Loe raamatut: «Zur Zukunft des Abendlandes»
Otto Kallscheuer
ZUR ZUKUNFT
DES ABENDLANDES
Essays
Otto Kallscheuer, 1950 im Rheinland geboren, Politikwissenschaftler und Philosoph, derzeit Professor an der Universität Sassari, lebt in Sardinien und Berlin. Freier Autor u. a. für die FAZ, die NZZ, DIE ZEIT; Forschung und Lehre u. a. an der Freien Universität Berlin, dem Institute for Advanced Study Princeton, New Jersey; letzte Buchveröffentlichung: »Die Wissenschaft vom lieben Gott«. (2006).
Reihe zu Klampen Essay,
herausgegeben von Anne Hamilton
© 2009 zu Klampen Verlag · Röse 21 · D-31832 Springe
info@zuklampen.de · www.zuklampen.de
Satz: thielenVERLAGSBÜRO, Hannover
1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2016
Umschlag: Matthias Vogel (paramikron), Hannover,
unter Verwendung eines Fotos
von Lucky Dragon - Fotolia.com
ISBN 978-3-86674-210-9
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet über ‹http://dnb.ddb.de› abrufbar.
Inhalt
Cover
Titel
Der Autor
Impressum
I. VORWORT
II. BYZANZ UND SEINE TRÜMMER
Von der Kehrseite des Abendlandes
Ägäische Kreuzfahrt
Partitio Romaniae
Das christliche Rom
Der Grundwiderspruch von Byzanz
Herbst der Patriarchen
Translatio Imperii
Autokephale Wendehälse
Symphonie und Autokratie
Leib und Seele
III. DREI REICHE – WIE VIELE ZIVILISATIONEN?
Rückblicke auf das Ende der Geschichte
Hegel in Washington – und in Paris
Culture Club
Zwei Politikberater
Offene Enden der Geschichte
Kirche und Reich
Kulturzonen und Ethnokratie
Wer ist mein Nächster?
IV. REFORMATION UND REVOLUTION
Novalis’ poetische Ökumene
Verfremdung und Zutrauen
Ein Text – Zwei Kontexte
Pfingsten oder die Ökumene
Politische Tristesse, poetische Revolte
Das untergehende Vaterland
Verratene Revolution – versteinerte Reformation
Es war einmal
V. DER ISLAM IN EUROPA
Kulturelle Minderheit oder Weltreligion?
Eine Religion wie jede andere?
Religion Oder Zivilisation?
Orientalische Fragen
Zweierlei Heimkehr der Kolonien
Ethnischer Islam …
… und virtuelle Ummah
VI. ALTERNATIVE ABENDLAND?
Zum politischen Status der Europäischen Union
Der Balkan und der Kontinent
Die Republik und das Monstrum
Bürgerreligion und Nationalstaat
Das Abendland oder Europa
Föderalismus Und Pluralismus
Kein Volk, Kein Kaiser, Kein Tribun
Literaturhinweise
I. VORWORT
Liegt das Abendland im Westen?
Wie deutlich die Welt
ist Im Fadenkreuz
des Theodoliten.
Das kühle Auge
der Dosenlibelle:
ein winziger Himmel.
Hans Magnus Enzensberger,
Blindenschrift (1960)
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Vor zwanzig Jahren haben wir auf der Mauer getanzt. Die kleine Firma, bei der ich arbeitete, der Berliner Rotbuch Verlag, hängte am 9. November »aus aktuellem Anlaß« ein Pappschild an die Tür. Wir schlossen unsere Fabriketage an der Potsdamer Straße und gingen rüber zum Brandenburger Tor, um zu feiern. ›Drüben‹ im Osten, in der DDR, waren wir natürlich auch vorher häufig gewesen (wir konnten ja einreisen). Schon um unsere Autoren aus der Dissidenten- und Literatenszene zu besuchen. Später stellte sich freilich heraus, daß der allergrößte Zampano unter den kritischen Kritikern ein Stasi-Offizier war.
