Ich hatte einen Schießbefehl

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Am nächsten Morgen war das Aufwachen umso schöner. Gemeinsam mit Corinna und Meike genoss ich den vorläufig letzten Sonntag in ziviler Freiheit. Meine äußerliche Gelassenheit war gespielt. Seit ich den Einberufungsbefehl in der Tasche hatte, zerriss es mir das Herz, sobald ich an Abschied dachte. Ich wollte nicht weg, befürchtete den Verlust menschlicher Wärme und Geborgenheit. Abseits von persönlichen Verpflichtungen, Planerfüllung und Vorbildwirkung in der Gesellschaft hatten wir eine Nische gefunden, in der der Altersunterschied zwischen Corinna und mir keine Rolle mehr spielte, wo wir gleichberechtigte Menschen mit Träumen, Wünschen und Hoffnung waren. Insofern bildeten die beiden Wochen vor meiner Einberufung die glücklichste Zeit meines Lebens, die Lust auf mehr machte. Von der großen Liebe hatte ich keine Ahnung, weil ich das Gefühl bisher nicht kannte. Noch nicht. Ich war damals zu jung, um zu begreifen, dass ich bereits liebte. Wahrscheinlich überforderte mich dieses Eingeständnis, mit dem ich mich konkret auf einen Menschen festlegte. Dabei hatte ich die Liebe des Menschen, den ich am meisten mochte, längst angenommen.

Am 3. November 1982 brach eine neue Zeitrechnung für mich an, 542 Tage Grundwehrdienst lagen vor mir. Die Kälte dieses Herbsttages stand in krassem Gegensatz zu meinem Abschied von Corinna. Ein langer Kuss beschrieb alles, was wir in diesem Augenblick für einander empfanden. Immer wieder riss ich mich los und kam zurück, um sie noch fester zu umarmen. Schließlich kehrte ich nicht mehr um. Mein Vater fuhr Jörg und mich zum Bahnhof in die Kreisstadt, dem so genannten Gestellungspunkt, wo sich alle Rekruten des Kreises zur Abfahrt nach Eisenach trafen. Ich hatte keinen Alkohol eingepackt, wollte mit klarem Kopf im Grenzausbildungsregiment ankommen. Meine Haare waren kurz, dass ich in der Ausbildung nicht aneckte. Wäre ich mit meinem Vater allein im Auto gewesen, hätte ich wieder gefragt, wie viele Menschen er im Krieg erschossen hatte, um sein Leben zu verteidigen. Die Antwort blieb er mir leider schuldig. Vor Aufregung brachte ich kein Wort heraus. Mein Leidensgenosse hinter mir blieb ebenfalls still. Er machte Blasen mit seinem Kaugummi, was den nervösen Fahrer sichtlich störte. Regelmäßig schaute er in den Rückspiegel. Mir war klar, dass er etwas auf dem Herzen hatte. Der Vulkan neben mir brodelte heftig. Es schien eine Frage der Zeit, wann er ausbrechen würde. Mit einem Glückspfennig schob ich die Haut über die Halbmonde meiner Fingernägel zurück und wünschte mir nichts sehnlicher als eine Autopanne, um den Zug zu verpassen. Aber unser 408er Moskwitsch, Baujahr 1970, lief zuverlässig wie ein Schweizer Uhrwerk. „Diese Russenkarren sind unverwüstlich“, prahlte unser LPG-Vorsitzender oft und der musste es wissen. Schließlich transportierte er mit seinem Mossi riesige Findlinge vom benachbarten Acker in seinen Steingarten.

