Loe raamatut: «Die große Fälschung»

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Originalausgabe

© 2021 Hirnkost KG, Lahnstraße 25, 12055 Berlin;

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1. Auflage Mai 2021

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Layout: Yunus Kleff

Lektorat: Klaus Farin

ISBN:

PRINT: 978-3-947380-44-2

PDF: 978-3-947380-46-6

EPUB: 978-3-947380-45-9

Dieses Buch gibt es auch als E-Book – bei allen Anbietern und für alle Formate. »Die große Fälschung« kann man auch abonnieren: https://shop.hirnkost.de/


P. M., geboren 1947, wurde mit seinem ersten Roman Weltgeist Superstar (1980) im deutschsprachigen Raum bekannt. bolo’bolo, eine Art Glossar für eine andere Welt, erschien 1983 und wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt, unter anderem in Russisch, Türkisch und Hebräisch. Seitdem erschien eine ganze Reihe von Romanen, Sachbüchern und Theaterstücken.

P. M. war aktiv in der Zürcher Hausbesetzungsszene und engagiert sich im genossenschaftlichen Wohnungsbau und in der urbanistischen Diskussion. Zuletzt bei Hirnkost erschienen: Das Gesicht des Hasen. Ein terrestrischer Roman (2019) und Warum haben wir eigentlich immer noch Kapitalismus? (2020).

Die Serie

Die große Fälschung spielt im finstersten Mittelalter rund um das Jahr 1000. Hauptperson ist der fränkische Ritter Rodulf von Gardau, zugleich Geheimagent eines mächtigen Konzerns, der die Erde beherrscht – bis eine Rebellion ausbricht und die Macht des Konzerns schließlich weltweit ins Wanken bringt und Rodulf zu einer Reise rund um die Erde führt. Am Ende könnte aus dem finsteren Mittelalter eine Utopie für das 21. Jahrhundert entstehen, eine Welt ohne Klimakatastrophen, Kriege und Ausbeutung.

Die große Fälschung erscheint in zehn Bänden im Hirnkost Verlag. Sie kann auch abonniert werden unter: https://shop.hirnkost.de/

P.M. ALS RODULF RITTER VON GARDAU in DIE GROSSE FÄLSCHUNG

Entführung in die Sahara

viertes Buch

I.

II.

III.

IV.

V.

VI.

VII.

VIII.

IX.

X.



Übers Deck weht ein milder Scirocco aus der Sahara. Ich habe das Hemd ausgezogen und mich zum Sonnenbad auf einige Hanfsäcke gelegt. Unter mir schlagen die Galeerensklaven mit ihren Rudern einen regelmäßigen Takt. Wegen des Gegenwinds haben wir keine Segel gesetzt. Wir sind südlich von Sizilien und haben auf Pantelleria einen kurzen Zwischenhalt gemacht. Ich bin an Bord der Muruna, einem Handelsschiff des Reeders Hassan Al Hakub. Die letzten russischen Nerzfelle, baltischen Bernsteine, schottischen Wollstoffe sind mit mir unterwegs nach Susah, dem Hafen der ziridischen Kalifenstadt Kairuan. Neben mir sitzt der Kapitän Abu Badruk, ein rundlicher, umgänglicher Kerl, auf einer Kiste und raucht seine Pfeife.

An Bord sind außerdem zwanzig Kaufleute mit Dienern, vor allem aus Nordafrika und Venedig, drei venezianische Sekretäre, fünf dalmatinische Leibwächter, mein persönlicher Herold (samt Posaune), zwei Kämmerer, Friedrich und ich. Wir bilden die Verhandlungsdelegation, die Bologgin Ibn Ziri, den Kalifen von Kairuan, zu einer Invasion im Raum Marseille/Arles bewegen soll. Wir haben alle Vollmachten und viel Geld dabei.

»In meinem Garten wachsen Mispeln, Bohnen, Zwiebeln, Knoblauch, Pflaumen, Mandeln, Oliven, Kapern, Thymian, Rosmarin, gelbe Rüben, Lattich«, berichtet der Kapitän.

Nicht weit von Tunis, mitten in den Ruinen Karthagos, hat er ein Häuschen mit Garten. Dort erwarten ihn seine Frau Tiba und seine fünf Kinder, deren Namen ich mir nicht merken konnte.

