Loe raamatut: «Lotta und ich»

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Lotta und ich

von Nicole Kunkel

Buchbeschreibung:

Die angehende Assistenzhündin Lotta und ihr Frauchen Nicole berichten über die Herausforderungen ihres Alltags.

Was ist ein Assistenzhund?

Was bedeutet es, mit Einschränkungen das Leben zu meistern und wie können Tiere den Menschen dabei helfen? Welche Probleme und Hürden muss ein solches Hund-Mensch-Team im Alltag überwinden? Und wie sieht es aus der Sicht des Hundes aus, der kein Roboter ist, sondern ein fühlendes Wesen? Begleite Lotta und Nicole auf ihrer spannenden Reise und erfahre, wie sie es schaffen, trotz aller Stolpersteine und Belastungen, zu einem guten Team zusammenzuwachsen.

Das Buch gewährt einen tiefen und persönlichen Einblick in die Thematik. Es macht Mut, sensibilisiert, klärt auf und setzt ein klares Statement für das Wohl der Tiere, das ebenso wichtig und schützenswert ist wie das des Menschen.

›Lotta und ich‹ erzählt von realen Ereignissen, aber alle Namen und Orte darin, außer von Lotta und der Autorin selbst, wurden zum Schutz noch lebender Personen geändert.

Über die Autorin:

Nicole Kunkel wurde 1982 in Potsdam geboren. Sie lebt mit ihrer Assistenzhündin Lotta und drei Katzen in Koblenz.

Schon früh entdeckte die Autorin das Schreiben als Zuflucht und Ventil für sich und verfasste im Alter von zwölf Jahren ihre ersten Gedichte und Kurzgeschichten. Einige davon wurden bereits in Anthologien veröffentlicht.

Wenn sie nicht gerade schreibt oder liest, tobt sie sich gerne mit Pinsel und Farben an der Leinwand aus oder streift mit ihrer Hündin durch die Natur, wo sie neue Kraft und Inspiration tankt.

Impressum

© 2022 Baltrum Verlag GbR

BV 2211 – Lotta und ich – Nicole Kunkel

Umschlaggestaltung: Baltrum Verlag GbR

Cover, Illustrationen und Foto: Nicole Kunkel

Lektorat, Korrektorat: Baltrum Verlag GbR

Herausgeber: Baltrum Verlag GbR

Verlag: Baltrum Verlag GbR, Weststraße 5, 67454 Haßloch

Internet: www.baltrum-verlag.de

E-Mail an info@baltrum-verlag.de

Druck: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Lotta und ich

Von Nicole Kunkel

Baltrum Verlag

Weststraße 5

67454 Haßloch


»Happiness can be found, even in the darkest of times, if one only remembers to turn on the light.«

(Zitat: Albus Dumbledore, ›Harry Potter und der Gefangene von Askaban‹ von Joanne K. Rowling)

Für Lotta, mein Licht in der Dunkelheit

VORWORT

Hintergrund zum Buch

Wenn das Leben zum Kampf wird, gehst du entweder unter, oder du lernst aufzustehen – immer und immer wieder.

Ich sehe mich lieber als eine Überlebende. Die Bezeichnung Opfer mag ich nicht, denn sie bedeutet Hilflosigkeit, und die zieht sich wie ein roter Faden durch mein bisheriges Leben oder eher wie ein viel zu dunkler Schatten, den ich einfach nicht abschütteln kann.

Niemals wieder will ich mich hilflos und ausgeliefert fühlen. Und doch bin ich täglich damit konfrontiert. Unverständnis, blöde Kommentare, Ablehnung und Kopfschütteln von außen gibt es gratis dazu. Sogar von Ärzten und Psychologen, für die Einfühlungsvermögen immer mehr zum Fremdwort wird. Ein Arzt sagte einmal zu mir: ›Sie können sich nicht ständig in der sozialen Hängematte ausruhen‹. Ein speziell für Traumatherapie ausgebildeter Psychotherapeut schmetterte mir ein ›Sie sind anstrengend‹ an den Kopf. Das war dann unsere letzte Sitzung und meine Suche ging von vorne los. Das Vertrauen in die Medizin, die Psychotherapie und nicht zuletzt in mich selbst bröckelte mehr und mehr, während ich Sprüche à la ›Stellen Sie sich nicht so an‹ und ›Da müssen Sie einfach jetzt durch, ist noch keiner dran gestorben‹ sammelte, anstatt professionelle Hilfe zu erhalten. Das Leid, das keiner sieht und das oft niemand sehen will, ist nicht weniger schlimm, nur weil es den Menschen nicht direkt ins Auge springt wie ein gebrochener Arm oder eine körperliche Behinderung.