Der Motor vom Moskwitsch dröhnte in den unteren Gängen fast so laut wie ein Traktor. Ein Autoradio auf voller Lautstärke hätte es nicht geschafft, dieses Geräusch zu übertönen. Wir besaßen kein Radio im Fahrzeug, mein Vater musste sich auf den Verkehr konzentrieren. Er hielt sich konsequent an die Bestimmungen der Straßenverkehrsordnung. Manchmal rollten wir im Leerlauf die Lieper Berge hinunter oder schlichen untertourig im höchsten Gang. Kurz vorm Abwürgen des Motors schaltete er herunter. Dabei umklammerte er in Zehn vor Zwei-Stellung das Lenkrad wie im Lehrbuch. Wenn Vati am Steuer saß, wusste ich nie so richtig, ob ich die Augen öffnen oder besser schließen sollte. Doch zum Meckern fehlte mir die Lust. Ich gebe zu, dass wir uns nicht immer verstanden haben. Aber ich zweifelte nie daran, dass ich mich auf meinen Vater verlassen konnte. Wenn ich ihn brauchte, war er für mich da. Selbstverständlich mochte ich den Griesgram über alles, doch in den letzten Tagen fanden wir nur selten eine gemeinsame Sprache. Dieser Zustand machte mir Angst. Über der Stille lag eine seltsame Spannung. Wir schwiegen nicht miteinander, sondern gegeneinander. In Gedanken ließ ich die beiden Wochen mit Corinna Revue passieren und bereute keinen Augenblick. Plötzlich überwand mein Vater seine Zurückhaltung und sprach von einer Episode im Leben, woraus ich schlussfolgerte, dass er gegen diese Beziehung war. Wahrscheinlich hatte ihn Mutti damit beauftragt. Ich fühlte mich wie vor den Kopf gestoßen und es verstrichen Minuten, in denen keiner etwas sagte. Der Ratschlag meiner Eltern missfiel mir, obwohl ich Verständnis dafür hatte. In der Vergangenheit mussten sie sich oft neue Namen einprägen. Ob Kirsten oder Jana bei mir aktuell waren, wussten meine Eltern nie. Ihnen fehlte die Kontinuität in meinen Beziehungen. Wie nur sollte ich ihnen glaubhaft vermitteln, dass Corinna die Richtige für mich war? Die Fahrt in die Kreisstadt reichte dafür nicht aus. Da ich beim Abschied keinen Streit wollte, blieb ich stumm. Jörg schmunzelte auf dem Rücksitz. Selbst er hatte bemerkt, dass Corinna zu mir passte. Von diesem Glück musste ich den Vati überzeugen, denn ich brauchte einen Fürsprecher in der Familie. Mein alter Herr stand auf meiner Seite, seit ich ihn beim heimlichen Rauchen erwischte. Meine Mutter schickte mich ins Dorf, um ihn zu suchen. Mir war klar, dass er sich in einer unserer beiden Gaststätten aufhalten würde. Neugierig betrat ich die Bahnhofskneipe und sah meinen Vater, der am Stammtisch saß und genüsslich an einer Jägerstolz-Zigarre zog. Sein knallrotes Gesicht signalisierte mir, dass er den glimmenden Stummel am liebsten verschluckt hätte. Mein alter Herr fühlte sich ertappt. Verunsichert nahm ich neben ihm Platz. Obwohl der stinkende Stumpen im Aschenbecher landete, begann ich zu husten von dem ganzen Qualm. Mein Vater spendierte eine Fassbrause und bat mich, seinen Rückfall ins ungesunde Laster daheim zu verschweigen, denn er galt seit einigen Jahren als Nichtraucher. Meine Verschwiegenheit belohnte er großzügig mit vielen Freiheiten.