»Ihr Tintenfischsalat ist unerreicht. Sie kocht sie in ihrer Tinte mit Walnüssen, Lorbeerblättern und Knoblauch. Dazu viel Olivenöl, Zitronensaft und Salz.«

Er pafft zufrieden und träumt von Salaten, Ragouts und fettigen Kuskussen aller Art. Die ganze Adriaküste entlang hat er ausschließlich von gefüllten Tauben, Teigtaschen, Gemüsen, Meerestieren geschwärmt. Während er seine Rezepte erzählt, habe ich Zeit, meine Gedanken zu ordnen.

Abu Badruk fährt sich durch seinen struppigen, angegrauten Bart und rückt sich den weißen Wickelturban zurecht. Er hat gütige dunkle Knopfaugen, eine runde Nase, tiefe Stirnrunzeln.

»Das Meer ist eine Wüste, Rodulf. Es ist nur zu ertragen, wenn man vom Boden träumt. Manchmal wühle ich stundenlang in der warmen Erde, wenn wieder eine Fahrt vorüber ist. Ich bin kein Seemann, sondern ein verhinderter Gärtner.«

»Wir sind nie, was wir sein wollen.«

»Du schon. Du bist der Erretter Europas, ein Heerführer, Kriegsheld …«

»Ach was. Am liebsten läge ich jetzt an einem Waldrand, unter Eichen, neben mir meine Frau, nach ihrer Lavendelseife duftend.”

»Wald, Wald«, murmelt er, »rundherum mächtige Baumstämme, moosig-feuchter Boden, kühle Luft, zwitschernde Vögel. Was gäbe ich dafür, einmal in einem Wald zu liegen.«

»Du bist eingeladen.«

Das Schiff ächzt und knarrt. Die Galeerensklaven singen ihr eintöniges Lied. Kaufleute sitzen beim Würfelspiel, Friedrich starrt dösend in den Himmel. Momentan hat er es leicht: Ich kann ja nicht abhauen.

Abu Badruk schildert mir sein Thunfischsaucenrezept, zu dem viel Zwiebeln und Kapern benötigt werden.

»Dazu ofenfrisches Fladenbrot«, meint er, mit seinen breiten Nasenflügeln zuckend.

»Delphine!«, ruft einer der Schiffsjungen vom Bug her.

Der Kapitän ignoriert ihn.

»In drei Jahren setze ich mich zur Ruhe, dann habe ich genug Land. Immer wenn die Fahrt gut und meine Provision ausreichend ist, kaufe ich ein Stück dazu. Ich habe überdies genug Geld auf der Bank für die laufenden Ausgaben. Man muss sich einzurichten wissen und klug investieren. Nur die Dummen ärgern sich über die schlechten Zeiten und warten auf bessere. Die beste Zeit ist jetzt.«

Die Kaufleute haben sich auf der Steuerbordseite versammelt, um die angekündigten Delphine zu beobachten. Ihre bunten Seidenhalstücher flattern im Wind. Sie strecken die Arme aus, reden aufgeregt von »guten Zeichen« und halten ihre großen Turbane fest.

Abu Badruk hat schon genug Delphine gesehen. Er beschreibt mir, wie er seinen eigenen Hanf anbaut, die Pflanzen pflegt und die Blätter trocknet. Dann erklärt er mir, wie er sich durch die Aufzucht von Schafen, Ziegen, Hühnern und Enten auch mit Eiern und Fleisch selbst zu versorgen gedenkt.

»Eine fette Ente mit Datteln und Feigen gefüllt«, schwärmt er, »das bringt dich durch die kalten Winternächte.«

Warum muss bei ihm immer alles gefüllt sein? Psychologisch sicher vielsagend: das Stopfsyndrom. Vielleicht hat es auch nur mit dem Vollstopfen von Schiffsladeräumen zu tun. Ich habe Durst und denke an den süffigen apulischen Weißen, den wir in Otranto an Bord genommen haben. Die Verpflegung an Bord ist einfach, aber gut: Hartkäse aus den Ostalpen, Trockenfleisch aus Rätien, toskanische Oliven, Schweinswürste aus Lukanien (für Nichtmuslime), Kräuterzwieback. Wir picknicken an Deck, betrachten Sonnenuntergänge, schwatzen über alles Mögliche. Politik ist tabu. Die Kaufleute interessieren sich für Modetrends in Tunis und Kaiman, berichten von neuen Duftnoten bei Parfüms, von Stoffmustern, Farben, den irisierenden Effekten auf Glaskaraffen. Sie führen einander die neuesten Gadgets vor, die sie in Venedig gekauft haben: Maniküresets im Krokodillederetui, polyvalente Klappmesser, Nagelscheren mit Feile, ausschwenkbare Taschenlupen, die auch zum Feuermachen verwendbar sind, Reiseessbestecke, Nähzeug in Silberkartuschen, Sets für Kleinchirurgie usw. Es gibt so viele aufregende Produkte, Formen und Farben. Man kommt gut ohne Themen wie Revolution, Krieg, Bauern, Städte aus.

