussenorientiert sind. Wir schätzen dieses Menschenbild als problematische Vereinfachung und als letztlich ursächlich für die beschriebenen weitreichenden Folgen ein.
In diesem Buch wird Marke von Grund auf neu definiert. Wir legen ein Markenverständnis dar, das auf einem vielschichtigen Menschenbild fusst und entsprechend in ein neues, menschlich-ganzheitliches Verständnis von Marke mündet. Wir meinen, dass in diesem fundamental anderen Ansatz der Schlüssel zur Wiederherstellung des Vertrauens in Unternehmen, Institutionen und ihre Führung liegt. Und dass dieser Ansatz auch Grundlage für längerfristig gesundes und erfolgreiches Entwickeln und Fortkommen darstellt.
Der Titel «Marken für Menschen» spricht die zwei sich ergänzenden Elemente an – das alternative Menschenbild einerseits, das ganzheitliche Markenverständnis andererseits. Mit dem Menschenbild setzt sich das erste Kapitel auseinander. Wir beleuchten fünf zentrale Facetten des Menschen und leiten grundsätzliche Einsichten für die Markenführung ab. Das Kapitel ist Ausgangspunkt und Fundament für die zwei folgenden. Das zweite Kapitel behandelt die fünf zentralen Dimensionen von Marken für Menschen. Darin erhalten Verantwortliche konkrete Hinweise, wie sich die Erkenntnisse aus dem ersten Kapitel in der Praxis umsetzen lassen. Das dritte Kapitel beleuchtet in der Form von fünf Haltungen, wie Marken für Menschen zu Ende gedacht den Aufbau, die Führung und die Entwicklung von Unternehmen, Institutionen und Gemeinwesen grundsätzlich verändert.
Wie es der Titel verheisst, rennen unsere Überlegungen nicht gegen das Phänomen Marke an. Im Gegenteil: Das menschlich-ganzheitliche Verständnis weitet das Territorium der Marke aus und verbindet sie auf eine neuartige Weise mit Bereichen, die vorher in Köpfen wie in Bücherregalen ganz anders und ohne Bezug zur Marke eingeordnet waren. Verantwortliche aller Breiche in Unternehmen und Institutionen – unabhängig von Grösse und Preisposition – erhalten einen neuen Kompass für die ganzheitliche Entwicklung ihrer Organisation. Marke kann in den wie kaum je zuvor offenen und kompetitiven Märkten endlich ihr volles Potenzial entfalten.
Wir schöpfen für unsere Überlegungen aus Erfahrungen von über 200 Projekten und rund 2000 Gesprächen. Praxisnah wollen wir deshalb den Lebensnerv von Standorten, Institutionen sowie Unternehmen treffen, gar nicht nur von klassischen Marken. Unsere Überlegungen sind Versuch und Annäherung an einen grossen Gegenstand. So bestimmt die Gedanken scheinen mögen, so offen sollen sie verstanden werden und gestaltende Akteure anregen.
Kapitel 1
Das Menschenbild als Fundament
Das Menschenbild stellt die Weichen
Wie bilden sich Menschen Urteile? Wie fällen sie Entscheidungen? Warum und wann handeln sie? Was weckt ihre Aufmerksamkeit? Was beeinflusst sie? Worin sind sie sich ähnlich, worin unterscheiden sie sich?
Diese Fragen beantwortet das Menschenbild. Jeder trägt ein Bild vom Menschen in sich. Er entwickelt es, indem es ihm vorgelebt und vermittelt wird, indem er andere Menschen beobachtet, ihnen zuhört, nachfragt und liest, was sie denken. Mehr oder weniger bewusst handelt er aus diesem Bild. Und realisiert dabei, dass sich nicht alle in der gleichen Situation gleich verhalten, weil nicht alle das gleiche Menschenbild haben. Unterschiedliche Menschenbilder führen zu unterschiedlichen Schlüssen, zu unterschiedlichem eigenem Handeln.
Wer von Menschen als Opportunisten und Kleingeistern ausgeht, setzt Geschenke anders ein oder hat eine andere Informations-, Preis- und Garantieleistungspolitik, als wenn er Menschen als altruistisch und grosszügig einstuft. Das Menschenbild stellt ganz entscheidende Weichen.
Trotz seiner grundlegenden Bedeutung führt das Menschenbild in Ausbildung und Praxis heute ein stiefmütterliches Dasein. Annahmen zum Menschenbild werden in der Regel stillschweigend vorausgesetzt und nur wenig hinterfragt.
Verbreitetes oberflächliches Menschenbild
Blickt man in Führungsetagen und hört Entscheidungsträgern zu oder liest Publikationen, begegnet man mehrheitlich einem Menschenbild, das wir als oberflächlich bezeichnen. Vier Aspekte kennzeichnen dieses oberflächliche Menschenbild.