Gut ausgebildete therapeutische Hilfe zu finden ist verdammt schwer und die Wartelisten dieser Raritäten sind lang. Ein bis zwei Jahre auf Hilfe zu warten, die keinen Aufschub duldet, wenn es um Leib und Leben geht, ist leider bittere Realität.

Der mühselige Kampf mit den Behörden raubt einem nebenbei die letzten Kraftreserven. Unzählige Male war ich kurz davor, frustriert aufzugeben. Immer wieder habe ich mein Krönchen gerichtet, mich aufgerappelt und dabei viel zu oft die Schuld bei mir gesucht: Ich bin zu schwierig, zu unnormal. Mir ist nicht mehr zu helfen. Ich passe nirgends rein. Genau diese Gedanken führen in einen Abgrund, aus dem Betroffene nur schwer wieder herauskommen. Zum Glück habe ich die Hoffnung nie aufgegeben. Die Stimme tief in mir wird niemals müde mir zuzurufen, dass es irgendwo genau die Hilfe gibt, die ich brauche; nur da unten, im Abgrund, finde ich sie mit Sicherheit nicht.

Wie sieht es auf der anderen Seite aus? Was ist, wenn nicht nur die Seele krankt, sondern auch der Körper? Wer sieht genau hin? Wo finde ich Heilung, wenn ich den Psycho-Stempel habe oder besser gesagt, aufgedrückt bekomme? Dabei geht es doch darum, endlich einmal verstanden und GESEHEN zu werden. Stattdessen werde ich von einer Schublade in die nächste geschubst. Das Nicht-Ernstgenommen- Werden bleibt, so dass sich eine Erkrankung namens Endometriose jahrelang in meinem Körper unerkannt ausbreiten konnte. Diese gemeine, chronische und nicht heilbare Erkrankung hätte bei Weitem nicht so viel Schaden an meinen inneren Organen angerichtet, wäre sie früher erkannt worden. Leider sind meine Beschwerden über sechs Jahre lang in die Schublade ›das ist nur psychosomatisch‹ gewandert und auf sture, oft taube Ohren gestoßen. Für die Götter in Weiß war es naheliegender, dass die Unterleibsbeschwerden und die weiteren unangenehmen Symptome nichts Organisches sind. Nein, nicht bei der Trauma-Geschichte in meiner Akte, auf der groß und breit der ›Psycho-Stempel‹ prangt. Ist doch klar, dass das alles vom Trauma kommt. Wozu genauer untersuchen? Flehen, betteln und versichern, dass dies jetzt aber andere Beschwerden sind, half nichts. Und so putzte ich die Klinken unzähliger Arztpraxen und Krankenhäuser. Die meisten haben mich mit Augenrollen als Simulantin abgewimmelt, bis ein Spezialist nachgegeben und mir geglaubt hat, dass das, woran ich litt, nicht normal war. Endlich! Leider hatte zu diesem Zeitpunkt die Endometriose schon Organe zerstört. Meine Gebärmutter war nicht mehr zu retten, die Eierstöcke verklebt. Mein Bauchfell war komplett vernarbt und musste raus. Im Gegensatz zu meinem Uterus wächst das aber glücklicherweise nach. Nur ein Kind wird niemals mehr in mir wachsen, ob ich das will oder nicht. Wenigstens wusste ich nach den ganzen Jahren endlich, was mich mit diesen abartigen Schmerzen peinigte.

Die ganze Odyssee mit zahlreichen schmerzhaften Untersuchungen und Operationen hat jedoch Spuren hinterlassen.

