Politische Philosophie des Gemeinsinns

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Politische Philosophie des Gemeinsinns
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OSKAR NEGT

POLITISCHE PHILOSOPHIE DES GEMEINSINNS

Band 2 Moral und Gesellschaft: Immanuel Kant

Herausgegeben von der Hans-Böckler-Stiftung Steidl

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Vorbemerkung

Vorlesungen im Wintersemester 1974/75

Einführung – Marxismus als Erbe der klassischen Philosophie

Vorlesung vom 24. Oktober 1974

Revolution der Denkungsart und Revolutionsangst bei Kant

Vorlesungen vom 25. und 31. Oktober 1974

Natur und Revolution – Kants Geschichtsphilosophie

Vorlesung vom 1. November 1974

Geschichte und Naturanlagen

Vorlesung vom 7. November 1974

Zum Begriff der Gewalt bei Kant

Vorlesung vom 8. November 1974

Diskussion um die RAF

Vorlesung vom 14. November 1974

Moralität, Politik und Anarchismus

Vorlesung vom 15. November 1974

Bildung, Abstraktion und Breitseite der Gewalt

Vorlesung vom 21. November 1974

Gewalt bei Hegel und Volk bei Kant

Vorlesung vom 22. November 1974

Zur Bedeutung von (dialektischer) Theorie

Vorlesung vom 28. November 1974

Biografie und Werk I

Vorlesung vermutlich vom 24. Januar 1975

Biografie und Werk II

Vorlesung vermutlich vom 30. Januar 1975

Kant und die Anthropologie

Vorlesung vermutlich vom 6. Februar 1975

Der Begriff des Charakters bei Kant

Vorlesung vom 7. Februar 1975

Ausblick auf das Sommersemester 1975

Vorlesung vom 13. Februar 1975

Vorlesungen im Sommersemester 1975

Philosophische Erfahrung

Vorlesung vom 10. April 1975

Kants Erkenntnistheorie und der Gerichtshof der reinen Vernunft

Vorlesung vom 11. April 1975

Kants erkenntnistheoretische Fragestellung

Vorlesung vom 17. April 1975

Synthetische Urteile a priori

Vorlesung vom 18. April 1975

Wie ist Synthesis möglich? Zum Begriff der Transzendentalphilosophie

Vorlesung vom 24. April 1975

Die ursprüngliche Einheit der Apperzeption: das transzendentale Ich

Vorlesung vom 25. April 1975

Die Kopernikanische Wende und Kants Ich-Begriffe

Vorlesung vom 2. Mai 1975

Urteilskraft und Schematismus

Vorlesung vom 9. Mai 1975

Schematismus und das Ding an sich

Vorlesung vom 15. Mai 1975

Die (ästhetische) Urteilskraft als Subsumtionsvermögen und ihre Antinomien

Vorlesung vom 16. Mai 1975

Kategorien des Geschmackurteils

Vorlesung vom 29. Mai 1975

Gefühlszustand, Gefühl und Vermittlung

Vorlesung vom 30. Mai 1975

Sensus communis

Vorlesung vom 5. Juni 1975

Kants Geniebegriff

Vorlesung vom 19. Juni 1975

Genie, Geist und Kultivierung

Vorlesung vom 20. Juni 1975

Der bestirnte Himmel und das Moralgesetz

Vorlesung vom 26. Juni 1975

Der kategorische Imperativ

Vorlesung vom 27. Juni 1975

Nachwort

Anmerkungen

Vorbemerkung

Wie kein Philosoph der europäischen Geistesgeschichte hat sich Kant als politischer Philosoph orientierend in meinem Lebenszusammenhang festgesetzt. Dabei ging es mir nie um bestimmte Lehrgehalte, die man als gesicherte Erkenntnisse übernehmen und fortführen könnte. Faszinierend an dieser politischen Philosophie des Gemeinsinns war für mich die ungebrochene Reflexionskraft, die selbst dort noch spürbar ist, wo der kritische Ausweg keine Lösungen verfügbar macht. Seit meiner Schulzeit in den oberen Klassen