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Über den ungarischen Riß im Eisernen Vorhang, über den Fall der Berliner Mauer, über die zwar unfreiwillige, aber (mit wenigen Ausnahmen) am Ende doch friedliche Entmachtung des Kommunismus in Osteuropa war die Freude noch allgemein. Während des Kalten Krieges hatten Ost- und Mittel- und Südosteuropäer jahrzehntelang von ihrer ›Rückkehr nach Europa‹ geträumt. Als sie dann nach dem Zusammenbruch des Ostblocks in die Europäische Union aufgenommen werden wollten, waren die Völker im Westen deutlich weniger begeistert. Und dies hatte nicht nur ökonomische Gründe.
Denn nun führte der Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums (und seiner Satelliten oder Varianten auf dem Balkan) zur Wiederbelebung von weitaus älteren nationalen, religiösen, kulturellen Bruchlinien. In Südosteuropa wurden in den neunziger Jahren blutige Volkskriege ausgefochten und ethnische Säuberungen durchgeführt – und das gerade erst mit dem Maastricht-Vertrag (1992/1993) entstandene politische (West)Europa war weder willens noch in der Lage, sie zu verhindern. Auf dieser Seite des Vorhangs hatte niemand damit gerechnet, daß die historischen Gegensätze zwischen lateinischer und orthodoxer Christenheit, zwischen christlichen und muslimischen Bevölkerungen auf dem Balkan, am Ende des XX. Jahrhunderts wieder von Bedeutung sein könnten.
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Und plötzlich behauptete die Türkei, auch sie gehöre in die Europäische Union. (So jedenfalls erschien es den meisten Westeuropäern. In Wahrheit waren Ankara schon jahrzehntelang Beitrittsverhandlungen in Aussicht gestellt worden – aber niemand aus dem westlichen Club hatte dies offenbar ernst gemeint.) Angesichts der EU-Neuzugänge in Zentraleuropa und trotz einer wachsenden Anzahl muslimischer Einwanderer und Neubürger in West- und Nordeuropa (oder eben genau deswegen) löste nun die türkische Frage in Rom oder Paris oder Berlin oder Prag alte und neue Ängste aus. Weitaus weniger übrigens in London: Seit dem Ende des britischen Empire waren schließlich zahlreiche muslimische Commonwealth-Bürger, vor allem aus Britisch Indien oder Ostafrika, nach England gekommen.
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Zudem hatte sich der damalige Dekan des römischen Kardinalskollegiums Joseph Ratzinger in dieser Debatte über die kulturellen Grenzen Europas zu Wort gemeldet und (ausgerechnet in der französischen Presse!) eindeutig gegen die türkische Mitgliedschaft in der Europäischen Union Stellung bezogen. Für türkische Ohren kam damals Ratzingers Europa-Idee jener Vorstellung vom ›Christenclub‹ ziemlich nahe, die der Führer der gemäßigt islamistischen Gerechtigkeitspartei Tayyip Erdogan allen Türkei-skeptischen Europapolitikern des Westens unterstellte. Und ausgerechnet dieser kulturelle Lateineuropäer Ratzinger wurde dann im Frühjahr 2005 zum römischen Papst und Nachfolger Petri auserkoren.
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Unter der Hand hatte sich die kulturgeschichtliche (ebenso integrierende wie differenzierende) Frage nach einer europäischen ›Identität‹ in die Suche nach politischen Abgrenzungen verwandelt – Europa wird zum Ausschlußgrund. Nun besinnen sich sogar Ungläubige auf die christlichen Wurzeln Europas.
Beiderseits des Atlantik warnt seit dem 11. September 2001 ein neues Genre von Sachbüchern und Pamphleten vor dramatischen Entwicklungen in Alteuropa als ›dem schwächsten Glied der Kette des Westens‹: In drei, vier Jahrzehnten könnte sich der alte Kontinent, einst feste Burg der christlichen Zivilisation, in ein muslimisches ›Eurabia‹ verwandelt haben.