Mein Vater ist ein großartiger Mensch gewesen, mit dem ich gern die Zeit verbrachte. Er war immer dabei, wenn Höhepunkte in meinem Leben anstanden und vermittelte mir Sicherheit. Leider habe ich ihm nie gesagt, dass ich mich in seiner Obhut geborgen fühlte. Wir hatten nur wenige Gemeinsamkeiten. Mein alter Herr war kein Mannschaftssportler wie ich, sondern ein verbissener Einzelkämpfer, der ehrgeizig Kraftsport betrieb und sich beim Angeln entspannte. Ich fuhr mit zum See, weil ich von ihm lernen wollte. Anfangs konnte ich nie meine große Klappe halten und fragte ständig, ob ich denn schon still sein müsse, um die Fische nicht zu verscheuchen. Wir hatten nicht einmal richtige Angelgeräte. Mein Vater brachte mir bei, wie man mit einem scharfen Taschenmesser eine Rute vom Baum abschnitt. Dabei mahnte er, mit dem Messer vom Körper weg zu schneiden. Während ich diese Prozedur früher als Erziehung empfand, rechne ich sie heute zur Familientradition, die von einer Generation an die nächste weitergegeben wird. Wenn ich meinen alten Herrn darum bat, spannende Geschichten von früher zu erzählen, schilderte er detailliert, wie er im Jahre 1936 das Reichssportjugendabzeichen ablegte. Fragte ich ihn nach seiner Rolle im Zweiten Weltkrieg, verstummte er. Er redete nicht gern vom Überlebenskampf 1944 in der Wüste Nordafrikas. Wie viele andere zwang man ihn in den Krieg, obwohl er jede Form von Ungerechtigkeit verabscheute. Mein Vater sprach von Angst und nie vom Mut, diese Angst zu besiegen. Daher sehe ich seinen Eintritt in die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) nach Kriegsende als konsequente und mutige Entscheidung. Ich erinnere mich an seinen Wutanfall, als er mich beim Lesen des verbotenen Buches „Mein Kampf“ erwischte, das er unter seinen Socken im sicheren Versteck wähnte. Mein Vater wollte mich vor dieser größenwahnsinnigen Lektüre schützen, die für die historische Einordnung des deutschen Faschismus wichtig ist. Für seinen Einsatz in Afrika hätte er sich nicht gerühmt, denn er war nur ein einfacher Militärkraftfahrer, der gesund nach Hause kommen wollte. Wenn die Reifen seines Jeeps in der Wüste qualmten, musste er anhalten und dagegen pinkeln, um den Gummi abzukühlen. Nannte er das etwa Kampf? Meine Gedanken wurden in diesem Moment so ungerecht und verletzend, dass ich mich selbst vor ihnen fürchtete. Mein alter Herr war kein Held, aber ein Vorbild, und ich wollte ihn unbedingt bei internen Wettkämpfen schlagen, die da lauteten: Wer fing den ersten und den letzten Fisch und wer hatte am Ende die meisten geangelt? Einmal gewann ich alle drei Disziplinen, obwohl ich nur einen einzigen Fisch fing. Der Vati redete den ganzen Tag kein Wort mehr mit mir. Manchmal sind wir richtige Rivalen gewesen, weil ich alles besser machen wollte als er. Warum gönnte mir mein Vater, der selbst nichts anbrennen ließ im Leben, das Glück mit Corinna nicht? Hielt er diese Frau für ein Flittchen, das kleine Jungs verführte oder war er einfach nur neidisch auf seinen Sohn? Das Gerede meiner Eltern vom großen Altersunterschied konnte ich nicht verstehen, denn Corinna und ich harmonierten bestens. Hatte ich ihnen bisher alles recht machen können, missfiel mir der Gedanke an ständigen Gehorsam. Irgendwie musste ich mich doch abnabeln. Ich wollte Corinna um jeden Preis, dessen war ich mir sicher. Schließlich kann man nicht alles über den Haufen werfen, wenn es unbequem wird oder den Eltern nicht in den Kram passt. Mein Vater schwieg. Vorwurfsvoll blickte ich ihn beim Aussteigen an und merkte, dass mein Vorbild zu bröckeln begann. Mir fehlten Verständnis und Toleranz, die er mir selbst stets vermittelte. Obwohl der Sonderzug nach Eisenach reichlich Verspätung hatte, verabschiedete sich mein alter Herr hastig von uns. Eine herzliche Umarmung verwehrte er mir. Wortlos fuhr mein Vater auf und davon.