lässt mich der Gedanke nicht ruhen, dass die Kantische Philosophie, gerade auch in ihren theoretischen Positionen, eine groß angelegte Versuchsanordnung darstellt, eine Art philosophische Werkstatt, in der Mittel und Wege für Fundamente eines Hausbaus der Vernunft gesucht werden. Die Friedensfähigkeit einer Gesellschaft beginnt im Denken. Herstellung von Zusammenhang und gleichzeitige Entmischung sind wesentliche Merkmale dieser spezifischen Philosophie. Kant hat dafür die einfache Formel geprägt, die aus drei Fragen besteht: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Eine vierte Frage, die zu beantworten er als zu schwierig erachtete, hat er nicht in die »Kritik der reinen Vernunft« aufgenommen. Sie gehört aber zentral zu seiner Philosophie: Was ist der Mensch?

 

In seinen Vorlesungsnotizen taucht diese vierte Frage immer wieder auf. Es muss Kant gequält haben, auf diese entscheidende Frage keine befriedigende Antwort zu finden. Doch was den Menschen in seinen extremen Charakterprägungen ausmacht, ist bei Kant definitorisch nicht zu fassen. Man könnte Kants Philosophie als Großversuch betrachten, die Emanzipationsimpulse der bürgerlichen Gesellschaft, ihr humanitäres Selbstverständnis, vereinbar zu machen mit der immer wieder auftretenden Erfahrung von gesellschaftlichen Katastrophen und individuellen Tragödien. Kant glättet diese Verhältnisse nicht, indem er etwa ausgleichende Vermittlungen anböte.

Von vielen Seiten ist Kant in Anspruch genommen worden, selbst die Nationalsozialisten konnten ihn für ihre nationalen Fieberphantasien gebrauchen. Und die Flüchtlingsfrage, die er bereits in seinem Entwurf »Zum ewigen Frieden« abgehandelt hat, bringt heute wieder ein Thema auf die politische Tagesordnung, wie es drückender und menschenfeindlicher kaum vorstellbar ist. Kant ist der politische Philosoph in der Reihe großer Denker der europäischen Geistesgeschichte. Nicht dass er in den großen Werken politisch zitierbare Essays geschrieben hätte, sondern mit politisch meine ich, dass er sowohl das bürgerliche Selbstverständnis emanzipativer Bewegungen wie auch die Abgründe geschichtlicher Verwerfungen in seinem Werk aufgedeckt hat. Man hat ihn den klassischen Philosophen der Moderne genannt; das ist er gewiss auch. Aber es sind gerade die zentralen theoretischen Werke, seine drei großen Kritiken, die um Gemeinwesenarbeit organisiert sind. Aus isolierenden Gemeinwesen, verstörendem Eigensinn, muss ein Gemeinsinn werden, der die eigensinnigen Freiheiten nicht zerbricht. Wo Eigensinn war, muss Gemeinsinn werden, so könnte Kants praktische Philosophie formuliert werden.

Zu danken habe ich der Hans-Böckler-Stiftung für die großzügige Förderung, Hendrik Wallat für aufschlussreiche Kommentare und Nachworte sowie meiner Frau, Christine Morgenroth, für Hilfe auf allen Ebenen des Lebenszusammenhangs. Ihr widme ich auch dieses Buch.

Frühjahr 2020

Oskar Negt

Vorlesungen im Wintersemester 1974/75

Einführung – Marxismus als Erbe der klassischen Philosophie

Vorlesung vom 24. Oktober 1974

Sehr geehrte Damen und Herren,*

das Thema »Philosophie und Gesellschaft« setzt sich wie alle globalen Themen zunächst dem Problem des Anfangs aus. Dieses Problem tritt insbesondere dann auf, wenn man das naive Vertrauen in einen akademischen Objektivismus verloren hat.

