Loe raamatut: «Organisationskultur der katholischen Kirche»
Paul F. Röttig
Organisationskultur der katholischen Kirche
Studien zur Theologie und Praxis der Seelsorge
99
Herausgegeben von
Erich Garhammer und Hans Hobelsberger
in Verbindung mit
Martina Blasberg-Kuhnke und Johann Pock
Paul F. Röttig
Organisationskultur der katholischen Kirche
Kulturwandel als notwendiges Kriterium der Kirche in der sich verändernden Welt von heute
echter
Für Christine,
die mir seit achtundvierzig Jahren bei der „Entzifferung des Alphabets des Reiches Gottes“ stets zur Seite steht.
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Umschlag: ew-print-medien, Würzburg
ISBN 978-3-429-04344-5 (Print)
978-3-429-04913-3 (PDF)
978-3-429-06333-7 (ePub)
eBook-Herstellung und Auslieferung:
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Ein persönliches Wort
Behutsam wachsender Glaube und daraus sich kristallisierende christliche Werte, aber auch persönliches, sich inmitten der menschlichen Gesellschaft mit allen Höhen und Tiefen angeeignetes Wissen und Erfahren färben, dirigieren und interpretieren mein „volles“ Leben von mehr als siebzig Jahren. Eigene Erkenntnis ermahnt jedoch: Erworbenes Wissen in Philosophie, Sozialpsychologie, Organisationspsychologie und -entwicklung, Kunstgeschichte, Ökonomie, Leadership und Organisationsmanagement mögen mit dem fortschreitenden Alter eines mit Christus und seiner Kirche eingeschlagenen Lebenswegs ihre Glaubwürdigkeit verblassen sehen, wenn sie nicht praktisch-theologisch reflektiert wően, wenn dieses erlebte und erfahrene Wissen nicht im Dialog mit Gott, der mit uns in Raum und Zeit unterwegs ist, auf seine Richtigkeit überprüft und auf den „theologischen Prüfstand“ gestellt werden möchte.
Der aus der Taufe des Geistes Gottes geborene Auftrag, Jesus Christus nachzufolgen und seiner und meiner Schwester und seinem und meinem Bruder auf denselben Weg, der „Kirche“ heißt, zu verhelfen, wird von den Vätern des Zweiten Vatikanums in Erinnerung gerufen: „Zugleich ist sie [die Kirche] der festen Überzeugung, dass sie selbst von der Welt, sei es von einzelnen Menschen, sei es von der menschlichen Gesellschaft, durch deren Möglichkeiten und Bemühungen viele und mannigfache Hilfe zur Wegbereitung für das Evangelium erfahren kann“ (GS 40). Sich auf diese angebotene Hilfe von der Welt auch tatsächlich einzulassen, kann allerdings nicht darin bestehen, sie nur zur eigenen Selbstbestätigung umzufunktionieren.
In diesem Buch geht es also um den Menschen in seiner sozialen Bedingtheit im Licht der Frohen Botschaft, die seines Lebens Sinngebung geworden ist und in der Gemeinschaft der Kirche weitergereicht werden soll. Im Berufsleben Erlebtes, das in der Communio des Volkes Gottes auf dem Weg zum eigentlichen Leben zum Erfahrenen fürs eigene Denken und Tun geworden ist, soll praktisches Beispiel sein für das hier Skizzierte.