Bei seinem dritten historischen Ansturm auf das Herz der Christenheit finde nämlich ›der Islam‹ heute – anders als Anno Domini 732 bei Poitiers und dann 1683 vor Wien – keine westlichen Verteidiger mehr. Diesmal seien die Waffen der muslimischen Conquista freilich andere als jene, wider die Karl Martell bei Poitiers oder Jan Sobieski in der Schlacht am Kahlenberg vor Wien das Banner der Christenheit verteidigten. Heute und morgen bedrohe uns christlich-säkulare Europäer nicht nur der islamistische Terrorismus, sondern die Hingabe an Gott (denn nichts anderes heißt: Islam).
Und vor allem … die Demographie. Die eingeborene und zumeist christlich erzogene europäische Bevölkerung reproduziert sich nicht mehr: Ihre Geburtenrate ist weit unter das ›Erhaltungsniveau‹ von 2,1 Kindern pro Frau gefallen, wohingegen die meisten muslimischen Länder noch über eine ›aktive‹ demographische Bilanz verfügten. Die europäische Christenheit habe spätestens seit den sechziger Jahren ihre angestammten religiösen Überzeugungen aufgegeben und den regelmäßigen Gottesdienstbesuch regelrecht desertiert.
Da aber beide Trends irgendwie zusammenhängen – strikt religiöse Familien mit traditioneller geschlechtlicher Arbeitsteilung haben i. d. R. eine höhere Kinderzahl als säkulare Familien mit höherer Entscheidungsfreiheit der Frau –, scheint auch die Therapie offenkundig: Ihr am Christglauben zweifelnde Europäer, kehret zurück in den Schoß der Mutter Kirche, tut Buße, glaubet erneut und mehret Euch! Give me that old time religion! – oder die Mauren kehren zurück. Diesmal als Sieger.
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Das Jalta-System – der durch das atomare Gleichgewicht des Schreckens befestigte Ost-West-Gegensatz von Kommunismus und Freier Welt – schien in der zweiten Hälfte des XX. Jahrhunderts sämtliche älteren Konflikte ausgelöscht oder doch in ihrer politischen Bedeutung verschluckt zu haben, an denen sich zuvor in zwei Jahrtausenden Europas kulturelle Identität formiert hatte. Zu diesem ›Ende der Geschichte‹ hatte nicht nur die totalitäre ›Geschichtspolitik‹ des sowjetischen Kommunismus beigetragen, sondern auch das freiheitlich ›anti-historistische‹ Selbstbewußtsein Amerikas – in den Worten Georg Wilhelm Friedrich Hegels »ein Land der Sehnsucht für alle, welche die historische Rüstkammer des alten Europa langweilt«. (HW, Bd. 12, S. 114).
Amerikas Selbstbild als »Land der Zukunft« hat bereits eine über zweihundertjährige Geschichte. Die »nordamerikanischen Freistaaten«, wie Hegel sie nennt, verstanden und konstituierten sich schließlich Ende des XVIII. Jahrhunderts als Gegenmodell zur europäischen Kriegs- und Staatenordnung des Absolutismus, als bürgerliche Gesellschaft ohne »Bedürfnis eines organischen Staats«. (Hegel). Im Jahrhundert zuvor war ein Großteil der neuenglischen Siedler wegen ihres religiösen Dissenses aus der alten Welt der konfessionellen Staaten und Kriege Europas ausgewandert: Sie wollten in der Neuen Welt die »City upon the Hill« errichten, das Neue Jerusalem.
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Die Alte Welt des Abendlandes hingegen, die Vorgeschichte des sich politisch einenden und darüber streitenden Europa, bildete und gliederte sich durch kulturelle Brüche, welche in der Regel religiös oder ›theologisch-politisch‹ codiert waren. Um vier davon geht es in den folgenden Essays. Um zwei west-östliche Brechungen: Griechen versus Barbaren, ein Selbstbild, welches später auch das römische Imperium übernommen hatte (das ja kulturell mindestens ebenso griechisch wie römisch war); oströmische orthodoxe Christenheit versus weströmischen Katholizismus – und um zwei nord-südliche Bruchlinien: Islam versus Christenheit; Katholizismus versus Protestantismus und reformierte Kirchen.