Mag es zunächst als selbstverständlich erscheinen, sich mit Kant, Hegel oder Marx zu befassen, ist es doch keineswegs ausgemacht, ob eine Beschäftigung mit diesen Theorien überhaupt sinnvoll sein kann in Anbetracht von möglicherweise dringlicheren Aufgaben. Darüber hinaus gibt es so etwas wie einen objektiv vorgegebenen Sinnzusammenhang, in dem eine Aneignung dieser Theorien stattfinden könnte, gar nicht mehr. Nun könnten wir natürlich alle diese Vermittlungsstufen des Anfangs, wie sie Hegel thematisiert hat, überspringen und sagen: Beschäftigen wir uns einfach mit der Sache selbst. Ich glaube aber, dass genau dieses Durchschneiden aller Vermittlungen Folgen für die Interpretation hat und nicht nur jene, wie die Hermeneutiker unterstreichen, dass in Deutungen immer die eigene Bildungsgeschichte und die Bildungsgeschichte der jeweiligen Zeit eingehen. Es geht vielmehr um den ursprünglichen geschichtlichen Bezugsrahmen einer vormals revolutionären Theorie, der äußerst fraglich geworden ist und sich auf verschiedene Weise rekonstruieren lässt.

Zunächst möchte ich daher eine bestimmte Form der philosophischen Aneignung vorstellen, nämlich die historisch geprägte Interpretation von Friedrich Engels. Mir geht es dabei um einen ganz spezifischen Ansatz, den ich deshalb etwas ausführlicher erklären muss. Zentral ist hier zunächst die Engels’sche Formulierung vom Erbe einer Epoche, die auch Bloch1 aufgegriffen hat. Bei Engels heißt es, die Arbeiterklasse trete »das Erbe des deutschen Idealismus an«.2 Das ist natürlich nicht so zu verstehen, dass allein die Arbeiterklasse und deren Theoretiker imstande wären, Kant, Fichte und Hegel zu rezipieren. Sondern hier ist Erbschaft in dem Sinne gemeint, dass Engels tatsächlich in der deutschen Arbeiterklasse diejenige geschichtliche Kraft erblickt, die den revolutionären Gehalt dieser Theorien und ihre geschichtliche Bedeutung ins Bewusstsein und zur Aktion führt. Mit anderen Worten bringt die Arbeiterklasse laut Engels den deutschen Idealismus auf seinen geschichtlichen Begriff. Ausgehend von diesem Erbschaftsgedanken will ich versuchen, die Frage nach der historischen Bedeutung und Relevanz einer möglichen Kant- und Hegelaneignung zu stellen.

Doch welche Formen der geschichtlichen Aneignung von Vergangenheit und vergangenem Denken gibt es? Unendlich viele sind es nicht, sondern es existiert auch dann eine ganz bestimmte Typologie, wenn man sich nicht auf akademische Schulen bezieht, sondern auf geschichtliche Kräfte der Aneignungen. Es stellt sich also die Frage, wie Theorien der Vergangenheit durch Aneignung Relevanz für bestimmte Aktionen, geschichtliche Bewegungen entfalten können. Auch hier geht es mir nicht um eine Neuinterpretation von Kant, das wäre meines Erachtens noch kein zureichender Grund für eine Beschäftigung mit dieser Theorie. Es geht vielmehr in der Tat um die Frage: Was ist für geschichtliche Bewegungen notwendig, damit sie sich Kant aneignen können, und was ist für eine Interpretation der Geschichte notwendig, die eben von Kant nur geboten werden kann? Es geht also um das Moment geschichtlicher Notwendigkeit in diesem Denken.

Das bedeutet gleichzeitig: Es gibt keinen allgemein verbindlichen Maßstab für die Stellung Kants und Hegels zu Marx oder sonst einer Theorie. Genauso wenig existiert eine konstante Interpretation, von der zu behaupten wäre, innerhalb eines festgelegten Rahmens komme es nur noch auf eine quantitative Erweiterung dieser Interpretation an, was von entsprechend eingesetzten Teams zu leisten wäre. Jenen Aberglauben, es gäbe eine objektive Beziehung der Theorien oder der Philosophie von Kant und Hegel zu Marx und anderen, gilt es zu zerstören: Nicht nur jede Epoche, sondern jede geschichtlich wirksame Kraft interpretiert dieses Verhältnis neu und muss es neu interpretieren. Das setzt allerdings auch voraus, dass der Bezugsrahmen des Marxismus nicht einfach gegeben ist. Er unterliegt vielmehr selbst dieser Form geschichtlicher Aneignung.