Das im Jahr 2003 persönlich geleitete Projekt für die Institution der Catholic Relief Services (CRS) der Vereinigten Staaten (der „Caritas“ der USA) in Südost-Europa und der Kaukasusregion, setzte sich zum Ziel, eine im Rahmen der katholischen Kirche operierende multinationale karitative Organisation in ihrer Ganzheit neu auszurichten. Der Beratungsauftrag war klar definiert: das „sozial orientierte Unternehmen“, das im Auftrag und „im Schoß“ der Kirche handelt, von seiner Aufgabe im Bereich der Katastrophenhilfe in den betroffenen Kriegsgebieten zu neuen Tätigkeitshorizonten für die in verbrecherischen Auseinandersetzungen zwischen benachbarten Volksgruppen verletzten und geschundenen Menschen zu begleiten. In der Vergangenheit hatten die CRS auf dem Balkan vor allem für Überlebenschancen der Bevölkerung durch Versorgung mit Grundnahrungsmitteln und für Bereitstellung menschenwürdigen Wohnraums gesorgt. Es war ums nackte Überleben der Menschen gegangen. In Zukunft sollte es der karitativen Organisation ums Leben in erhoffter Fülle gehen; zum neuen Ziel der CSR wurde es, mit Mitteln, die durch Spenden der Glaubenden bereitgestellt wurden, wieder Hoffnung für Gestaltung und Bewältigung der Zukunft zu schenken: Es galt, vergewaltigten Frauen wieder zu ihrer menschlichen Würde zurück zu helfen, Eltern in ihrer Erziehungsaufgabe zu stärken, mit Kleinkrediten gesicherte Lebensbedingungen für Familien aufzubauen und in ein zerstörtes Bildungssystem zu investieren. Diese neuen Zielsetzungen bedurften nicht nur neuer Organisationsstrukturen der karitativen Organisation, sondern ganz wesentlich eines radikal unterschiedlichen Ansatzes menschlicher Zusammenarbeit und Kommunikation, das heißt einer neuen Organisationskultur im Licht der jesuanischen Option für die Armen und die Ärmsten am Rand der Gesellschaft.
Um den ersten Einstieg in die Gedanken der Abhandlung zu erleichtern, soll dem Leser quasi als vorausweisende Lesehilfe eine vereinfachte, dann jedoch im Laufe der Ausführungen systematisierte Begriffsbestimmung von Organisationskultur angeboten werden: Darin kann die Gesamtheit jener charakteristischen Werte und Überzeugungen einer Gruppe von Menschen verstanden werden, die sichtbar machen, wie die einzelnen Gruppenmitglieder im sozialen Zusammenspiel leben, zusammenarbeiten und einander behandeln. Wenn sich gesellschaftliche Werte ändern, folgt diesen meistens ein Kulturwandel der Institution, der allerdings auch von äußeren Ponderabilien durch die Führungskräfte angestoßen werden kann. Bewusste Veränderungen der gelebten Kultur in einer Organisation, die oft von den Führungskräften initiiert werden, können allerdings nur dann effizient und effektiv angestrebt werden, wenn diese auch in allen Nuancen ins Bewusstsein gerufen werden. In anderen Worten: Ohne eine Organisationskultur analysiert und somit für den Betroffenen bewusst erfahrbar gemacht zu haben, wird eine Kulturveränderung schwer durchzuführen sein. Hinterfragen und Verstehen der eigenen Kultur ermöglichen die Annäherung an eine andere Kultur und bilden die Basis dafür, die eigene Kultur in die gewünschte Richtung zu verändern.
Die Analyse der Organisationskultur der CRS und die daraus resultierende Notwendigkeit eines kulturellen Veränderungsprozesses stehen als Beispiel für viele ähnliche Projekte in profit- und sozial orientierten Institutionen, die ich im Laufe meines Berufslebens begleiten konnte. So sind in den letzten Jahren meiner weltweiten Beratungs- und Lehrtätigkeit und auf dem Weg durch diese Arbeit Erkenntnis und Wissen zu Begleitern geworden, die überzeugen, dass nicht nur „harte“, das heißt strukturelle Faktoren das Leben einer Organisation bedingen, sondern ihr Überleben ganz wesentlich auf „weichen“, nämlich kulturellen Faktoren gegründet ist.
Genau diese Erfahrungen möchte ich in einer Zeit offensichtlicher und grundsätzlicher Neuorientierung in und für die Kirche Jesu Christi einbringen und fruchtbar machen – allerdings ohne den Fokus auf Strukturfragen zu konzentrieren, die in den letzten Jahrzehnten zum Liebkind kirchlicher, hier vor allem progressiver Erneuerer geworden sind. Seit der Wahl von Kardinal Jorge Mario Bergoglio zum Nachfolger des heiligen Petrus am 13. März 2013 hat sich der Schwerpunkt des Bemühens um eine ecclesia reformanda von einem häufigen Streit um neue kirchliche Strukturen auf die Betonung einer notwendigen missionarisch-pastoralen Neubesinnung verlagert (EG 26), ohne allerdings den Strukturwandel zu vergessen (EG 27, 32, 33, 108, 189). Das Pontifikat von Franziskus zwingt die Kirche gleichsam zu einer Relecture einer schon Jahrzehnte andauernden Diskussion um einen glaubhaften innerkirchlichen Wandel. Da viele der von Papst Franziskus erhofften, angestrebten und eingeforderten kulturellen Veränderungen aus zeitlichen Gründen erst teilweise von der Fachliteratur aufgegriffen sind, wird in der Studie auf elektronische Dienste wie die der vatikanischen Medien, der österreichischen Kathpress oder des National Catholic Reporter zugegriffen. Die Taten und Worte von Franziskus lassen die Bedeutung seiner historischen Sendung erahnen. Sie führen nicht zu seiner Person, sondern wollen helfen, den Weg zum gemeinsamen Ziel zu ebnen.1
Mein besonderer Dank gilt Dr. Johann Pock, Professor für Praktische Theologie an der Universität Wien, für seine fachliche Begleitung, meinem Freund und verständnisvollen IT-Fachmann Ing. Gerhard Haider, meinem engagierten und sorgfältigen Lektor, Dr. Wolfgang Bahr, und vor allem meiner Frau Christine für ihre geduldige Begleitung und ihr kritisches Mitdenken.