Eisenach

Während der Fahrt nach Eisenach blieb ich bei Jörg, da er der Einzige war, den ich kannte. Wir wählten einen Waggon in der Mitte des Zuges, weil mein Kumpel meinte, dass dort bei einem Unfall weniger passieren würde als vorne, direkt hinter der Lok. Sicherheitsdenken zeichnete Jörg aus, der mit Leib und Seele in die Eisenbahnerlehre ging. Der Sammeltransport hielt nur in größeren Städten, wo weitere Soldaten zustiegen. Aussteigen durfte niemand. Im Nachbarabteil traf ich einen guten alten Bekannten, der in der gleichen Kreisliga Fußball spielte wie ich. Er beschwerte sich lautstark über das Getümmel auf den schmalen Gängen, das kein Ende nehmen wollte. Angetrunkene Rekruten nutzten die kurzen Aufenthalte, um sich mit Alkohol zu versorgen. Durchs geöffnete Fenster baten sie Wartende auf den Bahnsteigen, Schnaps einzukaufen. Die meisten Soldaten verzichteten aufs Wechselgeld und gaben 20 Mark für eine Flasche Juwel, die für 14,50 Mark am Bahnhofskiosk verkauft wurde. Das Geld saß locker, als gäbe es kein Leben mehr nach der Armeezeit. Bei dem feuchtfröhlichen Durcheinander fehlte mir die nötige Ruhe, in meinem Lieblingsroman von Alexandre Dumas zu schmökern. Da ich das Buch mehrmals gelesen hatte, ist es eine Art Talisman für mich geworden. Obwohl eine Militärstreife im Zug von vorne nach hinten und wieder zurück patrouillierte, spielten sich in einigen Abteilen chaotische Szenen ab. Übermäßiger Alkoholgenuss stellte die Evolution vollkommen auf den Kopf, erwachsene Menschen torkelten herum wie Primaten. Zum Glück setzten sich die Krakeeler irgendwann hin und schliefen ein. Ich zog den „Graf von Monte Christo“ aus der Tasche und las die kurze Zusammenfassung auf den Innenseiten des Buchumschlages. Weiter bin ich nicht gekommen, denn die Umrisse der Wartburg waren bereits durchs Fenster zu erkennen. Kurze Zeit später erreichte der Sonderzug den Bahnhof von Eisenach. Auf dem abgesperrten Vorplatz trieb man uns zusammen, um einigermaßen geordnet in Richtung Ernst-Thälmann-Straße zu laufen. Marschieren hätte bei den Schnapsleichen unmöglich ausgesehen. Inmitten einer orientierungslosen Herde trottete ich Jörg hinterher. Uniformierte Schreihälse sorgten vor, neben und hinterm Pulk dafür, dass wir auf dem Bürgersteig blieben. Wer trotzdem auf die Straße ausscherte, sammelte die ersten Minuspunkte. Wir überholten Betrunkene, die sich kniend auf dem Kopfsteinpflaster übergaben.

 

Im Schutze der Dunkelheit erreichten alle das Grenzausbildungsregiment „Theodor Neubauer“. Das um 1930 angelegte Kasernengelände der ehemaligen Wehrmacht bildete ursprünglich die nördliche Grenze der Stadt Eisenach. Die Kasernen waren drei- und viergeschossige Zweckbauten mit Satteldach, die in traditioneller Bauweise errichtet wurden. In diesen Gebäuden sollte ich meine Ausbildung absolvieren. Hinterm Kontrolldurchlass (KDL) bogen wir links auf die Regimentsstraße ab. Dahinter lag rechts der beleuchtete Appellplatz, der sich mit Zivilisten füllte. Nur Vorgesetzte trugen Uniformen. Ein kleiner, pummeliger Major schrie uns herzlich willkommen, stellte die Führung des Grenzausbildungsregimentes vor und übergab das Wort an den ranghöchsten Offizier in Eisenach. Der Regimentskommandeur beauftragte uns, im Angesicht der Bedrohung durch den Klassenfeind die sozialistischen Errungenschaften zu schützen. Was er vom Vaterland, von der Waffenbrüderschaft mit der Sowjetarmee und den Bruderarmeen, vom politisch bewussten Soldaten, von Befehl und Gehorsam, von der sozialistischen Soldatenkameradschaft und vom Ansehen der Grenztruppen der DDR erzählte, war mir nicht neu, doch am Abend dieses Tages hing einem das langweilige Gesülze zum Halse heraus. Mir wurde langsam kalt und müde war ich sowieso, aber das Begrüßungszeremoniell schien kein Ende zu nehmen. Zu guter Letzt erfolgte eine zentrale Anwesenheitskontrolle, bei der jedem einzelnen Rekruten eine Nummer zugeordnet wurde, die der künftigen Kompaniezugehörigkeit entsprach. Hier trennten sich die Wege von Jörg und mir. Auch den bekannten Fußballer verlor ich vorläufig aus meinen Augen.

Auf der Kompanie sahen alle Stuben gleich aus. Trotzdem durfte man sich keine aussuchen, die Zimmerbelegung stand vorher fest. Sogar die Betten hatte man mit winzigen Namensschildern versehen. Ich lag unten rechts, gleich neben der Tür, und musste immer den Lichtschalter betätigen, weil ich am dichtesten dran war. Die neuen Kameraden, alle älter als ich, kamen aus der Hauptstadt, aus Sachsen-Anhalt und dem Spreewald. Auf einer Stube wohnten sechs Mann, die eine Gruppe bildeten. Ein Zug bestand aus zwei Gruppen. Am ersten Abend blieb wenig Zeit zum Kennenlernen, weil der Unteroffizier vom Dienst (UvD) ins Zimmer platzte, um verschiedene Anzugsordnungen zu befehlen, obwohl wir noch gar keine Uniformen hatten. Offensichtlich fehlte dem Vorgesetzten der militärische Durchblick und mir das Verständnis für eine Dialektik in seinen Überlegungen.