Hiervon ausgehend will ich einen Schritt zu Kant selbst machen, indem ich die Frage aufwerfe, wie sich bei ihm Geschichte darstellt, wie er sie begreift, und zwar zunächst unabhängig von unseren eigenen Einschätzungen des Geschichtlichen an sich und des Geschichtlichen bei Kant. Denn nicht alles, was uns als a priori erscheint und was Kant als a priori versteht, die Apriorisierung der Formen des Denkens, ist deshalb ungeschichtlich. Im Gegenteil: Ich will zu beweisen versuchen, dass gerade in der Ungeschichtlichkeit der Kantischen Theorie das Geschichtliche wirkt, dass es gewissermaßen geschichtliche Substanz aufweist, während bei Weitem nicht alle, die Geschichte in ihren Schriften thematisieren, auch geschichtlich denken. Wir wissen das gerade aus den ausgelaugten Kontroversen des Historismus. Die Formen, in denen sich geschichtliche Kräfte ausdrücken, können in bestimmten Elementen durchaus ungeschichtliche sein und nur auf Grundlage ihres ungeschichtlichen Charakters wirken.

In einem nächsten Schritt gilt es nun, den geschichtlichen Bezugsrahmen zu erörtern, in dem ich meine Form der Theorieaneignung verstehe. Zwar geht es nicht primär um mich als einzelnes Subjekt, weil ich aber Kritik an objektivistischen Formen der Aneignung übe, wäre das Ausblenden meiner selbst wenig zielführend. Der eigene Standpunkt verflüchtigt sich nicht, indem man sagt: Hier denkt oder handelt irgendwas selbstständig, die Klasse, der Weltgeist oder das transzendentale Subjekt. Ich erhebe daher den Anspruch, dass ich bei dieser Form der Aneignung beteiligt bin, was allerdings nicht zu Subjektivismus führt, sondern umgekehrt die einzige Voraussetzung dafür ist, eine selbstverschleiernde Aneignung zu überwinden.

Mein Bezugsrahmen – ich lasse die Katze gleich aus dem Sack – wird der Versuch sein einer revolutionär-kritischen Erneuerung des Marxismus als jener epochalen Theorie, ohne die geschichtliche Aneignung von vergangener Realität und vergangenem Denken auch heute noch unmöglich ist. Das ist zunächst eine Feststellung, die der ausführlichen Begründung bedarf. Es geht im Grunde um einen Versuch, die Marx’sche Theorie selbst als ein Produkt historischer Veränderung und historischer Widersprüche zu begreifen, um ihren geschichtlichen Gehalt für geschichtliche Bewegungen der Gegenwart umso wirksamer werden zu lassen. Nur eine Theorie, die selbst geschichtlich ist, kann geschichtlich wirken. In der Formbestimmtheit einer solchen Theorie lag für Marx der materialistische Gehalt. Übergeschichtliche Kategorien hingegen wirken in dem Sinne nie geschichtlich.

Auf dieser Basis wird eine systematische Analyse der Schriften Kants erfolgen, die für mich nur dann möglich ist, wenn sie diese historische Dimension vorausnimmt. Ich halte es für unmöglich, eine systematische Analyse unter heutigen Bedingungen zu liefern, die einigermaßen konsistent ist und den substanziellen Gehalt der Kantischen Theorie zum Tragen bringt, wenn nicht das historische Bewusstsein der eigenen Situation vorhanden, wenn der eigene Standpunkt dieser Aneignung nicht mit einbezogen ist.