1 Vgl. Werlen, Heute im Blick, 28.
Inhalt
1 Hinführung
1.1 Strukturelle Hinführung
1.1.1 Anliegen und Grenzen der gestellten Aufgabe
1.1.2 Forschungsstatus
1.1.3 Forschungsfragen
1.2 Methodisches Vorgehen
1.3 Arbeitshypothesen
1.4 Struktureller Aufbau
1.5 Thematische Hinführung
1.5.1 Praktisch-theologischer Ansat
1.5.2 Anthropologisch-biblischer Ansatz
1.5.3 Pastoral-biblische Arbeitsinitiativen
1.5.4 Pastoral-ekklesiologischer Ansatz
1.5.5 Theologen mit dem Geruch nach „Volk und Straße“
2 Begriffliche Interpretation und Fokussierung
2.1 Von welcher Kirche ist die Rede?
2.1.1 Kirche als Missionsauftrag Jesu
2.1.2 Die Zeitlosigkeit des Sendungsauftrags
2.1.3 Unterwegs als Volk Gottes
2.1.4 Kirche als komplexe Wirklichkeit
2.1.5 Kirche als homogene oder heterogene Organisation
2.1.6 Kirche, Gottes Kraft in menschlicher Schwäche
2.1.7 Das Kirchenbild von Papst Franziskus
2.2 Was ist Kultur?
2.2.1 Organisationskultur
2.2.2 Kirche als Subjekt und Studienobjekt
2.2.3 Kirche – eine Gesellschaft mit hierarchischen Organen
3 Organisationskultur der Kirche als Zeichen der Zeit
3.1 Dem Zeitgeist nicht ausweichen
3.1.1 „Kultur“ als gesellschaftliches und kirchliches Modewort?