Anschließend marschierten wir in Zivilklamotten zum Speisesaal, der am Ankunftstag ausnahmsweise bis 22.00 Uhr geöffnet hatte. Die Schlange vor der Küchenluke war übersichtlich, denn viele Kollegen verzehrten den mitgebrachten Proviant. Ich zog das hiesige Abendbrot vor und merkte auf den ersten Blick, dass die Zusammensetzung des Essens dem Abiturlehrstoff in Biologie entsprach. Ausgewogene Mahlzeiten sollten alle Nährstoffgruppen enthalten. Es gab Kohlenhydrate in Form von Mischbrot, Fett stammte aus der Butter und ein Schmelzkäseriegel in goldenem Stanniolpapier, lieferte Eiweiß. Dabei hätte die warme Milch ausgereicht, um uns mit den notwendigen Nährstoffen zu versorgen. Nach einer Katzenwäsche fiel ich müde ins Bett. Für Leute mit langen Haaren wurde es weit nach Mitternacht, weil beim Friseur ein Riesenandrang herrschte. Manch ein Rekrut musste mehrmals zum Nachschneiden, da den Vorgesetzten die Schnittlänge missfiel. Meine Frisur war für die Ausbildung praktisch und pflegeleicht.

Die offizielle Einkleidung fand erst am nächsten Morgen nach dem Frühstück statt. Übereifrige Offiziere trieben uns in ein verwirrendes Labyrinth, das sich Zentrale Bekleidungs- und Ausrüstungskammer nannte. Zuerst erhielten wir eine große Zeltplane, die alle Utensilien aufnehmen sollte. Die verantwortlichen Unteroffiziere wurden bei der Ausgabe von Soldaten unterstützt, die zu rotieren begannen, nachdem uns die Vorgesetzten mit bloßen Augen vermessen hatten. Für meine tatsächliche Konfektionsgröße interessierte sich niemand. Schuhe, Stiefel, Koppel und Stahlhelm flogen in hohem Bogen auf die Zeltbahn. Die Stiefelpaare waren der Ordnung halber mit derbem Bindfaden aneinander gebunden. Beim Anprobieren musste man aufpassen, um nicht zu stolpern. Ich kam nur schleppend voran, weil der Kollege hinter mir ständig auf meiner Plane rumtrampelte. Ein weißer Kreidestrich am Boden wies den Weg von einer zur nächsten Station. Überall roch es streng nach Waschpulver. Ein Teil der Klamotten kam direkt aus der chemischen Reinigung. In der ganzen Hektik fiel es schwer, an jeder Station das passende Wäschestück zu ergattern. Vorgesetzte achteten mehr auf die Vollständigkeit der Klamotten. Eine Dienstuniform, eine Ausgangs- bzw. Paradeuniform und zwei Felddienstuniformen für Sommer und Winter nannte ich mein eigen. Um die Winter-Felddienstuniform in der Ausbildung zu schonen, bekamen wir eine steingraue Watteuniform, die offiziell bereits lange ausrangiert war.

Auf unserem Zimmer herrschte ein heilloses Durcheinander, als sechs Leute ihre gefüllten Seesäcke vor dem Spind einfach fallen ließen. Die Sachen purzelten kreuz und quer durch die Stube, dass niemand mehr genau wusste, welches Kleidungsstück zu wem gehörte. Um die Bezeichnungen der einzelnen Uniformen zu trainieren, befahlen die Vorgesetzten verschiedene Anzugsordnungen und es begann eine richtige Modenschau. Raus aus den Klamotten, rein in die Klamotten. Auf diese Art und Weise überprüfte man die Vollständigkeit unserer Ausrüstung. Kleidung, die nicht passte, durfte innerhalb einer Woche umgetauscht werden. Es dauerte den ganzen Vormittag, die einzelnen Uniformteile zusammenzubasteln. Mit einem scharfen Taschenmesser wurden widerspenstige Knopflöcher vergrößert. Die Lederriemen der Hosenträger schmierte man mit Melkfett ein, um sie geschmeidig zu machen. Beim Anknüpfen der Schulterstücke half mir ein freundlicher Ausbilder, weil ich mich so ungeschickt anstellte, dass er an mir ein Exempel statuieren konnte. Das Dummstellen brachte Vorteile mit sich, wenn man es nicht übertrieb. Während dieser Modenschau demonstrierte der Gehilfe des Unteroffiziers vom Dienst (GuvD) das ordnungsgemäße Einräumen der Schränke. Sportzeug, Pullover, Hemden, Unterwäsche und Kragenbinden gehörten auf Kante, Geldbörse und Wehrdienstausweis ins abschließbare Wertfach, Essbesteck und brauner Plastikbecher ins Lebensmittelfach mit dem Lüftungsschlitz auf der Rückseite, Schuhe und Stiefel ins Fach links unten, alle Uniformen auf Kleiderbügel sowie Teil 1 und 2 mit Schutzanzug, Gasmaske und Stahlhelm auf den Spind. Der UvD kontrollierte. Missfiel ihm die Ordnung, kippte er die Schränke so weit nach vorne, dass alle Klamotten herausfielen. Nach diesem Geduldspiel streiften wir die normale Winterdienstuniform über und marschierten zum ersten Mittagessen in Eisenach. Es gab langen Kohl, kurz gekocht, mit reichlich Kümmel für die Verdauung.