Doch kehren wir zu Friedrich Engels zurück. Er war der Erste, der nicht nur aus intellektuellem Antrieb heraus, sondern aus praktischer Notwendigkeit eine Revolutionstheorie aufstellte. Alle Anfänge der späteren Sozialdemokratie reichen in diese Periode des späten Engels von 1878 bis 1895 zurück. In dieser Zeit entwickelten sich Organisationsformen, die überwältigend gewesen sein müssen für alle, die sich damals dem Sozialismus anschlossen. Zudem ist diese Epoche von einem völligen Zerfall der bürgerlichen Denkweise gekennzeichnet. Gemeint sind die Zerfaserungen und ein Eklektizismus des Denkens, die mit der schwindenden Bedeutung von Hegel und der verschiedenen Schulen des Hegelianismus zu tun hatten, was zuvor für deren Anhänger kaum vorstellbar gewesen war. Das galt für Marx wie für Engels und andere. Engels hatte es schon nicht mehr mit einer Form der immanenten Kritik der Hegel’schen Philosophie in ihren veränderten Formen zu tun, wie es in der »Deutschen Ideologie«, der »Heiligen Familie« und so weiter noch der Fall gewesen war. Dieser Linkshegelianismus hatte noch einen Begriff von Philosophie und Realität gehabt und systematische Ansprüche unter dem Gesichtspunkt der praktischen Aufhebung der Philosophie gestellt. Nun aber grassierten auf allen Ebenen Formen des Vulgäridealismus: Arthur Schopenhauer kam zu Ehren und Johann Gottlieb Fichte, nicht jener der »Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre« (1794/95), sondern jener der »Reden an die deutsche Nation« (1808) und der »Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters« (1806).

Für Engels ergab sich daraus eine ganz neue Situation: Er musste sich mit den vulgären Produkten des bürgerlichen Denkens auseinandersetzen, etwa mit Eugen Dühring (1833–1921). Dühring war damals der größte Theoretiker der Sozialdemokratie und derart gefährlich, dass August Bebel (1840–1913) und Wilhelm Liebknecht (1826–1900) Engels inständig bedrängten, doch etwas gegen ihn zu unternehmen. Engels stellte sich diesem qualvollen Unterfangen und verfasste seinen »Anti-Dühring«.3 Es ist in der Tat ein Stück Ironie der Geschichte, dass damit das wirksamste Werk für die Arbeiterbewegung entstanden ist, das meistgelesene Werk des Marxismus.

In diesem Zeitgeist und vor dem Hintergrund solcher Auseinandersetzungen kam Engels in seiner polemischen Frontstellung zu dem Schluss, der theoretische Sinn der deutschen Arbeiterklasse sei »unverkümmert«.4 Er sagt wörtlich: »Die deutsche Arbeiterbewegung ist die Erbin der deutschen klassischen Philosophie«.5 Nicht die europäische Arbeiterbewegung nennt er hier, sondern sehr bewusst grenzt er die deutsche ab, weil in der Tat ein Theoriebewusstsein der europäischen Arbeiterbewegung keineswegs zu erkennen war und entsprechend groß die Hoffnung, die deutsche könnte so etwas wie wissenschaftlichen Sozialismus breitenwirksam aufnehmen. In einem beinahe deutschtümelnden Ton stellt Engels weiter fest: »Aber der wissenschaftliche Sozialismus ist nun einmal ein wesentlich deutsches Produkt und konnte nur bei der Nation entstehn, deren klassische Philosophie die Tradition der bewußten Dialektik lebendig erhalten hatte: in Deutschland.« Später korrigiert er sich dann allerdings und behauptet, ihm sei lediglich ein Schreibfehler unterlaufen. In der dritten Fassung heißt es in einer Fußnote: »bei Deutschen.« Und weiter:

 

Die materialistische Geschichtsanschauung und ihre spezielle Anwendung auf den modernen Klassenkampf zwischen Proletariat und Bourgeoisie war nur möglich vermittelst der Dialektik. Und wenn die Schulmeister der deutschen Bourgeoisie die Erinnerung an die großen deutschen Philosophen und die von ihnen getragene Dialektik ertränkt haben im Sumpf eines öden Eklektizismus, so sehr, daß wir die moderne Naturwissenschaft anzurufen genötigt sind als Zeugen für die Bewährung der Dialektik in der Wirklichkeit – wir deutschen Sozialisten sind stolz darauf, daß wir abstammen nicht nur von Saint-Simon, Fourier und Owen, sondern auch von Kant, Fichte und Hegel.6