3.1.2 Organisationskultur als Leistungs-Katalysator
3.1.3 Kulturelle Orientierung als Lebensmetapher
3.2 Mit dem Maßstab des Evangeliums
3.2.1 Weshalb Organisationskultur auch für die Kirche ein Thema ist
3.2.2 „Kultur“ im Sprachgebrauch von Papst Franziskus
3.2.3 Balance der Organisationskultur der Kirche
3.2.4 Wertschöpfung in der Kirche
3.3 Die vier Hofstede-Kultur-Dimensionen – Modell für die Kirche?
4 Organisationstheoretische Interdependenzen
4.1 Die Kirche als „sichtbare Versammlung“ von Menschen
4.1.1 Vom neuen Denken zum neuen Handeln
4.1.2 Kann die Kirche als Organisation bezeichnet werden?
4.1.3 Ein „neues Geschäftsmodell“ für die Kirche?
4.1.4 Die Kunst des gemeinsamen Ziel-Erreichens
4.2 Korrelation von Strategie, Struktur und Kultur
4.2.1 Ein Beispiel aus der Wirtschaft
4.2.2 Strategie, Struktur und Kultur der Kirche
4.2.3 Der „kirchliche Eisberg“
4.3 Leitlinien sind geduldig
4.3.1 Kirchliche Leitlinien
4.3.2 Ein neues Mission Statement für die Kirche?
4.4 Gemeindeentwicklung als evangelisierender Wandel
5 Sechs Dimensionen einer kirchlichen Organisationskultur
5.1 Die Steuerung der Kirche
5.1.1 Das Schiff der Kirche steuern
5.1.2 Verantwortung und Pflicht des Volkes Gottes
5.1.3 Mitarbeiter kontrollieren oder Kirche steuern
5.1.4 Autorität und Macht
5.1.5 Machtmissbrauch und Manager-Funktionalismus
5.1.6 Entscheidungen vorbereiten
5.1.7 Autokratische oder konsultative Entscheidungen
5.1.8 Entscheidungen treffen, wo sie anfallen
5.1.9 Konsens statt Kompromiss
5.2 Kommunikation in der Communio
5.2.1 Nachfolge Jesu in der praktisch-theologischen Kommunikation
5.2.2 Der Kommunikationsprozess
5.2.3 Dialog als Basis christlichen Zusammenlebens und -arbeitens
5.2.4 Dialogisches Miteinander
5.2.5 Kommunikation als christliche Herausforderung
5.2.6 Die Kirche als lernende Organisation
5.2.7 Digitale Interessen und Kompetenzen
5.3 Leistungsorientierung in der Kirche
5.3.1 Tayloristische Ansätze in der Kirche?
5.3.2 Eine V ision kirchlichen Handelns für morgen
5.3.3 Herausforderungen des Pareto-Prinzips
5.3.4 Prozess- oder Output-Orientierung
5.4 Die Kirche als Subjekt und Objekt des Vertrauens
5.4.1 Vertrauen als organisationspsychologische Prämisse
5.4.2 Hierarchische Werte des V ertrauens
5.4.3 Vertrauen als pastorale Dimension
5.4.4 Vertrauensschwund „der Kirche“ in die Kirche
5.4.5 Misstrauen ist mehr als Nicht-Vertrauen
5.4.6 Authentische Persönlichkeiten oder Windfahnen?
5.5 In der Communio wachsen können
5.5.1 Wachstum als Essenz kirchlichen Lebens
5.5.2 Eine „talentierte“ Kirche
5.5.3 … und dennoch Fehler machen dürfen
5.5.4 Verhaltens- und Wissensfenster für das Wachstum öffnen
5.6 Identität als Kulturmerkmal
5.6.1 Kollektive Identität
5.6.2 Der immaterielle Wert der Identität
5.6.3 Identifikation als Engagement-Katalysator
5.6.4 Identitätsverweigerung
5.6.5 Einheit – Heiligkeit – ganzheitliche Fülle – Apostolizität
6 Kulturanalyse zweier österreichischer Diözesen
6.1 Keine bewusste Polarisierung
6.2 Basisdaten der Online-Umfrage
6.3 Ergebnisse der sechs organisationskulturellen Dimensionen
6.3.1 Hierarchische oder eigen-initiative Steuerung
6.3.2 Offenes oder geschlossenes Kommunikationsverhalten
6.3.3 Prozess- oder resultat-orientierte Leistung
6.3.4 Vertrauen in Normen oder in Flexibilität
6.3.5 Quantitatives oder qualitatives Wachstum
6.3.6 Exklusive oder inklusive Identität
6.4 Eine renovierungsbedürftige Bildergalerie
7 Culture Change der Kirche
7.1 Die Kirche lebt und wirkt in der Welt
7.1.1 Krise als Auslöser eines Kulturwandels?
7.1.2 Effizienz eines Veränderungsprozesses
7.1.3 Veränderungen bedeuten immer ein Risiko
7.1.4 Einzementierte Organisationskulturen
7.1.5 Bewahrung der eigenen Machtposition
7.2 Ecclesia semper reformanda
7.2.1 Ekklesiogenesis
7.2.2 In Christus das Unmögliche möglich machen
7.2.3 Die Forderung des Evangeliums nach Wandel
7.2.4 Radikal die Dinge wieder auf die Füße stellen
7.2.5 Zwei Aspekte des kirchlichen Erneuerungsprozesses
7.2.6 Der Gnade Gottes Raum geben
7.2.7 „Heiße Räume“ kirchlicher Machtausübung