›Re-Traumatisierung‹ nennen es die Fachleute. Der Krater meiner alten Wunden von den traumatischen Kindheitserlebnissen wurde nicht nur wieder aufgerissen, sondern mit Benzin übergossen und angezündet. Und auf einmal ist heute selbst simples Blutabnehmen für mich ein Höllentrip. Mein Bewusstsein macht, was es will. Entweder spaltet es sich komplett ab oder es schaltet in den Kleinkindmodus. Ich kann nichts mehr steuern und breche von jetzt auf gleich schreiend in Tränen aus.

Kurz gesagt: Fast zwanzig Jahre Therapie und harte Aufarbeitung, die mir bis dahin einen einigermaßen stabilen Alltag ermöglicht hatten, sind wie weggewischt und meine Trauma-bedingten Symptome schlimmer denn je.

Hier sitze ich, fühle mich immer noch oft wie ein hoffnungsloser Fall und on top steht die Diagnose Endometriose. Bis heute gibt es kein Heilmittel. Also heißt es, damit leben zu lernen, irgendwie. Die Krankheit ist weit verbreitet, aber man sieht sie den Betroffenen äußerlich meist genauso wenig an wie psychische Leiden. Das bringt uns wieder an den Ausgangspunkt zurück und zu der Frage:

»Wozu braucht denn eine äußerlich kerngesunde junge Frau einen Assistenzhund und was ist das überhaupt?«

Oft stoße ich im Alltag auf Unverständnis und beinahe unüberwindbare Hürden. Ob in Supermarkt oder Arztpraxis. Sprüche wie den Folgenden höre ich leider immer wieder: »Stopp mal! Hier dürfen Hunde nicht rein! Können Sie denn nicht lesen? Was denken Sie sich denn eigentlich dabei?«

Ja, was denke ich mir eigentlich? Immer brauche ich eine Extrawurst. Wer bin ich, dass ich mir sowas herausnehme? Ich bin die, die dafür kämpft, ein einigermaßen selbstständiges und vor allem selbstbestimmtes Leben zu führen, ohne mich ständig dafür erklären und rechtfertigen zu müssen. Ich habe es satt, an meine Wohnung gefesselt zu sein. Auch ich möchte und muss einmal raus vor die Tür. Zumindest will ich es versuchen können, und zwar jeden Tag aufs Neue. Muss ich meine Hilflosigkeit für jedermann nach außen hin sichtbar machen? Muss ich dafür mehrmals täglich fremden Menschen auf die Nase binden, dass ich für die ganz alltäglichen Dinge Hilfe benötige, weil ich das allein nicht schaffe? Muss ich jedem erklären, dass es eben nicht dasselbe ist, wenn mir fremde Menschen helfen, anstatt ein speziell dafür ausgebildeter Hund, den ich kenne und dem ich vertraue, wenn ich mal wieder die Orientierung verliere oder eine Panikattacke bekomme?

NEIN! Muss ich nicht, kann ich nicht und will ich nicht.

Mehr Aufklärung ist wichtig. Ich möchte Mut machen, damit sich mehr Menschen trauen, aus ihren Gefängnissen auszubrechen und ins Leben zu springen. Dafür sollte sich niemand rechtfertigen müssen. Erst recht nicht für die Hilfsmittel, die dafür nötig sind, damit ein Mensch den Sprung wagen kann.

Das ist einer der Hauptgründe, weshalb ich dieses Buch schreibe, und ich finde es super, dass ihr Interesse an der Thematik habt und wissen wollt, was alles so dahintersteckt.

Ich hoffe, dass ich euch einen guten Einblick verschaffen kann.

Ich weiß noch, wie viele Fragen und Zweifel ich zu Beginn hatte. Viele davon habe ich mich kaum getraut zu stellen.

Meine Unsicherheit war grenzenlos und wurde immer stärker, je mehr ich gegoogelt und nach Antworten gesucht habe.

Ich möchte hier vermitteln, was es bedeutet, einen Assistenzhund zu haben – mit allen Konsequenzen, allen Vor- und Nachteilen.

Ich möchte aufklären, wie wichtig Verständnis und Unterstützung für Betroffene sind.

Lotta und ich erzählen euch von den Stolpersteinen und Herausforderungen, die sich aufgetan haben und die wir tagtäglich überwinden. Wir erzählen auch von den Dingen, die wir besser mal vorher gewusst hätten, damit uns eine Menge Ärger und Leid erspart geblieben wäre.