Menschen sind nicht mehr treu, gehen keine langfristigen Beziehungen mehr ein
In einem Arbeitspapier eines Instituts für Kundenmanagement findet sich der Zwischentitel «Das Abwandern ist des Kunden Lust» und darunter eine Erläuterung zur massiv gestiegenen Wechselfreudigkeit der Kunden. Die Autoren führen die erhöhte Wechselfreudigkeit auf den «fluiden, schon lange nicht mehr treu-doofen Kunden» zurück.
Ein Marktforschungsinstitut kommentiert in einer Studie zum verbreiteten Misstrauen gegenüber Marken, dass «die soziale Bindungsbereitschaft der Bevölkerung in relativ kurzer Zeit dramatisch gesunken ist: Gewerkschaften, Kirchen, politische Parteien usw. haben in den letzten Jahren Abgänge im Millionenbereich.»
Wenn Neukunden bessere Angebote gemacht werden als Stammkunden, der Entwicklung neuer Märkte mehr Ressourcen und Aufmerksamkeit gewidmet wird als bestehenden Kunden oder wenn Service- und Kundendienste abgebaut und gleichzeitig der Verkauf mittels Telefon oder ähnlicher Ansätze verstärkt werden, steht vielfach diese Vorstellung vom heute wechselhaften Kunden dahinter.
Menschen lassen sich täuschen
Es ist heute weit verbreitet, das gleiche Produkt in verschiedenen Aufmachungen und Verpackungen zu unterschiedlichen Preisen zu verkaufen. Wer das tut, denkt sich einen Konsumenten, der nur realisiert, was draufsteht, und nicht merkt, was drin ist. Diese Auffassung erklärt auch, was eine kürzlich erschienene Studie zum Verschleiss von Elektronikgeräten nachweist: Gewisse Hersteller bauen bewusst Komponenten ein, die die Lebensdauer des Produkts begrenzen – wenn möglich gerade kurz nach Ablauf der Garantie.
Menschen lassen sich kategorisieren
Die Sinus-Milieu-Methodik steht beispielhaft für die Auffassung, dass sich Menschen in homogene Gruppen einteilen lassen. Konsumenten werden entlang der Achsen soziale Lage und Werthaltung in zehn Gruppen eingeteilt: So werden «Performer», «Digitale Kosmopoliten» und «Arrivierte» charakterisiert und für jede Gruppe ein spezifisches Konsumverhalten definiert. Welche Präferenzen haben sie? Welche Anbieter und Marken können diese Präferenzen am besten erfüllen? Wie viel Geld geben sie wofür aus? Wie informieren sie sich? Eine ähnliche Kategorisierung verfolgen Marketingtheorien mit der Segmentierung in Zielgruppen.
Menschen sind einfach gestrickt und handeln aus wenigen, losgelösten Emotionen
In einer Publikation einer Kommunikationsberatungsfirma ist zu lesen, dass Markenführung und die positive Beeinflussung des Firmenimages in der neuen digitalen Welt primär Komplexitätsreduktion, Einfachheit und Erzählvermögen voraussetzen.
So findet sich im Arbeitspapier «Markenerfolg durch Emotional Branding» einer Business School die Aussage, dass sich Produkte wie Autos nicht mehr technisch-funktional, sondern primär durch Produktimage und emotionale Welten von der Konkurrenz unterscheiden.
Und Werbebroschüren und -spots schaffen von Produkt und Leistung unabhängige, sogenannt emotionale Welten, die sich stark gleichen und in Sujet, Stil und Technik dem jeweiligen Trend folgen: Menschen, einmal glücklich, einmal cool, einmal Hipsters; einmal ländliche Idylle, einmal unscharfe Nahaufnahmen, einmal Retro.
Diese vier Aspekte des oberflächlichen Menschenbildes schaffen den Nährboden für das Marken-Missverständnis: Wer bei den Menschen Oberflächlichkeit vermutet, bietet ihnen Oberflächlichkeit.
Unser Menschenbild
Unser Menschenbild unterscheidet sich stark von dieser oberflächlichen Vorstellung. Wir gehen mit den nachfolgend dargestellten fünf Facetten von einem Menschen aus, der bewusst Beziehungen eingeht. Einem Menschen, der Gewohntes und Vertrautes schätzt, das sich entwickelt. Einem Menschen, der einzigartig, vielschichtig und auf den ersten Blick widersprüchlich ist. Einem Menschen, der eine feine Wahrnehmung hat. Einem Menschen, der aufgrund konkreter Ursachen und differenziert emotional reagiert.
Unser so anderes Menschenbild markiert den Ausgangspunkt für ein grundlegend anderes Markenverständnis.
Wir sind uns bewusst, dass das Thema Menschenbild gross und komplex ist. Wir beleuchten aus unserer Sicht zentrale Facetten des Menschen, beanspruchen aber nicht, das Thema abschliessend zu behandeln.