Innerhalb der historischen und philosophischen Dimension, heißt es hier, sei das Denken und seien die Massen also derart korrumpiert, dass es den Naturwissenschaften obliege, die Gültigkeit der Dialektik festzustellen. In der Tat glaube ich, dass ein wesentliches Motiv für Engels Beschäftigung mit der Naturdialektik darin lag, dass weder den Massen noch den deutschen Intellektuellen klar zu machen war, die Dialektik sei etwas Vernünftiges, das der Mensch zum Denken vor allem in praktischer Absicht brauche. Es geht darum, den ohnehin von naturwissenschaftlichem Denken beeinflussten Massen nachzuweisen, dass die Dialektik ein universelles Gesetz ist, das mit der historischen Dimension unmittelbar nichts zu tun hat, welche ganz im Gegenteil nur einen Anwendungsfall darstellt, dass also die allgemeine Dialektik in Form der historischen Dialektik zum Ausdruck kommt. In diesem Augenblick glaubte Engels, die Dialektik gesichert zu haben, was durchgängig in seiner etwas feingliedrigen Analyse von der »Dialektik der Natur« zu spüren ist.

Aber was genau ist gemeint, wenn Engels von einem Erbe und von Abstammung spricht? Diese Begriffe werden nicht zufällig gebraucht, es sind vielmehr Metaphern, die auch sonst bei Marx und Engels Verwendung finden, hier aber einen sehr wesentlichen Zusammenhang betreffen. Wie also ist es zu verstehen, dass die Arbeiterklasse die klassische Philosophie beerbe, dass wir von Kant, Fichte und Hegel abstammen? Ich will hier keine Spekulationen über den Erbschaftsbegriff anstellen wie Wilhelm Raimund Beyer in seinen »Hegelbildern«.7 Bei ihm findet man einen spekulativen Überhang, der sich mit den Worten »Erbe« und »Erbschaft« in allen Dimensionen und Möglichkeiten beschäftigt, aber zur Klärung der Sache kaum etwas beiträgt. Diese Begriffe sind Metaphern genauso wie jene von der Gewalt als Geburtshelfer einer neuen Gesellschaft oder das Bild von Muttermalen, mit denen jede neue Gesellschaft behaftet sei.8 Marx und Engels haben damit nur gemeint, dass hier eine ganz spezifische, wenn man so will, organische Beziehung zwischen der großen deutschen Philosophie und dem Proletariat bestehe. Demnach könne das Proletariat nur einbringen, was die große Philosophie wollte, was also deren revolutionärer Gehalt ist.

Dennoch wäre es, wie bereits gesagt, eine falsche Projektion von unhistorischem Denken in die durchgängig historische Denkweise von Marx und Engels, wollte man behaupten, damit sei ein für alle Mal das spezifische Verhältnis zwischen dem Marxismus und der großen deutschen Philosophie festgelegt. Im Gegenteil: In welcher Weise sich dieses organische Verhältnis zwischen Philosophie und Proletariat unter den jeweilig gegebenen Bedingungen von Klassenkampf und Aneignung vergangener Realität abspielt, das musste und muss jede agierende geschichtlich auftretende Klasse neu bestimmen. Ein solcher Bestimmungsprozess fand auch statt als beispielsweise Georg Lukács (1885–1971) nachgewiesen wurde, dass er sich Marx nur über Hegel anzueignen vermochte, weshalb der sogenannte westliche Marxismus eine hegelianisierende Tendenz habe. Ich kann hier nicht weiter darauf eingehen, aber es wäre immerhin zu prüfen, ob bei der Entwicklung des Marxismus das Eindringen dialektischer Elemente eben tatsächlich durch eine Rückwendung von Marx auf Hegel möglich war.

Eine aktuellere Neubestimmung des Verhältnisses zu großen deutschen Philosophen kreist um das »Ding an sich« bei Kant. Engels meinte Kant in dieser Hinsicht mit seinem Alizarin-Beispiel widerlegt zu haben: Nun, da der Mensch in der Lage sei, diesen Farbstoff selbst herzustellen, habe der Stoff seine Qualität als »Ding an sich« verloren.9 Die Menschen nehmen nur das als »Ding an sich« an, was sie noch nicht ergründet haben. Indem sie eine Sache herstellen, erkennen sie diese und das unbekannte Ding an sich verschwindet. Dieses von Engels ganz anders gemeinte Beispiel diente Generationen von Marxinterpreten dazu, die Kantische Philosophie mit dem vernichtenden Schlagwort des Agnostizismus zu belegen. Heute jedoch tritt im offiziellen Marxismus10 eine Wende ein. Nach wie vor ist das Ding an sich ein schwieriges Problem, doch ist man in gewisser Weise dazu übergegangen, die Kantische Theorie zu integrieren. Man kann nur einen Grund dafür annehmen, dass nämlich für diese Form des Marxismus alles, was jenseits des eigenen Aktionsspielraums liegt, eine Gefährdung darstellt.