Eine besondere Stellung in diesem Buch hat der Hund, dieses treue Wesen, das in der Lage ist, so viel für den Menschen zu tun und zu verändern.

Mir ist es ein großes Anliegen, hervorzuheben, dass der Hund kein Roboter ist, kein Mittel zum Zweck, kein Dienstleister, der 24/7 wie einprogrammiert funktioniert und ansonsten ausgetauscht wird. Der Hund ist weder Rollstuhl noch Krücke. Er ist ein fühlendes Wesen, das an der Seite seines Menschen im Stande ist, Wunder zu vollbringen.

Mit diesem Buch möchte ich für Interessierte und Betroffene etwas mehr Klarheit und Verständnis in Assistenzhund-Mythen bringen, wobei die Betroffenen mir aus persönlichen Gründen besonders am Herzen liegen, müssen sie doch viel zu oft für Verständnis und Hilfe kämpfen und diese suchen wie den Heiligen Gral.

In diesem Sinne wünsche ich euch viel Freude beim Lesen und hoffe, dass ihr nicht nur Antworten auf offene Fragen, sondern auch Mut, Kraft und Hoffnung im Buch findet.

Nicole Kunkel – Koblenz, im Juli 2021

1

Bauchgeflüster

Lotta – Sommer 2019

Kuschelig ist es hier drin. Wohlig warm, aber so langsam wird es eng. Ich kann mich gar nicht strecken und ständig tritt mich irgendwer. Wie viele sind eigentlich mit mir hier drin? Bestimmt 'ne ganze Fußballmannschaft. Leute, macht mal ein bisschen Platz, ja?

Mal fühlen. Eins, zwei, drei. Menno! Was für ein Gewusel. Haltet doch mal still. So kann ich gar nicht zählen. Nochmal von vorne. Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs. Ja! Sechs Köpfe mit meinem und eins, zwei, drei, …, 24! Sage und schreibe 24 Beine, wenn ich mich nicht vertan habe. Kein Wunder, dass ich ständig eins davon im Magen oder am Kopf habe …

Ich halte also fest:

Wir sind insgesamt sechs süße Schokowelpen. Labradore, genauer gesagt. Und das noch dazu in einer perfekten Mischung. Haargenau drei Mädels und drei Jungs sind wir. Meine Brüder haben etwas weniger Braun abbekommen. Sie sind heller als wir Mädchen. Unser Fell hat die Farbe von Zartbitterschokolade und ist fast schon schwarz, während die Jungs aussehen, als hätten sie nur kurz in Latte Macchiato gebadet. Aber, dass ihr mir jetzt nicht auf blöde Ideen kommt, von wegen Schokolade und Kaffee. Beides ist für uns Hunde hochgiftig. Lasst bitte niemals Süßes, Chips, Nüsse oder so Zeug herumliegen, denn wir Labradore stellen in Sachen Futtervernichtung alle Hunde in den Schatten. Wir sind wahre Fressmaschinen und saugen in Millisekunden alles auf, was nicht bei drei auf den Bäumen ist. Dabei sind wir nicht wählerisch. Selbst vor Plastik, Glas und ähnlich gefährlichen Dingen schrecken wir nicht zurück. Und solche Sachen haben in einem Hundemagen rein gar nichts zu suchen. Die bringen uns schneller in lebensgefährliche Situationen, als ihr »Aus« sagen könnt. Passt also immer gut auf. Denn wie heißt es so schön? Ordnung ist das halbe Leben, vor allem, wenn ein neugieriges und gefräßiges Hundebaby bei euch herumspringt.