»Morgen früh sind wir da«, bemerkt der Kapitän und pafft weiter.

Ich kann die Delphine weit draußen springen sehen, ohne aufstehen zu müssen.

Aus der Luke zum Ruderdeck ertönt ein wütendes Bellen. Der Sklavenaufseher taucht mit hochrotem Kopf auf.

»Zum Teufel nochmal!«, fährt er die Kaufleute in seinem schaurigen Galeerenarabisch an. »Verteilt euch an Deck. So kann man doch nicht anständig rudern!«

Die Kaufleute zucken zusammen und zerstreuen sich sofort in verschiedene Richtungen. Der Aufseher, glänzender Kahlkopf, stechender Blick, verschwitzt, nackter Oberkörper, speckige Lederhosen, Peitsche – ein Dämon aus der Unterwelt. Er stößt ein abschätziges Fauchen aus und ist schon wieder verschwunden. Es dröhnen noch einige Flüche von unten herauf, dann beschleunigt sich der Rudertakt.

Abu Badruks Hanfrauch zieht an meiner Nase vorbei. Die Probleme im Maschinenraum gehen ihn nichts an. Er kümmert sich hauptsächlich um den Kurs, die Passagiere und die Kommission für die Ladung.

Auf See herrscht ein eigener Zeitbegriff, und alles, was an Land geschieht, wird seltsam entrückt, in eine andere Wirklichkeit versetzt. Kann es wirklich wahr sein, dass eine Bauernrevolte im fränkisch-bayrischen Raum sich wie ein Steppenbrand ausgebreitet und das deutsche Reich hinweggefegt hat? Ist es nur ein Traum, dass Europa aus der Geschichte, so wie sie stattfinden sollte, ausgeschert ist? Andererseits: Wäre ich sonst auf diesem Schiff? Und was hat der obskure kleine Ritter Rodulf von Gardau in Afrika zu suchen? Zwei Szenen sehe ich immer wieder vor mir: Linda im Dorf Bärach, wie sie mir das Schwert an den Hals hält und ziemlich kühl sagt:

»Entweder machst du mit oder du bist tot.«

Ich machte mit, auch die anderen Ritter sahen ein, dass sie nur in einer »unnatürlichen« Allianz mit den Bauern eine Chance gegen Handelsherren, Kirche und Kaiser hatten. Danach ging es schnell, viel zu schnell: ein Dorf, eine Stadt, eine Diözese, halb Westeuropa. Es schien, als ob alle nur auf das Signal gewartet hätten. Dann, nur vier Monate später: die Schlacht von Aachen. Die kaiserlichen Ritter mit ihren weißen Adlerbannern vor der Stadt, unser Ritter-Bauern-Heer mit seinen bunten Wimpeln. Ich wurde mitten aus der Schlachtreihe herausgeholt und als Verhandler ins Hauptquartier des Feindes, zum großen Gerbert d'Aurillac, Erzbischof von Reims und zukünftiger Papst, Berater und Manipulator des jungen Kaisers Otto des Dritten, zu Reichskanzler Hildebold, zur alten Kaiserin Adelheid geschickt. Es stellte sich heraus, dass Gerbert der Mann war, der für die Geschichte, so wie sie sein sollte, zuständig ist. Ein undurchschaubarer, kühler Technokrat, ein Manager mit einer Mission, ebenso absurd wie absolut, windig und wendig, ruhig in Krisen, geschäftig dazwischen. Gerade, als er eine neue Allianz zwischen dem Kaiser und uns vorschlagen wollte, lösten irgendwelche unvorhergesehenen Obodriten aus Ostfriesland die Schlacht aus. Was sollte ich tun? Ich war in schlechte Gesellschaft geraten und konnte nicht mehr weg. Gerbert nahm mich einfach mit.