An jeder dieser Fronten fanden im letzten Millennium wiederholt Kriege statt. Zahlreiche Entscheidungsschlachten wurden geschlagen, aber kein Konflikt ist entschieden, keiner dieser Gegensätze ist ›erledigt‹. Keine dieser Fronten wurde jemals begradigt – im Gegenteil: Heute sind sie durch Migration und globalisierte Kommunikationsnetze allgegenwärtig. Keine dieser Grenzziehungen wird durch Staatsgrenzen garantiert – gerade in der Diaspora werden sie heute am stärksten erlebt.
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Wie steht es also künftig um das Verhältnis zwischen dem politischen Code des Westens und dem historischen, kulturellen oder theologisch-politischen Gedächtnis des Abendlands? – Der Westen ist abendländisch entstanden; das europäische Abendland bildet die kulturelle Matrix des politischen Westens, der sich inzwischen normativ universalisiert und geographisch den Atlantik überquert hat. Die politischen Institutionen und Ideale des Westens sind ohne die europäische Geschichte nicht verständlich, aber nicht an sie gebunden. Die USA sind jener Teil des Westens, welcher das Abendland verlassen hat – ohne dessen Eingriff in den Zweiten Weltkrieg das Abendland jedoch vermutlich nicht überlebt hätte.
Die institutionelle Tradition des Abendlands ist zwar eine pluralistische (regnum versus sacerdotium, forum internum versus ius publicum, Marktfreiheit versus Landesherrschaft, usw.) – ein Pluralismus, der häufig übrigens wider den integristischen Willen der Beteiligten zustandekam. Aber sein kulturelles Gedächtnis bleibt bis ins XX. Jahrhundert hinein antidemokratisch verfaßt. Der spezifisch abendländische Pluralismus wird jedoch künftig ohne die institutionellen Minimalbedingungen politischer Freiheit, wie sie in den liberalen Demokratien westlicher Machart institutionalisiert sind, kaum überlebensfähig sein.
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Und nun die kompliziertere Frage: Gilt das auch umgekehrt? Ist auch der Westen auf eine politische Verkörperung des Abendlandes angewiesen? Und was wäre denn Europa, wenn es kein christlicher Club sein will? Welche Art von Staatswesen? Über ein souveränes Machtzentrum verfügen ja die in der EU vereinigten europäischen Staaten bis heute nicht. Und das ist kein Wunder: Die Reiche und Nationen, aus denen das heutige Europa hervorging, waren ja in ihrer Geschichte meist gegeneinander aufgestellt.
Wenn wir jedoch die Europäische Union als legitime Tocher des Abendlandes ansehen (und im letzten Kapitel versuche ich, diese Sicht zu begründen), dann spricht vieles dafür, daß der freie Westen auch das Gedeihen des politischen Europa braucht. Man kann dafür Gründe der internationalen Machtbalance anführen: Die alteuropäischen Nationalstaaten brauchen einen Entscheidungs-Pool, um sich nicht allein gegenüber der verbündeten Großmacht USA, sondern in der multipolaren Welt überhaupt behaupten zu können. Und es gibt ordnungspolitische Motive, welche die politische Kommunikation zwischen den Kulturen oder Zivilisationen betreffen: Denn die alteuropäische Staatenwelt unterhält schon als Erbe ihrer Kolonialgeschichte differenziertere, sensiblere und darum zuweilen auch störanfälligere Beziehungen zu ihrer geographischen und kulturellen Umwelt im Süden und Osten als die westliche Vormacht Amerika.
Der Westen liegt nämlich im Norden. Es gibt zwar südliche Ausnahmen: Australien liegt im Pazifik, Südafrika am Kap der Guten Hoffnung und Israel im Nahen (oder von London aus gesehen: Mittleren) Osten. Warum zählen wir diese Länder dennoch zum Westen? – Nun, es sind Demokratien, werden Sie sagen. Also gehört Indien, die größte Demokratie der Welt, auch zum Westen? – Und wenn nicht, warum nicht?