Aber, wo war ich stehen geblieben? Genau! Bei meinen Geschwistern und mir. Noch sind wir im Bauch von Mama Emma. Unser Papa ist der beeindruckende Balu. Ein stattlicher Kerl ist das, aber unsere Mama ist auch nicht von schlechten Eltern. Ihre Mutter Lilli, also meine Oma, ist nämlich eine waschechte Assistenzhündin. Ich habe keinen Schimmer, was das genau ist. Auf jeden Fall habe ich schon mitbekommen, dass es etwas ganz Besonderes ist, das nicht jeder Hund werden kann und dass wir das im Blut haben. Jedenfalls sagen das alle hier. So viel ich verstanden habe, ist nicht jeder in unserer Familie so ein besonderer Typ von Hund. Mit Glück ist aber manchmal eine oder einer dabei, der mit diesen speziellen Charakterzügen ausgestattet und damit für diese Karrierelaufbahn geeignet ist. Dabei kommt es gar nicht auf die Rasse an. Auch Mischlinge können das im Blut haben. Ist das nicht voll spannend? Soll ich euch mal was verraten? Ich will sowas machen. Menschen helfen – das ist eine gute Sache. Ich wünsche mir, dass ich so eine Assistenzhündin werden kann. Das wäre stark. Hach, ich bin so aufgeregt. Die anderen hier sind das auch alle. Wir werden sehnsüchtig erwartet. Erst gestern war eine junge Frau bei uns zu Besuch, die hat Mama über ihren Bauch gestreichelt. Sie wünscht sich einen Assistenzhund. Nicole heißt sie. Auch, wenn das jetzt verrückt klingt, ich habe ihre Berührung und ihre Hoffnung gespürt. Noch dazu war sie meganervös. Warum auch immer, hat sie Sorge, dass Tina, unsere Züchterin und die Chefin hier, ihr keinen Hund gibt. So ein Unsinn. Unsere Chefin fragt sie nur so aus, um zu schauen, was für einen Charakter der Welpe haben muss, wer zu ihr am besten passen wird, und was er oder sie später alles bei ihr leisten soll. Klar will sie Nicole abchecken, ob sie sich der Verantwortung bewusst ist und ein Welpe bei ihr gut aufgehoben ist. Das macht sie bei allen, die einen Welpen aus unserer Zucht adoptieren wollen. Schließlich will sie nur unser Bestes. Wir sollen in gute Hände kommen. Warum Nicole denkt, dass ihre Hände nicht gut genug sind für einen von uns, und warum sie diese komische innere Überzeugung hat, dass ihr kein Hund zusteht, verstehe ich nicht. Verrückt, oder? Warum hat sie solche Gedanken? Warum denkt ihr Menschen immer so viele und komplizierte Dinge? Keine Ahnung, wo das bei Nicole herkommt. Jeder hat doch einen treuen Wegbegleiter verdient. Warum auch nicht? Auf jeden Fall geht mir Nicole durch und durch. Ich glaube, ich kann ihr helfen. Hoffentlich, oh hoffentlich bin ich die Richtige.

2

Und täglich grüßt der ganz normale Ausnahmezustand

Nicole – Sommer 2019

Gleich geht die Sonne auf und ich habe keine Minute geschlafen. Die Nacht hat sich wie Kaugummi gezogen. Jede Sekunde davon eine einzige Qual. Ich habe aufgegeben, die Panikattacken zu zählen, die sich, wie fast immer, nahtlos aneinanderreihen, als ob sie sich wie grausame Nachtwächter zum Tor der Hölle gegenseitig ablösen.

Ich stürze ins Bad, wo der Eimer schon vor der Toilette bereitsteht. Rechtzeitig schaffe ich es, die gewohnt, verhasste Position einzunehmen, in der ich verkrampft auf der Kloschüssel hocke, den Eimer umarme und das Gefühl habe, meine kompletten Eingeweide herauszuwürgen, die nicht untenrum in die Keramik platschen. Einige Strähnen rutschten mir bei der Aktion in die bittersaure Gallensuppe. Wie Slimer von den Ghostbusters kleben sie dort, weil ich es wieder einmal nicht rechtzeitig geschafft habe, meine Mähne zu bändigen.

Duschen. Ich muss duschen, dringend.

Ich ignoriere bewusst mein Spiegelbild. Dieses zitternde Elend, das mehr einem ES oder einem gruseligen Zombie ähnelt als einer Frau, möchte ich jetzt nicht sehen, auf gar keinen Fall. Ich muss mich beruhigen. Atme. Nicole, atme. Eins, zwei, drei, vier, fünf. Einatmen. Eins, zwei, drei, vier, fünf. Ausatmen. Nein, du musst jetzt nicht schon wieder kotzen. Atme und denk an was Schönes und riech auf gar keinen Fall an deinen Haaren!