In Venedig machte mich Gerbert zum Oberkommandierenden der christlich-islamisch-byzantinischen Armee, die Europa zurückerobern soll. Ich spielte mit, besser ich als irgendein anderer. Ich gebe zu: Es macht sogar Spaß zuzuschauen, wie die Firma krampfhaft versucht, die Geschichte wieder in ihr Bett zurückzuzwingen. Zudem hoffe ich, auf diese Weise unserer Seite Informationen zuspielen zu können. In meiner neuen Funktion musste ich zu den vereinigten Kaufleuten sprechen und sie zur Finanzierung der Rückeroberung Europas überreden. Ich tat mein Bestes. Die Konferenz im Ratssaal des Dogen, zu der sie eine Delegation schickten, war ein voller Erfolg. Gerberts neue Karte von Europa hat großen Eindruck gemacht. Vierhundert Schiffe und Galeeren stehen zur Verfügung. Drei Millionen Mancusi, zwei Millionen Silberdenare bilden die Kriegskasse. Das ganze verfügbare Kapital Europas und des Mittelmeerraums ist in einem Topf. Die Werften in Venedig, Genua, Amalfi haben Hochkonjunktur. Emissäre sind unterwegs in alle Himmelsrichtungen. Mich hat man einfach nach Ifrikija zum Kalifen von Kairuan, Bologgin Ibn Ziri, geschickt. Er soll Frankreich und einen großen Teil Deutschlands bekommen – das Kalifat Arles-Köln …

Vor meiner Abreise hat mich Gerbert noch einmal zu sich zitiert. Er schaute mich nachdenklich an und blickte dann wie geistesabwesend durch ein Fenster auf den SanMarco-Kanal hinaus.

»Unsere Lage ist kritisch, Rodulf, und ich weiß, dass du dir Hoffnungen machst, den Lauf der Dinge verändern zu können. Es gibt immer Menschen wie dich, die glauben, es könne eine andere, glücklichere Geschichte geben. Doch es ist kindisch, sich gegen den unvermeidlichen Lauf der Dinge zu wenden. Es ist sogar verbrecherisch, denn solche Heilserwartungen verlängern das Leiden nur. Die Geschichte wäre längst zu Ende, müsste sie wegen Rebellionen, Invasionen und Widerständen aller Art nicht immer wieder Umwege machen. Das Muster ist hinlänglich bekannt: Wir bauen eine rationale Zivilisation auf, und dann versuchen irgendwelche mutwilligen Barbaren, sie von außen zu zerstören. Mit Alexander waren wir auf dem besten Weg, eine allgemeine hellenistische Zivilisation von Spanien bis Indien durchzusetzen. Von dort aus hätte man direkt zur Industrialisierung gelangen können. Da kommen unbedarfte italische Bauern und bringen alles durcheinander. Also versuchten wir es mit einem Römischen Reich: Aus Bauern machten wir Kaiser, und schließlich hatten wir Antonius bei Kleopatra. Ein völlig irrwitziges Resultat. Immerhin hatten wir die Situation wieder unter Kontrolle. Doch dann kommen diese germanischen Hosenträger daher, und es dauert einige Jahrhunderte länger. Ergebnis: ein germanischer Kaiser. Tausend Jahre verplempert! Der hockt jetzt in seinem Studierzimmer und träumt von einer ottonischen Renaissance in den vier Reichsteilen Gallia, Germania, Sklavenia und Roma. Und nun sieht es ganz so aus, als ob wir einen arabischen oder berberischen Kaiser oder Administrator bekommen und wieder einmal die Religion auswechseln müssen. Unnötige Komplikationen! Dafür werden Tausende sterben – und Leute wie du sind daran schuld. Romantiker, Weltverbesserer, Träumer. Wir könnten längst am Ende sein. Doch ihr wollt Geschichte und sollt sie bekommen!«

Ich hatte ihm stumm zugehört.

»Du wirst nie erwachsen werden«, meinte Gerbert. »Aber ich werde dich zwingen, dich wie ein Erwachsener zu verhalten. Du wirst mir eines Tages dafür dankbar sein.«

Fast hätte ich begonnen, ernsthaft zu argumentieren, doch er hob drohend seinen Zeigefinger und sagte:

»Du wirst deine Aufgabe erfüllen. Friedrich wird dich im Auge behalten. Und ich habe noch ein paar weitere Agenten im Einsatz, die auf dich aufpassen werden. Wenn du deine Familie gesund wiedersehen willst, dann mach keine Dummheiten. Deine Meinung und deine Vergangenheit interessieren mich nicht. Geschichte wird nicht mit Ideen, sondern mit Taten gemacht. Du bist der ideale Verräter.«

Meine Nackenhaare sträubten sich. Dann gab er mir die genauen Instruktionen.