Facette 1: Menschen sind sozial
Die Frau, die die Fähre liebt
«Lieber eine Objektliebe als gar keine Liebe.» Diese Aussage schliesst den Bericht im St. Galler Tagblatt vom 31. Oktober 2012 über Jutta W. und ihre Liebe zur Bodenseefähre Euregia. Jahrelang drehte sich bei Jutta W. fast alles um die Euregia: Sie stattete ihre Wohnung mit dem Teppich aus, der auch die Fähre auskleidet; sie verbrachte ihre ganze Freizeit auf dem Schiff, fuhr bis zu zwölf Stunden pro Tag mit; sie befreite das Schiff von Unrat und Aufklebern, die sorglose Passagiere hinterliessen; sie wurde eifersüchtig, wenn sie auf Sonderfahrten und bei Feiern geschlossener Gesellschaften nicht mitfahren konnte. «Vierzehn Jahre Beziehung – das schaffen nicht viele.»
Die Leidenschaft von Jutta W. existiert heute nicht mehr. Jutta W. hat sich aufgrund persönlicher Entwicklungen von der Euregia getrennt. «Das Leben ohne Liebe ist trist. Ich fühle mich oft leer.»
Menschen sind Beziehung
An einem schönen Frühlingstag in einem Strassencafé mit Blick auf Fussgängerpromenade und Boulevard: Autofreaks fahren mit ihren Fahrzeugen vor – während vieler Nächte auf Vordermann gebrachte Old- und Youngtimer, aufpolierte Cabriolets. Dann knattert eine Motorradgang mit schweren Maschinen an – ausgefranste Lederjacken, grimmige Gesichter, verspiegelte Sonnenbrillen. Das Wappen des Clubs ziert nicht nur die Clublederjacke, sondern als Tattoo auch die Haut.
Zur gleichen Zeit findet an einem anderen Ort ein Fussballmatch statt, an einem dritten Ort sind Kinder am Spielen und an einem vierten hält ein Unternehmer einen Vortrag. An allen Orten kreisen Gedanken, Pläne und Handlungen der Menschen um ein Gegenüber: Beim Fussballmatch ein Ball, eine Mannschaft, das Spiel, die anderen Mitglieder des Fanclubs; bei den Kindern eine Puppe, ein Gummiband, ein iPad; beim Unternehmer der eigene Betrieb und seine Mitarbeiter und Prozesse, ein lockender Auftrag, harte Konkurrenz.
Das Gegenüber ist Ausdruck einer zentralen menschlichen Dimension: Menschen sind soziale Wesen, Beziehungsnaturen. Ununterbrochen stehen Menschen in Beziehungen, suchen diese. Sie tauschen Blicke, Worte, Gesten, Berührungen aus, sie stehen in offenen wie inneren Dialogen. Gehen wichtige Beziehungen zu Ende, stürzen sich Menschen in die Arbeit, werden süchtige Läufer, kaufen sich Haustiere. Fällt ein wichtiger Bezug weg, wird er durch einen anderen ersetzt – oder ein neuer Bezug verdrängt einen bestehenden.
Austausch und Reibung mit einem Gegenüber dienen der Orientierung, Identitätsfindung und Entfaltung. Dies wird bei Kindern deutlich, welche ununterbrochen Fragen stellen, gesetzte Grenzen testen und Neues ausprobieren. Auch Erwachsene agieren auf ihre Weise nach diesem Muster. Erst ein Gegenüber, sei es eine Person, ein Ort, ein Gegenstand oder eine Gedankenwelt, lässt sie sich selbst erfahren.
Menschen benötigen und suchen dafür immer auch stabile und intensive Beziehungen: Sie gehen privat langfristige Partner- und Freundschaften ein, haben Kinder, engagieren sich beruflich, betreiben Hobbys mit Leidenschaft und Ausdauer, lassen sich an Handgelenken, in Hand- und Hosentaschen, Wohnzimmern, Küchen und Garagen von Gegenständen innig und zuweilen über Jahrzehnte begleiten.
Man kann in letzter Konsequenz formulieren: Menschen sind Beziehung.
Vielerlei Beziehungsobjekte und -formen
Beziehungen, auch solche tiefer Art, nehmen Menschen offensichtlich nicht nur zu anderen Menschen auf. Die Vielfalt der Beziehungsobjekte ist grenzenlos:
andere Lebewesen wie Haustiere, Pflanzen, Blumen
Alltägliches wie Speisen, Fahrzeuge, Kleidungsstücke, Spielsachen und Bücher
berufliche Tätigkeiten, Sport, Kunst
Plätze wie Wohnort, Ferienort, Lieblingsrestaurant, Erinnerungsorte
Ideen und Werte, weltanschauliche, religiöse, politische Vorstellungen
Beziehungen können sich in sehr unterschiedlicher Art und Form äussern. Man kann in direkter Weise mit einem Menschen, einem Gegenstand oder einer Idee verbunden sein, jemanden heiraten oder sich in anderer Weise verbinden, etwas kaufen oder mieten, an einen Ort ziehen, eine Idee durch Vereinsbeitritt, finanzielles oder materielles Engagement unterstützen.
Tasuta katkend on lõppenud.