7.2.8 Von den Rändern „unserer eigenen“ Kirche
7.2.9 Culture Change als authentisches „Aggiornamento“
7.2.10 Die Mitte suchen
7.3 Werteorientierung der Zehn Gebote
8 Ein Blick zurück und voraus
8.1 Eine praktisch-theologische Roadmap des kulturellen Wandels
8.1.1 Evangelium des Nein
8.1.2 Ent-Klerikalisierung des gemeinsamen Wegs
8.1.3 Ziel einer menschlichen Gesamtkultur
8.1.4 Diversität als integrales Quantum der universalen Kirche
8.2 Evangelisierung der Kirche
8.2.1 Vision einer menschgewordenen Spiritualität
8.2.2 Rückblick auf Forschungsfragen und Arbeitshypothesen
8.2.3 Sich vom Geist Gottes leiten lassen
8.2.4 Ein Schlusswort
Anhang 1: Fragebogen
Anhang 2: Dekalog für den organisationskulturellen Alltag
Abkürzungen
Bibliographie
1 Hinführung
1.1 Strukturelle Hinführung
1.1.1 Anliegen und Grenzen der gestellten Aufgabe
Die Thematik des Einflusses der Organisationskultur, die Studien zufolge und somit statistisch nachweislich auf den Erfolg wirtschaftlicher Unternehmen, die Zielerreichung politischer Körperschaften, die Effektivität sozial orientierter Einrichtungen oder die Effizienz wissenschaftlicher Institutionen Einfluss hat,2 beschäftigt zunehmend auch kirchliche Gemeinschaften jeglicher pastoraler Ausrichtung und Größen, wie beispielsweise Gemeinden, Pfarreien, Seelsorgeräume, Ordensgemeinschaften, Ordinariate der Ortskirchen, karitative Einrichtungen und selbst die römische Kurie in ihrer Aufgabe für die Weltkirche.
In profit-orientierten Unternehmen der Gesellschaft spielen Analyse und Messbarkeit unternehmenskultureller Elemente und Erscheinungsformen eine essentielle Rolle in der angestrebten Umgestaltung oder geplanten Neuaufstellung der eigenen Unternehmenskultur oder im Wettbewerb um eine beherrschende Marktposition, die in der modernen Informationsgesellschaft zunehmend vom arbeitenden Menschen und weniger vom finanziellen Potential oder dem technischen Know-how bestimmt ist. Eine amerikanische Studie aus dem Jahr 1997, die den Marktwert von Unternehmen untersucht, kommt zum Schluss, dass die intangable assets wie beispielsweise der interne und externe Informationsfluss, das Wissen und die Kompetenzen der Mitarbeiter oder Marktkenntnisse und Kundenbeziehungen in den meisten Branchen deren buchhalterischen Wert übersteigen.3 Das diese Prozesse umspannende unternehmerische Schlagwort heißt: Organisationsentwicklung, ein Begriff, der vor kurzem auch von kirchlichen und hier vor allem im Zusammenhang mit der Schaffung größerer Seelsorgeräume von pastoralen Kreisen zu Eigen gemacht wurde.4 So spricht Christian Hennecke im Kontext von Weg und Ziel pastoralen Handelns von „Kirchen-Entwicklung“5, die sowohl die geistliche Entwicklung als auch die Struktur- und Personalentwicklung mit einschließt.
Die Zielsetzung der vorliegenden Arbeit ist die wissenschaftliche Aufbereitung der kirchlichen Organisationskultur und des möglichen kirchlichen Organisationswandels (Culture Change)6, nicht jedoch der kirchlichen Organisationsstrategien und der Organisationsstrukturen, wenn diese auch von der Organisationskultur maßgeblich beeinflusst werden und somit nicht völlig von der kulturellen Dimension einer Organisation oder Institution separiert betrachtet werden können.7 Dem analytischen Teil dieser Überlegungen, vor allem dem Kapitel 5, das das kirchliche Kulturprofil generell betrachtet, wird die Kirche als die von Jesus gewollte Communio aller Getauften zugrunde gelegt, während sich der empirische Teil im Kapitel 6 aus praktischen Gründen eine Grenze setzen muss, kirchliche Organisationskultur also am Beispiel eines bestimmten ortskirchlichen Samples beschreiben wird.
1.1.2 Forschungsstatus
Im Bereich der Ökonomie und des Managements ist die Thematik der Unternehmenskultur gemeinsam mit der Unternehmensstrategie und Unternehmensstruktur in den letzten Jahrzehnten aus Gründen eines Wandels der sozioökonomischen Lebensbedingungen und, damit zusammenhängend, mit einem umfassenden Wandel der Wirklichkeit (vgl. GS 5) intensiv analysiert und in wissenschaftlichen Publikationen dargestellt worden.