Am Nachmittag ging es in Ausgangsuniform zum Regimentsfotografen, da wir im Wehrdienstausweis ein Passbild in Uniform brauchten. Der anfängerhafte Gleichschritt hin und zurück erinnerte mich an den von der Abschiedsparty mit Jörg daheim. In Eisenach mussten wir ein Bein stramm durchdrücken und das andere mindestens 30 Zentimeter über den Erdboden anheben. Das nannte man richtig marschieren.

Auf der Kompanie wurde die Modenschau fortgesetzt. Wir streiften die braunen Trainingsanzüge über und liefen zum Med-Punkt, wo uns Doktor Schnelltod eine Tetanusspritze verabreichte. Das Lazarett beherbergte zu dieser Zeit zahlreiche Innendienstkranke, die ungeniert mit erschlichenen Attesten prahlten und Dienstbeflissene auslachten. Im Med-Punkt lernte ich Nachtblinde kennen, die sich bei Einbruch der Dunkelheit am Koppel des Vordermannes festhielten, wenn wir marschierten. Anfangs hatten wir nur einen einzigen Nachtblinden auf der Kompanie. Während der Ausbildung wurden daraus drei, weil diese Rekruten von bestimmten Nachtübungen befreit waren. Die Rolle eines Simulanten kam für mich nicht in Frage.

Nach dem Abendbrot verabschiedeten wir uns endgültig vom Zivilleben. Jeder Soldat erhielt einen Karton, um seine Privatklamotten nach Hause zu schicken. Am Ende dieses hektischen Tages hatte ich nur das Bedürfnis, schnell ins Bett zu kommen. Trotzdem nervte uns der UvD mit einem wissenschaftlich erprobten, minutiös geplanten Tagesdienstablaufplan, der ab sofort praktiziert werden sollte. Ich lag auf meiner Pritsche, verfluchte den Kerl mit der roten Armbinde und fragte mich, warum er die Unteroffizierslaufbahn eingeschlagen hatte? War er ein Mensch, der aus politischer Notwendigkeit drei Jahre zur Fahne ging oder ein Intellektueller, bei dem ein künftiger Studienplatz als intensives Druckmittel eingesetzt wurde? Da dieser Mann weder überzeugt noch sonderlich schlau wirkte, konnte es nur das Geld gewesen sein, das ihn zur Fahne brachte. Die vierte Möglichkeit, als Unteroffizier herauszufinden, was er im späteren Leben machen wollte, konnte ich an diesem Abend nicht mehr abwägen, denn der Schlaf übermannte mich.