Grundsätzlich lassen sich zwei Arten der geschichtlichen Aneignung unterscheiden: auf der einen Seite die revolutionäre Aneignung von Geschichte mit ihrer ganz spezifischen Zeitstruktur, die mit einer Verdichtung des Zeitbegriffs verbunden ist, mit einem Aufsprengen des Zeitkontinuums; auf der anderen Seite eine restaurative, verdrängende Aneignung der Vergangenheit und vergangener Theorien. Für diese folgenreiche These will ich zwei Beispiele anführen. Das eine findet sich bei B. Traven (vermutlich 1882–1969) in der »Rebellion der Gehenkten« (1936), das zweite in den geschichtsphilosophischen Thesen von Walter Benjamin (1892–1940), die den Begriff der geschichtlichen Aneignung, der Neukonstitution von Geschichte begründen.

Travens »Rebellion der Gehenkten« kann ich allgemein nur zur Lektüre empfehlen, weil es die Entwicklungslogik revolutionärer Bewegungen auf praktischer Ebene bis zum Endpunkt durchkonstruiert und dabei stets die jeweiligen Alternativen aufzeigt. Das Beispiel, das ich daraus entlehnen möchte, sei hier kurz eingeführt: Da wird eine Gruppe von Outlaws auf der Straße aufgegriffen und in den Urwald verschleppt, um dort eine bestimmte Holzart zu schlagen. Diese Leute fristen dort ein Dasein, das dazu angetan scheint, jede menschliche Regung zu vernichten. Entsprechend rührt sich auch lange nichts – bis eine eklatante Ungerechtigkeit passiert: Einem kleinen unschuldigen Jungen werden die Ohren abgeschnitten, woraufhin der Vater den dafür Verantwortlichen erschlägt. Das ist der Anfangspunkt einer Rebellion, denn dem Vater dämmert es sofort: Jetzt heißt es weitermachen oder vernichtet werden. Die Logik dieser Situation treibt die Arbeiter voran von einer Plantage zur anderen. Sie erschlagen die Herren, besetzen das Land, können es aber nicht halten, und der Führer der Rebellion sagt ein ums andere Mal: Wenn wir uns hier festsetzen, werden sie uns einkreisen und vernichten. Wir haben nur die Alternative, voranzugehen.11

Ich will diese Erzählung nicht selbst weiter deuten, sondern einen anderen dafür bemühen. Robert Steigerwald interpretiert diese Stelle so:

Die Rebellen im Kaobazyklus vernichten überall, wohin ihr Kampfweg führt, sämtliche Dokumente. […] Es geht um den rücksichtslosesten Bruch mit der alten Welt, mit der Welt des Eigentums, der Ausbeutung und Unterdrückung. Ist gemeint, was Marx und Engels im »Manifest der Kommunistischen Partei« schrieben: »Die kommunistische Revolution ist das radikalste Brechen mit den überlieferten Eigentumsverhältnissen; kein Wunder, daß in ihrem Entwicklungsgang am radikalsten mit den überlieferten Ideen gebrochen wird«? Marx und Engels spitzen hier das Problem der Revolution zu auf den Punkt des Zerreißens der historischen Kontinuität, und das ist ja auch das Entscheidende an der sozialistischen und kommunistischen Revolution. Freilich waren Marx und Engels Dialektiker, die genau um das Moment der Kontinuität in jedem Entwicklungsprozeß wußten.12

Dem stimme ich zwar grundsätzlich zu, doch zeigt sich hier der Unterschied zwischen einer wirklichen Revolution und ihrer Interpretation: Hätten die Kaobabauern Zeit gehabt, ihre Situation zu interpretieren, das heißt historischen Materialismus anzuwenden, wäre es möglich gewesen, diese Vermittlungen mit einzubeziehen. Aber was Traven hier meint und Steigerwald meines Erachtens nicht erkennt, ist der grundlegende Unterschied zwischen der Bewusstlosigkeit, dem Unbewussten im Augenblick historischer Aktion und den zweifellos notwendigen theoretischen Vermittlungsprozessen, die diese Revolution und ihren geschichtlichen Gang interpretieren.