Ich schleppe mich unter die Dusche und versuche ein- und auszuatmen, ohne dass mir dabei der säuerliche Geruch meiner besudelten Strähnen in die Nase weht.

Das viel zu heiße Wasser läuft an mir herunter. Ich werde das aber erst später an den roten Flecken auf der Haut bemerken.

Mein Körpergefühl hat sich schon lange ins Nirwana verabschiedet, falls ich es überhaupt jemals besessen habe.

Ich kämpfe gegen die Übelkeit, die in meinem Bauch zu einer weiteren Runde ruft: »Wer will noch mal, wer hat noch nicht? Auf geht der Spaß.«

Eine neue Riesenwelle der Panik rollt in mir an. Zu blöd, dass Erbrechen sowie die Angst davor seit meiner frühesten Kindheit Trigger sind, die die ganze Panikkugel erst lostreten. Was für ein beschissener Kreislauf.

Ich greife mir ein Handtuch und hechte aus der Dusche zum Klo. Triefendnass rutsche ich mehr, als dass ich sitze mit dem Eimer im Arm auf dem Toilettensitz hin und her. Es fühlt sich an, als würde meine gesamte Speiseröhre in Flammen stehen, während ich Benzin hochwürge, das den Brand in Schach hält.

Es muss ein sehr einladendes Feuer in mir sein, denn nun stoßen auch noch Blase und Unterleib in die lustige Runde am Lagerfeuer dazu.

Sie krampfen und brennen alle zusammen um die Wette, als gäbe es kein Morgen mehr. Ich sterbe, denke ich und mir fällt die äußerst aufbauende Bemerkung meines letzten Psychiaters wieder ein:

»An einer Panikattacke ist noch keiner gestorben.«

Stimmt. Ich lebe noch, aber eine gruselige Sehnsucht nach dem Tod, nach einer Erlösung, danach, dass das alles endlich aufhört, wabert in meinem Kopf wie erstickender Rauch.

Ich kann nicht mehr. Alles um mich herum dreht sich und vor lauter Tränen und Schweiß sehe ich nur verschwommen. Trotzdem erkenne ich sowohl das alte als auch das hellrote, frische Blut in der Kloschüssel, als ich das kurze Abebben der Würge- und Schmerzflut nutze und mich aufrappele.

»Sehr wahrscheinlich hat die Endometriose Ihren Darm befallen«, schießen mir die letzten Worte meines Frauenarztes in den Kopf, bei dem ich schon wieder viel zu lange nicht mehr zur Kontrolle war. Aber die Darmspiegelung hatte doch nichts Besorgniserregendes zu Tage gebracht.

»Das heißt gar nichts«, hatte mein Arzt gesagt. »Die Wucherungen können von außen am Darm liegen. Das sieht man dann nicht in der Koloskopie. Genau das ist das Heimtückische an dieser Erkrankung.« Natürlich lässt sich dieser Verdacht nur in einer weiteren Operation ergründen, bei der sie dann direkt in einem Abwasch die neuen Herde mit samt betroffenem Gewebe – in diesem Fall Darmstücke – entfernen. Schlimmstenfalls würde ich mit einem künstlichen Darmausgang aufwachen. »Nein, daran will ich nicht denken!« Ich drücke die Spülung.

Da ist sicher wegen der ganzen Anstrengung und Würgerei nur ein Äderchen geplatzt, beruhige ich mich. Jeder Gedanke in die andere Richtung würde wieder eine weitere Panikattacke folgen lassen. Ich schaffe es ja nicht einmal mehr zu meinem einfühlsamen Gynäkologen, nach dem ich so lange gesucht habe. Wie soll ich da eine weitere Operation überstehen?

Außerdem kommen diese blöden Wucherungen ohnehin kurz darauf wieder. Wozu das alles?

Ich schiebe diese Gedanken in meinem Kopf so weit nach hinten, wie ich kann, und schleiche in die Küche.

Inzwischen ist es sieben Uhr und mein Magen hat sich so weit beruhigt, dass ich es mit einem Tee versuchen will.