In der Kirche und ihren zugeordneten kirchlichen Bereichen ist das Thema der Organisationskultur bis dato eher selektiv behandelt, jedoch nicht ganzheitlich wissenschaftlich aufgearbeitet worden. Einen nicht zu übersehenden Bereich bilden die vielen Leitbilder von Diözesen, Ordensgemeinschaften, Laienverbänden, kirchlich-karitativen Organisationen und Bildungsinstitutionen, aus denen zumindest theoretische Rückschlüsse auf die jeweilige Kultur der Organisation gezogen werden können. Auch die weit gestreute Literatur über christliche Lebensspiritualität berührt immer wieder, eher indirekt, die Art und Weise, wie Glaubende gemeinsam auf das eine Ziel hinarbeiten und hinleben, wie Organisationskultur einmal flüchtig umschrieben werden mag, jedoch fehlt eine ganzheitliche Sicht, auch eine solche im Blickwinkel von Organisationsstrategie und -struktur.
Zweifellos sind Überlegungen im Bereich administrativ kirchlicher Tätigkeiten leichter zu artikulieren als in pastoralen Belangen, was jedoch nicht bedeuten kann, dass beispielsweise Fragen der Steuerung, der Kommunikation oder der Leistung in der pastoralen Arbeit keine Rolle spielten.
1.1.3 Forschungsfragen
Die sorgende Frage nach der Erneuerung der Kirche und ihrer pastoralen Aufgabe, ob von bewahrenden, restaurativen oder visionsgetragenen Kräften gestellt, mündet heute vielfach sofort in eine Diskussion, bestenfalls in einen Dialog, der sich auf strukturelle Gestaltungsmöglichkeiten kirchlicher Arbeit konzentriert. Eine solche Bedingung der Möglichkeit nach der Frage, welche Strukturen für die Kirche im 21. Jahrhundert relevant sind, um ans gemeinsame Ziel zu gelangen, ist dem Grundsatz nach nicht zu verleugnen. Allerdings wird der Fokus auf Strukturen sehr schnell in eine von reinem Aktivismus getragene Sackgasse münden, wenn dazu nicht parallel Fragen nach dem „Wie“ gestellt werden: Welchen Weg hat Jesus in seinem irdischen Leben als ganzer Gott und ganzer Mensch (Phil 2,6-11) seiner Kirche vorgegeben? Wie wollen wir als Menschen, die nur wenig geringer geschaffen sind als ihr Schöpfer (Ps 8,6),
(1) hier, in unserer konkreten Pfarre und in einer kulturbedingten Ortskirche als Teil der universalen Kirche, und
(2) heute, am Beginn des dritten Jahrtausends nach Seinem Leben und Sterben, den gemeinsamen Weg zum Ziel hin gehen?
Wenn das Zweite Vatikanische Konzil in der Konstitution über die Kirche in der Welt von heute davon überzeugt ist, dass „die von früheren Generationen überkommenen Institutionen, Gesetze, Denk- und Auffassungsweisen […] aber den wirklichen Zuständen von heute nicht mehr in jedem Fall gut zu entsprechen [scheinen]“ und es somit „zu schweren Störungen im Verhalten und sogar in den Verhaltensnormen [kommt]“ (GS 7), so muss die Frage gestellt werden, ob die irdische Kirche als die von Menschen getragene Versammlung – trotz ihres Beschenktseins mit himmlischen Gaben (LG 8) – sich aus dieser Erkenntnis ausschließen kann und darf. Die Konzilsväter verstehen die Kirche als eine „Kirche in der Welt von heute“ (GS 2). „Es gilt also, die Welt, in der wir leben, ihre Erwartungen, Bestrebungen und ihren oft dramatischen Charakter zu erfassen und zu verstehen“ (GS 4). Dieser Anspruch für die konkrete Kirche in der konkreten Welt schließt von der Organisation her gesehen nicht nur deren Strukturen, sondern auch deren Kulturen und Subkulturen mit ein, deren Hinterfragung, Analyse und Herausforderung Anliegen und Grenze dieser Überlegungen sein sollen.
Basierend auf und inspiriert von langjähriger Erfahrung im Bereich der globalen Wirtschaft soll der geschärfte Blick mit vier Forschungsfragen auf die Organisationskultur der Kirche gerichtet werden:
(1) Weshalb ist es für die Kirche zunehmend wichtig, sich mit der Frage der Organisationskultur zu beschäftigen und in der Folge nach der richtigen Organisationskultur zu fragen? Die Kirche existiert nicht außerhalb der Welt, sie ist Teil dieser Welt und dennoch ist sie nicht diese Welt (vgl. GS 1).