Beide Ebenen auseinanderzuhalten, erscheint mir wesentlich, nicht weil die Kaobabauern recht hätten, sondern weil in der Tat ein Geschichtsbegriff da ist, ein Handlungsbegriff, ein Aktionsbegriff, der sich nur durch eine Nuance von jenem Geschichtsbegriff der Steigerwald’schen Interpretation unterscheidet, jedoch gewissermaßen substanziell ist. Von diesem Geschichtsbegriff aus muss man jene Vermittlungsmomente der Theorie mitinterpretieren, wenn nicht nur nachträglich die Vermittlung als die prädominante, gewissermaßen ontologisch bessere Kategorie vorgeordnet, sondern anerkannt wird, dass es auch keine Vermittlung ohne Unmittelbarkeit gibt, ohne das Zerreißen dieser Vermittlung, die sich eigentlich in jeder historischen Situation zeigt.

Ich möchte nun das theoretische Gerüst zu all dem kurz mit Benjamins »Geschichtsphilosophischen Thesen« erläutern. Dieser begreift Geschichte als eine mit Jetztzeit, mit Aktionspotenzial gegenwärtiger Emanzipationsbewegung geladene Vergangenheit, als etwas Unmittelbares, etwas Stilllegendes. Er führt als Beispiel an, in der französischen Julirevolution sei zufällig auf mehrere Turmuhren in Paris geschossen worden und dadurch seien auch im übertragenen Sinn die Uhren stehen geblieben, wie schon die große Französische Revolution einen neuen Kalender eingeführt habe. Es geht um das Stillhalten der Zeit im Augenblick der Aktion, ja um die Vernichtung der Vermittlungen, was sich nicht wesentlich von dem unterscheidet, was die Revolutionäre taten, als sie in den Winterpalais eindrangen, oder was in der Französischen Revolution passierte, nämlich die Zerstörung der Herrschaftssymbole, der Kultursymbole, der Abbruch von Kontinuität.

Was ist hier richtig und falsch? Richtig ist aus der Sicht des Theoretikers, dass sich objektiv ein Vermittlungsprozess vollzieht. Keine Generation, keine Klasse kann mit der Geschichte radikal brechen. Jede Klasse ist in dem Sinne auch Erbe und mit den »Muttermalen« der Gesellschaft behaftet, aus der sie kommt. Falsch wäre es hingegen, zu glauben, man könnte diesen Gedanken zu einem produktiven Element der Aktion selbst machen, das heißt, diesen Vermittlungsgedanken unverändert in die praktische Dimension übersetzen. Da würde er in der Tat dazu beitragen, dass die Vermittlung mit dem bestehenden Herrschaftssystem zur Ohnmachtsreaktion führt.

Jede handelnde Klasse muss also ihre Geschichte selbst und neu machen und zwar auf der Grundlage ihrer revolutionären Bedürfnisse. Das Subjekt historischer Erkenntnis ist die kämpfende und unterdrückte Klasse, sagt Benjamin. »Das Bewußtsein, das Kontinuum der Geschichte aufzusprengen, ist den revolutionären Klassen im Augenblick ihrer Aktion eigentümlich. Die Große Revolution führte einen neuen Kalender ein.«13 Er sagt weiter: »Die Geschichte ist Gegenstand einer Konstruktion, deren Ort nicht die homogene und leere Zeit, sondern die von Jetztzeit erfüllte bildet. So war für Robespierre das antike Rom eine mit Jetztzeit geladene Vergangenheit, die er aus dem Kontinuum der Geschichte heraussprengte«,14 wie umgekehrt diese Vergangenheit ein Stück Jetztzeit, Gegenwart, werden muss, wenn diese Form geschichtlicher Aneignung mehr sein will als die Befriedigung rein intellektueller Bedürfnisse.