Die drei genannten Ausnahmen haben nicht viel miteinander gemein, aber alle drei Staaten sind entstanden als (weiße) Siedlergesellschaften in einem nichtwestlichen Umfeld – so wie die »nordamerikanischen Freistaaten«. Eine offene, bis heute politisch und kulturell ungelöste Frage hingegen bleibt das Verhältnis des Westens zu den ehemaligen Kolonien der abendländischen Imperien – sowie zum ›globalen Süden‹ überhaupt. Aber sie ist nicht Thema dieses Buches.
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Die politische Zukunft des Abendlandes liegt also vermutlich im komplexen (und nur in Grenzen rationalisierbaren) ›Monstrum‹ der Europäischen Union von Staaten und Bürgern. Anderfalls hätte das Abendland nur eine Zukunft: seine (erinnerte) Geschichte.
Europas alte Unübersichtlichkeit muß freilich kein Standortnachteil sein. Pluralismus und Multilateralismus – also: Routinen kultureller Vielfalt und Mechanismen politischer Konzertation unter zahlreichen Beteiligten – sind schließlich Tugenden, die wir im neuen Jahrtausend noch brauchen werden. Nicht nur in Europa.
Die Kapitel dieses auf Anregung von Anne Hamilton hin entstandenen Buches knüpfen an verschiedene Essays und Vorträge an, die von mir in den vergangenen Jahren verfaßt wurden. Im Anhang finden neugierige Leser einige Lektüretips.
II.
BYZANZ UND SEINE TRÜMMER
Von der Kehrseite des Abendlandes
Das byzantinische Reich ist ein großes Beispiel, wie die christliche Religion bei einem gebildeten Volke abstrakt bleiben kann, wenn nicht die ganze Organisation des Staates und der Gesetze nach dem Prinzipe derselben [sc. nach dem Prinzip der selbstbewußten Freiheit] rekonstruiert wird.
G. W. F. Hegel,
Vorlesungen zur Philosophie der Geschichte
»KYR MANUÍL, DER KAISER, der Komnene, / fühlte sich an einem Tag der Schwermut / im September seinem Tode nah« – so beginnt das i. J. 1915 veröffentlichte Gedicht »Manuíl Komnenós« des großen Alexandriners Konstantin Kavafis. Die Szene spielt im September 1180: Im Gedicht sagen die Hofastrologen, »die gekauften«, dem nunmehr sechzigjährigen Basileus von Byzanz noch viele Lebensjahre voraus. Ihm, dem glänzenden Sieger der Komnenendynastie.
Manuel I. (1143 – 1180) war der Wiederhersteller des ägäischen Reiches, der 1158 die Armenier und 1160 das Sultanat von Rum geschlagen, 1165 die byzantinische Oberhoheit über den fränkischen Kreuzritterstaat Antiochia gesichert, 1167 die Ungarn besiegt und auf dem Balkan die Herrschaft Konstantinopels wiederhergestellt hatte. In Süditalien schien er gar zeitweilig (bis zur Niederlage vor Brindisi) kurz vor der Wiederherstellung des römischen Reiches zu stehen.
Doch die glänzenden militärischen Erfolge der Komnenenkaiser Alexios I., Johannes II., Manuel I. entbehrten einer soliden Grundlage. Mit dem Vordringen der Seldschuken in Kleinasien war die Herrschaft von Byzanz über das Binnenland weitgehend verloren gegangen. Auf den Zerfall des Seldschukenstaats in Anatolien folgte in der zweiten Hälfte des XIII. Jahrhunderts die Expansion des jungen osmanischen Staates, welcher bald auch auf die europäischen Gebiete von Byzanz übergriff (Thrakien, Makedonien, Bulgarien) und sich auf dem Balkan dem serbischen Reich und dann, nach dem Sieg über Fürst Lazar auf dem Amselfeld (1389), dem Königreich Ungarn als Gegenspielern gegenübersah.