Auch mit Hildebold, der jetzt nach Konstantinopel unterwegs ist, hatte ich ein kurzes, privates Gespräch in einer dunklen Ecke des Burgkorridors.

»Ich glaube nicht, dass wir uns je wiedersehen werden«, sagte der Ex-Kanzler ungewöhnlich vertraulich. »Ich habe schon viele Krisen erlebt, aber dies ist nicht eine der üblichen Konjunkturschwankungen, wie Gerbert das gerne sähe. Das ganze Projekt ist im Eimer. Ich werde daher versuchen auszusteigen. Ich bin einfach nicht für das Mittelalter geschaffen. Ich brauche einen gewissen minimalen Luxus: eine Dusche, Video, meinen Citroen, HiFi, einen anständigen Bourbon, du weißt schon, was ich meine. Dieses Mittelalter ist zu schäbig für mich. Nicht einmal Unterhosen gibt es. Für ein paar Wochen Abenteuerferien ist es auszuhalten, aber nicht fürs ganze Leben.«

Ich muss zugeben, dass ich dieses Mittelalter nach anfänglichen Problemen liebgewonnen habe. Die Dinge sind übersichtlich, die Menschen zutraulich, es gibt viel intakte Natur rundherum. Oder noch besser: Es gibt noch gar keine Natur als gesondertes Objekt, einfach nur Welt und ihre ‚natura’, das heißt Beschaffenheit. Die Welt ist zwar innerlich schon falsch programmiert, aber äußerlich noch weitgehend in Ordnung. Wenn man den ganzen religiösen Humbug nicht mitmachen muss, den die Historiker uns andichten, dann lässt sich jetzt durchaus leben. Für die meisten besser als am anderen Ende des Jahrtausends. Von wegen Jammertal! Klar, es fehlen ein guter Espresso, Zigaretten, ein paar Filme, Platten und so weiter, doch das sind Nebensächlichkeiten. Casablanca kann warten. Und sicher wird alles noch besser, wenn wir den tausendjährigen Alptraum, der uns bevorsteht, loswerden können.

Hildebold berichtete mir, dass in den intakten Weltteilen Evakuationen noch möglich seien. Er war fair zu mir und bot mir an, für mich und meine Familie in Byzanz einige der letzten Plätze zu reservieren. Er konnte nicht begreifen, dass ich ablehnte. Er seufzte und wünschte mir viel Glück.

Wir umarmten uns. Weg war er. Hat er daran gedacht, dass es seine Zukunft nicht geben kann, wenn eine andere Gegenwart siegt?

Niemand hat versucht, mit mir Kontakt aufzunehmen. Das Netz der weißen Federn, das der fahrende Sänger Reinhart aufgebaut hatte, damit ich Informationen an unsere Leute weitergeben konnte, gibt es wohl nicht mehr. Reinhart ist tot. Ich weiß nicht, wem ich noch trauen kann. Gerbert hat mich wirklich im Griff. Ich bin völlig isoliert. Er hat mich mit Friedrich, Kämmerern, Leibwächtern und Sekretären umzingelt. Dazu kam eine schwarze Feder, die ich in meiner linken Tasche gefunden habe. Auch die Corvi, die Raben, die Kriegs- und Arbeitspartei in Venedig, die Reinhart umgebracht und mein Kontaktnetz zerrissen haben, sind also mit von der Partie. Einer der Kaufleute, ein Kammerdiener, einer der Sekretäre könnte ihr Mann sein. Ich will gar nicht wissen, wer es ist. Das Ganze wächst mir über den Kopf. Andererseits: Von mir allein kann es nicht abhängen, ob Gerberts Strategie scheitert oder nicht. Ich glaube nicht an Helden, sondern an die Dynamik der gesamten Entwicklung. Wenn sie zu schwach ist, kann ich auch nicht viel ausrichten. Wenn sie stark genug ist, hat Gerbert keine Chance. Er weiß das natürlich. Er ist der ewige Krisenmanager, der Turnaround-Spezialist für verzweifelte Firmen. Ich werde so viel Schaden anrichten, wie ich kann. Irgendwie werde ich mich durchschlagen und möglichst viel Informationen an meine Leute durchgeben. Details über die Stärke der Invasionstruppen, über ihre Landeorte können wichtig sein. Darum spiele ich weiter mit. Irgendwie werde ich es schaffen. Irgendwie werde ich den Überwachungskokon durchbrechen. Vielleicht gibt es eine Chance in Susah oder in Kairuan oder spätestens auf der Rückfahrt nach Venedig.