(2) Was kann die Kirche – ohne ihre Gleichschaltung mit säkularen Unternehmen – von der Welt, d.h. von weltlichen sowohl profit-als auch sozial orientierten Unternehmen lernen? Hier wird die Kirche in pastoralen Dimensionen vor allem als lernende Organisation gesehen werden müssen.
(3) Worin liegen die Unterschiede zwischen weltlichen Unternehmen und der Kirche als Organisation, die den Menschen in seiner konkreten Welt als Subjekt und Objekt hat? Und welche sind die Gründe für diese Unterschiede? Diese vor allem pastoral-ekklesiologischen Fragen werden mit dem Blickwinkel auf die Weltkirche und die Ortskirchen zu überlegen und beantworten sein.
(4) Last, but not least: Gibt es eine Roadmap zu einer veränderten Organisationskultur der Kirche? Wie sieht es mit der Fähigkeit, der Bereitschaft und dem Willen zur Veränderung in der Kirche aus? Hat sie die notwendigen Ressourcen zum Wandel? Benötigt sie professionelle Begleitung? Oder genügt die Weihegnade, den Erneuerungsprozess effektiv zu gestalten und das Ziel effizient zu erreichen? Oder braucht eine Organisation wie die Kirche nicht auch persönliche, fachliche und Führungs-Kompetenzen, um ihrem Sendungsauftrag in dieser Welt effizient gerecht zu werden?8
1.2 Methodisches Vorgehen
Ausgehend von dem praktisch-theologischen Ansatz „Sehen – Urteilen – Handeln“ des Begründers der Katholischen Arbeiterjugend Joseph Kardinal Cardijn für seine pastoralen Dienste im Arbeitermilieu, zunächst in Belgien und Frankreich, nach dem II. Weltkrieg dann auch in ganz Europa, wurde dieser so genannte „Dreischritt“ dann auch von Papst Johannes XXIII. in seiner Enzyklika Mater et Magistra (1961) zur methodischen Umsetzung der katholischen Soziallehre aufgegriffen und empfohlen.9
Für die geplante Arbeit soll eine Weiterentwicklung dieser in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts entstandene und pastoral bewährten Methodologie, nämlich der „Vierschritt“ angewandt werden, der dieselbe Logik enthält, aber das ursprüngliche Vorgehen verfeinert:10
(1) Der erste Schritt wird mit dem Begriff Orientierung umschrieben, der vor allem die Erfassung des pluralen Umfeldes, die Kontextualisierung, die Fokussierung auf das Ziel und die Verortung in der kirchlichen Tradition umschließt.
(2) Die Phase des Wahrnehmens, die am ehesten mit der Phase des Sehens im Dreischritt vergleichbar ist, geht allerdings über diese hinaus; denn mag das Sehen noch als neutraler Vorgang eingestuft werden, muss mit dem Wahrnehmen schon eine Deutung und eine Einordnung in die von dem Wahrnehmenden erfahrene Zeit und den ihm bekannten Raum verbunden sein. Dem wahrgenommenen Kairos wird die Frage zugrunde liegen, ob die Kirche sich als Teil der Welt hier und heute sieht, ohne mit der Welt von hier und heute ident zu sein.
Am Ende seines Buchs The Desert is Fertile goss kein Geringerer als Erzbischof Helder Camara diese zweite Phase des „Vierschritts“ in einen einfachen konkreten Satz: „Lasst uns Information über die Situationen zusammentragen, die wir verändern wollen.“11 In Prosa und Lyrik formulierte Camara 1974 in dem kleinen Werk seine tiefste Hoffnung nach Frieden und Gerechtigkeit in der Welt.12 2015 wird Papst Franziskus in seiner Ansprache an die katholischen Bischöfe Armeniens anlässlich des hundertsten Gedenktags des armenischen Genozids im Jahr 1915 seiner pastoral orientierten, jesuitischen Spiritualität gerecht, wenn er diese ermahnt, die Realität mit neuen Augen lesen zu lernen.13 Es geht ihm dabei um das persönliche Bemühen, die Realität von gestern mit den eigenen Augen in die konkrete Wirklichkeit von heute zu übersetzen.