Auf dem Meer hingegen wurde der oströmische Kaiser zunehmend abhängig von »lateinischen« Seemächten (Venedig, Pisa, Genua), die er zuweilen gegeneinander auszuspielen versuchte. Stadt und Reich von Byzanz waren zwischen den Normannenstaaten im westlichen Mittelmeer und der türkischen Invasion im Osten in die Klemme geraten.
ÄGÄISCHE KREUZFAHRT
Keine zwei Jahrzehnte nach dem von Kavafis evozierten Tode des großen Komnenen beginnt der in Frankreich von Fulk de Neuilly gepredigte und in (West)Rom von Papst Innozenz III. ausgerufene vierte Kreuzzug, dessen offizielles Ziel wieder in der Rückeroberung der Heiligen Stätten der Christenheit in Jerusalem bestand. Gewiß, bereits die westlichen Pilger und Krieger des ersten (1096 – 99) oder zweiten (1146 – 48) Kreuzzuges, welche die Päpste zur Eroberung des Heiligen Landes ausgerufen hatten, waren in Konstantinopel keineswegs willkommen gewesen. Aber im XII. Jahrhundert war es im östlichen Mittelmeer zumindest zu einer faktischen Teilung der Machtsphären zwischen westlichen Kreuzritterstaaten und dem byzantinischen Kaiser gekommen. Erstere eroberten Palästina, wo sie alsbald in Jerusalem, Antiochia, Edessa und Tripolis ihre lateinischen Königreiche gründeten. Dafür ließen sie wenigstens die Hauptstadt weitgehend in Ruhe.
Diesmal jedoch kam es anders. Zunächst brauchten Pilger und Gotteskrieger, um überhaupt ins Heilige Land zu kommen, eine Flotte. Der Niedergang der Macht von Byzanz auf dem Balkan und in Anatolien hatte auch den Landweg der Kreuzfahrer nach Palästina unmöglich gemacht. Also mußten die Kreuzritter, um die venezianischen Schiffe für die Überfahrt nach Konstantinopel zu bezahlen, zunächst einmal im November 1202 die von Venedig abgefallene dalmatinische Stadt Zara zurückerobern – und zwar vom christlichen Königreich Ungarn! Die westliche Flotte nahm daraufhin den exilierten byzantinischen Thronprätendenten an Bord: Alexios, der Sohn des entthronten und geblendeten Kaisers Isaak II. Angelos, war ein Schwager Philipps von Schwaben.
Die Kreuzfahrer segelten zum Bosporus weiter, wo sie hofften, aus dem Streit um den byzantinischen Kaiserthron Nutzen zu ziehen. Doch in dem im Juli 1203 schnell eingenommenen Konstantinopel konnte der von den Westmächten eingesetzte neue Kaiser Alexios IV. Angelos keine der großzügigen Versprechungen auf Truppenverstärkung und Geld erfüllen, die er zuvor venezianischen Seeherrschern und fränkischen Glücksrittern gemacht hatte – im Gegenteil. Nach nur wenigen Monaten wurden er und sein Vater im Januar 1204 in einer Palastrevolution beseitigt.
Darauf schlossen Venezianer und Genuesen, Franken und Flamen, deutsche und andere Kreuzfahrer einen Deal. Sie teilten ihre künftige Macht und Beute im Vorhinein detailliert auf wie die Beteiligungen an einer Aktiengesellschaft – und eroberten »zur Ehre Gottes, des Papstes und des Kaiserreiches« im April 1204 kurzerhand das Rom des Ostens zum zweitenmal. Nun aber plünderten sie seine Reichtümer, entweihten seine Altäre und schändeten seine Frauen: Sogar die muslimischen Sarazenen seien barmherziger gewesen als diese lateinischen Krieger, welche doch das Kreuz Christi auf den Schultern trugen, schrieb der byzantinische Historiker Niketas. Nie hatten diese westlichen Barbaren einen solchen Reichtum an Gold und Preziosen, an Pelz und edlen Stoffen gesehen. Und noch »nie seit Erschaffung der Welt« sei jemals bei der Eroberung einer Stadt soviel erbeutet worden. Dies berichtete später der Kreuzzugsteilnehmer Gottfried von Villehardouin.