Vielleicht mildert der die schlimmsten Krämpfe und das erdrückende Schwindelgefühl etwas ab.

Ich warte darauf, dass das Wasser kocht. Ein Schmerz, der mir den Atem raubt, schießt durch meinen Unterleib, gefolgt von einem Flashback-Gewitter in meinem Kopf aus längst vergangenen Bildern, die schlimmer sind als jeder Horrorfilm.

Es ist vorbei. Dir passiert nichts. Du bist hier in Sicherheit. Atme, Nicole, atme. Das geht vorbei, wiederhole ich in meinem Kopf das Mantra, das ich in der Traumatherapie gelernt habe und das mir in Fleisch und Blut übergegangen ist. Aber es hat keinen Zweck. Unnötig mich zu fragen, warum. Mein Mund wird immer trockener, ich zittere, als ob Starkstrom durch meinen Körper jagt und spüre, wie sich ein Tsunami aus Panik in meinem Inneren formiert.

Hilfe. Ich brauche Hilfe. Verzweiflung lähmt jeden anderen Gedanken. Ich stolpere durch die Wohnung. Vor und zurück. Hin und her. Wie ein Tiger im Käfig, der nach einer Fluchtmöglichkeit sucht. Doch es gibt keine. Inzwischen meldet sich eines der Kinder in meinem Kopf und übernimmt die Kontrolle. Ich bin im Kleinkindmodus, schluchze, weine und hätte ich nicht so eine Angst vor fremden Menschen, würde ich jetzt mit hundertprozentiger Sicherheit runter zur Nachbarin rennen, um sie anzuflehen »Bitte mach, dass das aufhört. Bitte hilf mir!« Nichts wünsche ich mir mehr als eine tröstende Umarmung, jemanden, der mich einfach nur festhält und mein verrücktes Nervensystem beruhigt. Dabei weiß der erwachsene und erfahrene Teil in mir genau, dass ich eben das gar nicht aushalten kann. Ich würde es nicht zulassen, selbst wenn es eine solche Person gäbe, die das tun würde.

Wenn du zu oft die Erfahrung gemacht hast, dass du keinem Menschen vertrauen kannst, dann ist das so.

Es gab Menschen, die für mich verantwortlich waren und für die ich meine Hand ins Feuer gelegt hätte. Genau das wurde mir zum Verhängnis und sogar lebensgefährlich. Sowas brennt sich ein.

Es ist ein langer Weg, andere Erfahrungen zuzulassen und ein noch viel längerer zur Heilung. Ich gehe ihn auf wackligen Beinen, auch wenn ich das Ende des Weges nicht sehen kann.

Das Kind in mir greift zum Telefon und ruft Chris, meinen Lebensgefährten, an. Vor lauter Schluchzern, die ihm durch den Hörer ins Ohr plärren, muss er mehrfach nachfragen und legt fast wieder auf. »Nici? Beruhige dich. Du musst dich beruhigen.«

»Ich kann nicht. Bitte komm. Du musst heimkommen. Bitte. Bitte hilf mir doch«, jammere ich ins Telefon und kann förmlich sehen, wie er mit den Augen rollt. Ob er genervt ist oder überfordert, kann ich nicht genau sagen. Vielleicht ist er nur in seiner eigenen Ohnmacht und Hilflosigkeit gefangen. Er seufzt. »Das geht nicht. Ich muss arbeiten. Beruhige dich.«

»Hab solche Angst. Mir ist so schlecht. Bitte, ich kann nicht mehr«, schluchze ich und fühle mich immer verlorener. Gleichzeitig schäme ich mich, kann aber nicht anders und höre mich flehen: »Bitte komm doch nach Hause. Ich brauche dich.«

Er seufzt diesmal eine Oktave lauter. »Du schaffst das schon. Mach dir was zu Essen. Du musst etwas essen, dann beruhigt sich dein Magen. Und dann schnappst du dir eine Katze und legst dich hin. Versuche einfach zu schlafen. Du musst dich beruhigen.«

Ich lege auf, ohne noch etwas zu sagen. Das Gefühl, allein und vollkommen hilflos zu sein, schwappt in eine neue Dimension.