Am nächsten Morgen machten die Vorgesetzten ernst, um 6.00 Uhr ertönte der erste Pfiff aus einer Trillerpfeife auf dem Flur. Das schrille Weckkommando konnte man nicht überhören. Ich sprang unverzüglich aus dem Bett, schaltete das grelle Neonlicht im Zimmer an, warf die Zudecke zum Auslüften über den vorderen Bettgiebel und streifte die knallrote Turnhose mit aufgenähter Tasche, das gelbe, gerippte Turnhemd, den braunen Trainingsanzug und die schwarzen Lederturnschuhe über. Wer gleich beim Aufstehen trödelte, handelte sich unnötige Strafrunden beim Frühsport ein. Während sich die selbstbewussten Berliner nochmal im Bett umdrehten, beeilte ich mich, aufs Klo zu kommen, weil ich einer der Ersten an den Urinalen sein wollte. Niemand mag es, den Andrang auf der Toilette in zweiter oder gar dritter Reihe abzuwarten, wenn man pinkeln muss. An der täglichen Morgengymnastik hatten alle gesunden Soldaten teilzunehmen, die Innendienstkranken mussten während dieser Zeit spazieren gehen. Drückeberger standen in dunklen Ecken und rauchten. Im Vergleich zur militärischen Körperertüchtigung (MKE) bei den Streitkräften der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR) empfand ich Frühsport in Eisenach äußerst human. Die Soldaten der ruhmreichen Sowjetarmee traf ich daheim kilometerweit von der Kaserne entfernt, wo sie in Stiefeln, mit Uniformhose und freiem Oberkörper durch die Wälder rannten. Bei den Grenztruppen hingegen begnügte man sich mit gemütlichen Dauerläufen und gymnastischen Verrenkungen, die selbst Schwangere kurz vor der Entbindung hinbekommen hätten.

 

Im Anschluss an den Frühsport war eine Viertelstunde für Toilette, Körperpflege und das Anlegen der Uniform eingeplant. Jeder Armeeangehörige hatte sein Bett exakt zu bauen und die Schrankordnung herzustellen. Es folgte das Stuben- und Revierreinigen. Dazu ist das Kasernengelände in Außen- und Innenreviere aufgeteilt worden. Am frühen Morgen draußen die Regimentsstraße zu fegen und den Müll aufzusammeln, kostete Überwindung. Trotzdem entschied ich mich immer fürs Außenrevier, wenn ich wählen durfte.

Um 7.10 Uhr marschierten wir unter „Spaniens Himmel“ zum Frühstück, wobei unsere Stiefel im Takt auf den Boden knallten. Das Echo, das von den Häuserwänden zurückhallte, brachte einen wieder aus dem Rhythmus, was Ehrenrunden auf dem Appellplatz nach sich zog. Die Zeit für den Umweg fehlte beim Essen. Das Frühstück durfte zehn Minuten dauern, woraus locker fünf Minuten wurden, wenn wir zu lange vor der Ausgabe standen. Die Qualität des Essens war einfach und gut. Den Grenztruppen gewährte man den höchsten Verpflegungssatz innerhalb der militärischen Einheiten des Landes, um die Moral in der Truppe aufrecht zu halten. Also hätte es täglich qualitativ hochwertige Mahlzeiten geben können, wären nicht ständig Lebensmittel aus dem Lager in Eisenach verschwunden. Angeblich sind diese gegen Alkohol eingetauscht worden. Es reichte aber für Weißbrot, Butter, Marmelade und Schmelzkäse zum Frühstück. An Sonn- und Feiertagen lag sogar ein Stück Kuchen vom Vortag auf dem Teller. Muckefuck, lauwarmer Malzkaffee, ersetzte gewohnten Bohnenkaffee. Wir mussten uns zwar einschränken, aber verhungert ist keiner.

Bis zum Morgenappell wurde das Stuben- und Revierreinigen abgeschlossen, wobei die Wasch- und Sanitärräume einen Schwerpunkt bildeten. Die Nahrungsaufnahme hatte die Verdauung der Rekruten in Gang gebracht, so dass der Revierdienst nur mit Schutzmaske aufs Klo konnte. Beim Organisieren von Toilettenpapier erfuhr ich, dass jedem Soldaten laut Dienstvorschrift täglich genau 60 Zentimeter graues, raues Klopapier zustanden, die auch den letzten Hintern rot kriegen sollten. Pünktlich um 8.00 Uhr fand vorm Kompaniegebäude der Morgenappell statt, auf dem zuerst die Anzugsordnung überprüft wurde. Auffällige Soldaten mussten wegtreten, oberflächliche Rasur, Sauberkeit der Kragenbinde oder mangelhaften Stiefelputz verbessern. Selbst wenn alle Rekruten rein äußerlich der Dienstvorschrift entsprachen, pickten sich die Vorgesetzten ein Opfer heraus, das vor versammelter Mannschaft gemaßregelt wurde, was der Abschreckung dienen sollte. Dann verkündete der Offizier vom Dienst (OvD) den Tagesplan, der sich aus Politunterricht, Grenz- und Gefechtsausbildung zusammensetzte. Grundlagen des Gefechtes waren Taktik-, Schieß-, Schutz-, Exerzier- und Sanitätsausbildung, MKE sowie die Topografie. Berufskraftfahrer durchliefen eine Spezialisierung zum Militärkraftfahrer. Ich hatte mich anfangs für einen Hundeführerlehrgang eingetragen, der nach der Grundausbildung in Hildburghausen stattfinden sollte.