Und dann war da das merkwürdige Gespräch mit Friedrich. Bei der Zwischenlandung in Pantelleria fragte er in einer Taverne bei gebratenen Crevetten:

»Gibt es überhaupt noch Evakuationen? Weißt du etwas?«

Wieder diese Evakuationen! Ratten, die das Schiff verlassen wollen. Und ich soll ihnen dabei behilflich sein.

»Weißt du, Rodulf, ich halte nur durch, weil mir Gerbert eine Evakuation zugesichert hat. Ich habe eine Verlobte – vielleicht ist sie schon drüben.«

»Ich weiß nichts über Evakuationen«, log ich.

»Du hast mit Hildebold gesprochen«, beharrte er. »Ich bin sicher, dass er im Bild ist. Gerbert ist ein Hardliner, er kann nicht anders, aber Hildebold …«

»Ich weiß von nichts.«

»Ich habe gehört, dass es keine Evakuationen mehr gibt. Am anderen Ende zerfällt alles schneller als hier. So ein Scheißjob. Stell dir vor: Gestrandet im Jahr Tausend.«

»Ich weiß von nichts. Ich würde es dir sagen.«

Er nickte, schenkte sich Wein nach.

»Gut«, stieß er hervor, »wie du willst. Bis jetzt tat ich nur meinen Job. Nun hast du einen Feind. Wenn ich nicht rauskomme, kommst du auch nicht raus.«

Seit diesem Gespräch hat er nichts mehr gesagt, ist er nur noch ein unheimlicher Schatten. Hätte ich ihn ins Vertrauen ziehen sollen? War es nur ein Trick, ein Test? Hat er meine Nähe gesucht? Ich gehe auf Nummer sicher. Er ist mein Bewacher – ich bin der Bewachte. Das sind die Fakten. Aber vielleicht ist er wie ich Täter und Opfer zugleich. Vielleicht ist dies das üble Spiel, das so viele Jahrtausende schon dauert: Keiner traut keinem, und wenn Vertrauen angeboten wird, wird es abgelehnt. Schließlich weiß schon keiner mehr, wie sich Vertrauen überhaupt anfühlt.

»Du musst mich besuchen«, sagt Abu Badruk sanft. »Es wird dir sicher gefallen bei mir unter den Mandelbäumen. Du kannst auch die Ruinen Karthagos besichtigen, den Ofen des Moloch, die Knöchlein der geopferten Kinder, die antiken Häfen, falls dich Archäologie interessiert.«

»Mich interessiert alles.«

»Ich mache dir meinen Artischockenauflauf mit Sardellen – ein Gedicht.«

»Ich kann kaum widerstehen.«

»Und meinen Auberginensalat, meinen Fischrogensalat, meinen Lattich mit Kaninchenleber.«

Er kichert sehnsüchtig.

Die Delphine scheinen verschwunden zu sein. Die Kaufleute spielen wieder und reden über imaginäre Geschäfte.

»Falls du je in meine Heimat kommst«, sage ich nach einer langen Pause, »musst du von meiner Kohlsuppe probieren.«

»Ich werde meinen Hanf mitbringen. Bei euch kriegt er sicher nicht genug Sonne.«

»Das täuscht. Sie ist schwerer als hier. Sie drückt dich in den Boden.«

»Eine schwere Sonne.«

»Ja, eine Walze aus Gold, die dich ins duftende Heu drückt. Es gibt bei uns Sommertage von einer ungeahnten Intensität. Und satte Düfte. Feuchtheiße Duftwalzen.«

»Oho.«

»Dazu unser süßes, braunes Bier.«

»Alkohol? Womöglich noch Schweinswürste?«

»Saftig und knusprig.«

»Teufel.«

Er raucht. Die Ruder schlagen. Friedrich ist eingeschlafen. Andere behalten mich im Auge.

Die Sklaven haben eine neue Melodie intoniert: das Tannenbaum-Lied von Reinhart. Das Lied unserer Rebellion.

Tasuta katkend on lõppenud.

8,99 €