Ich schlucke den riesigen Kloß aus Scham runter und schwöre mir, ihn in solch einer Situation nie wieder anzurufen. Verhalte dich nicht wie ein Baby. Du bist erwachsen, verdammt, beschimpfe ich mich und fühle mich dabei unsagbar unfähig und einsam. Warum ist das alles so schwer? Einfach beruhigen. Einfach atmen. Einfach nur leben. Einfach. Ja, alles easy peasy, denke ich und komme mir saublöde vor.

Tiere! Mit denen ist's leichter und sie sind immer für mich da. Ich suche die Wohnung nach einer meiner drei Katzen ab. Wo liegen die nur wieder herum? Ich finde keine meiner Fellnasen. Katzen eben. Ich spüre diesen brennenden Kloß im Hals und wünsche mir, Lara wäre noch da. Das war meine Seelenkatze.

Damit hier keine Missverständnisse aufkommen: Ich liebe jede meiner schnurrenden Fellknäuel mehr als mich selbst. Jede ist auf individuelle Art etwas Besonderes. Ich schätze Katzen vor allem wegen ihrer Unabhängigkeit und ihrem eigenen Kopf, auch wenn es oft Situationen gibt, in denen ich es mir anders wünsche, weil ich Trost brauche. Genau dann vermisse ich Lara am meisten, meine wuschelige, graue Maunz-Kugel. Sie war vom Charakter her mehr Hund als Katze, immer an meiner Seite und doch eigensinnig speziell. Still war es mit ihr nie, da sie immer etwas zu erzählen hatte und lautstark genau die Liebe von mir eingefordert hat, die sie mir entgegenbrachte. Sie hat mich sogar aus Albträumen geweckt, liebevoll abgeschleckt, beruhigt und wieder in den Schlaf geschnurrt. Sie wäre eine gute Assistenzkatze gewesen, wenn es so etwas gäbe. Leider ist sie 2018 mit fast 16 Jahren über die Regenbogenbrücke gegangen und ich vermisse sie seitdem jeden einzelnen Tag.

Mein Magen krampft und ich spüre eine neue Welle aus Übelkeit in mir anfluten.

Ganz ruhig. Atmen. Nicole, atme. Ein, aus.

Mein Bauch grummelt. Hunger spüre ich keinen, nur Angst und neue Wellen, die sich zur nächsten Panikattacke formieren. Ablenkung. Muss mich ablenken. Essen, hat er gesagt. Ja. Ich sollte versuchen, etwas zu essen.

Ich suche in der Küche und im Vorratsschrank nach irgendetwas Essbarem, von dem ich denke, es im Magen behalten zu können.

Ein Nutella-Brötchen ist da eine eher schlechte Wahl. Cornflakes auch. Vielleicht Zwieback oder eine Banane. Nichts. Nicht einmal Knäckebrot ist da. Stimmt, heute ist Dienstag – Einkaufstag. No way. Das schaffe ich nicht. Nicht allein. Vor die Tür zu gehen ist undenkbar. Ich fühle mich verloren. Und da ist sie wieder, diese beschämende Hilflosigkeit. Sie macht sich in mir breit und droht mich innerlich zu zerreißen.

Und dann ist der Panik-Tsunami da und reißt binnen Sekunden all diese Gefühle mit sich.

€12,99

Žanrid ja sildid

Vanusepiirang:
0+
Objętość:
245 lk 42 illustratsiooni
ISBN:
9783754943984
Kustija:
Õiguste omanik:
Bookwire
Allalaadimise formaat:
Audio
Keskmine hinnang 4,2, põhineb 197 hinnangul
Mustand, helivorming on saadaval
Keskmine hinnang 4,7, põhineb 93 hinnangul
Mustand
Keskmine hinnang 4,6, põhineb 22 hinnangul
Audio
Keskmine hinnang 4,6, põhineb 608 hinnangul
Tekst
Keskmine hinnang 4,9, põhineb 90 hinnangul
Audio
Keskmine hinnang 4,7, põhineb 1526 hinnangul
Tekst, helivorming on saadaval
Keskmine hinnang 4,3, põhineb 406 hinnangul
Tekst
Keskmine hinnang 5, põhineb 288 hinnangul
Tekst
Keskmine hinnang 5, põhineb 296 hinnangul
Tekst
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