(3) Der dritte methodische Schritt, d.h. die kriteriologische Phase des Deutens und Bewertens der in den ersten beiden Schritten erfahrenen und analysierten Zeichen des Raumes und der Zeit, soll einen Diskurs eröffnen, der das Wahrgenommene sowohl soziologisch, organisationspsychologisch als auch theologisch und hier vor allem praktisch-theologisch, d.h. disziplinär übergreifend analysiert. Keine Einzelwissenschaft, sondern vielmehr bunt zusammengesetzte Teams von Wissenschaftlern sind heute nicht nur im profanen, sondern auch im theologischen Umfeld gefragt, um den Herausforderungen unserer komplexer werdenden Realität glaubhaft entgegentreten zu können. Letztlich wird in diesem Schritt zu konkretisieren sein, ob die Kirche ganzheitlich zielorientiert denkt und handelt.
(4) Die unterschiedlichen Handlungsoptionen, die Kluft der von Jesus Christus „gemeinten“ und der nach zweitausend Jahren in der Kirche verstandenen oder missverstandenen Organisationskultur zu überbrücken wird Moment des letzten der vier methodischen Schritte sein. Hier darf und kann nicht der Fehler gemacht werden, wie er oft in weltlichen Organisationen erfahren wird, nämlich bei der theoretischen Analyse eines Problems oder einer Herausforderung stehenzubleiben, ohne den Mut aufzubringen, der Erkenntnis auch Taten folgen zu lassen.
Erfahrungsgemäß gewinnen diese vier Schritte nicht an Systematik und Wissenschaftlichkeit, wenn sie klinisch sauber auseinandergepflückt werden. So würde eine Erkenntnis im kriteriologischen Schritt nichts bringen, wenn die Möglichkeit des Handelns apriori weder für möglich gehalten noch angedacht werden darf.
1.3 Arbeitshypothesen
Die fünf Hypothesen, von denen die Arbeit ausgeht, sollen systematisch wissenschaftlich hinterfragt, bestätigt oder – wenn nachweisbar – auch widerlegt werden.
(1) Zunächst geht es um die Wirkung, die eine bestimmte Organisationskultur auf die beiden anderen Vollzugselemente einer Organisation, nämlich die Strategie und die Struktur der Institution, ausübt. Aus dem speziellen Blickwinkel der kirchlichen Organisation werden demnach sowohl die pastoralen Wege und Ziele als auch die Strukturen der Kirche von der organisationskulturellen Orientierung beeinflusst – erste Arbeitshypothese.
(2) Restrukturierungprozesse in der Wirtschaft starten häufig mit der Neuausrichtung der strategischen Vision und mit der Struktur der Organisation, denen dann aber auch die Re-Adjustierung der Unternehmenskultur folgen muss. Sollten jedoch Mitarbeiter nicht die richtigen Kompetenzen für diese veränderten Strukturen mitbringen, kommt es in der Regel zu einem right sizing, einem Prozess, in dem Mitarbeiter einfach „ausgetauscht“ werden. Die Realität der Kirche aber lässt einen solchen Prozess aufgrund der Personalknappheit geweihter Seelsorger (zumindest in Europa und den beiden Amerika) nicht zu. Daraus folgert die zweite Arbeitshypothese, dass ein erfolgreicher Erneuerungsprozess in der Kirche immer mit der Erneuerung der Organisationskultur beginnen muss, bevor Strukturveränderungen vorgenommen werden können.
(3) Im empirischen Teil der Arbeit soll mit der systematischen Analyse der Einstellung „kirchennaher“ Gläubiger aus den zwei österreichischen Diözesen Wien und Eisenstadt die Hypothese der Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit, der ersehnten Soll- und der tatsächlichen Ist-Situation dokumentiert werden.
(4) Als logische Konsequenz der Analyse der Organisationskultur, die mit dem organisatorischen Ziel und der bestmöglichen Struktur den eigentlichen Organisationsvollzug (erste Hypothese) mitgestaltet, und dem Auseinanderklaffen von organisationskulturellem Ist und Soll (zweite Hypothese) stellt sich die Frage nach Fähigkeit (Können) und Bereitschaft (Wollen), notwendige Veränderungen durchzuführen. Kann die Hypothese, dass das Zusammenspiel von Wandlungsfähigkeit und -bereitschaft auf unterschiedlichen Sendungsebenen der Kirche auch unterschiedlich zu Tage tritt, auf Grund empirischer Daten untermauert werden?