Von diesen Ausbildungsfächern gefiel mir MKE mit dem Achtertest und einem Härtetest, der unter anderem einen 1000-m-Lauf in Uniform mit Stiefeln und einen 15-km-Marsch vorschrieb, am besten. Nur die Sturmbahn, eine Anlage mit genormten Hindernissen aus Kriechstrecke, Sprunggraben, Klettertau, Eskaladierwand, Tunnel und Giebelwandfenster, bereitete mir Schwierigkeiten. Mich beschlich ein beklemmendes Gefühl, wenn ich durch die engen Betonröhren des dunklen Tunnels kroch, in denen immer Regenwasser stand. Einmal rutschte ich aus, knickte um und zog mir eine schmerzhafte Mittelfußprellung zu. Ein junger Militärarzt, der berufsbedingt in jedem Soldaten einen vorsätzlichen Simulanten sah, sprach von einer Glanzleistung und befreite mich die nächsten drei Tage von der gehassten Sturmbahn.

Die Innenausbildung fand oft in überheizten Schulungsräumen statt, wo niemand lüften durfte. Deshalb zog ich in einer Politstunde meine Uniformjacke aus und hängte sie über die Stuhllehne. Als sich der Oberleutnant hinterm Pult erhob und meine unvollständige Anzugsordnung entdeckte, begann er zu toben. Anfängliches Erstaunen wich blankem Entsetzen. Ich sah, wie sich das Gesicht des Lehrers zur Faust ballte. Auf dem Gipfel seiner Entrüstung fragte er, ob ich mir eine Erkältung wünschte. Genau die wollte ich unbedingt vermeiden. Nachdem sich der Offizier wieder gesetzt hatte, glaubte ich, dass er sein Pulver an Temperament verschossen hätte, doch weit gefehlt. Der Oberleutnant holte tief Luft und startete neue Hasstiraden gegen meine Person. Ich musste mir die Jacke anziehen und durfte den Rest der Stunde stehen, um anderen Rekruten als abschreckendes Beispiel zu dienen. Für unerlaubtes Ablegen von Uniformteilen in Tateinheit mit Wehrkraftzersetzung erhielt ich Urlaubs- und Ausgangssperre für zwei Wochen. Die Strafe hätten sich die Vorgesetzten sparen können, weil wir Rekruten bis zur Vereidigung sowieso nicht aus der Kaserne durften.

Das Mittagessen unterbrach den Ausbildungstag. Während der Außenausbildung auf dem Wartenberg wurde in der Feldküche gekocht. Ich suchte mir ein warmes Plätzchen an der Gulaschkanone und dachte beim Essen an die frisch zubereiteten Eintöpfe daheim. Die Suppen meiner Mutter schmeckten lecker, weil alles drin war, was im Garten geerntet wurde. In Eisenach musste man deutliche Abstriche machen. Meistens schwamm nur wenig Gemüse im Henkelmann, der Rest war verkocht. Gerüchte von überschrittenen Mindesthaltbarkeitsdaten beim Dosenfutter ignorierte ich. Daneben mochte ich jede Form von Eierteigwaren. Ich fand Nudeln mit Gulasch und Rot- oder Weißkohl lecker. Da nicht alle Rekruten so dachten, herrschte kein Andrang, wenn ich mir Nachschlag holte. Eine zusätzliche Portion verlängerte automatisch die Mittagspause. Leider mangelte es an frischem Obst und Gemüse. Grüne Äpfel, meistens Gelber Köstlicher, standen kistenweise herum.

Auf dem Wartenberg war immer etwas los. Mir fallen spontan einige ausrangierte Panzer ein, an denen wir die Nahbekämpfung trainierten. Nachdem uns die rostigen Wracks überrollt hatten, sprangen wir von hinten auf, um die Fahrer durch Auflegen von Zeltplanen zu blenden oder wir warfen Übungshandgranaten auf die Panzer. Die Auseinandersetzungen mit den unverwüstlichen Eisenschweinen bildeten nicht den Hauptgrund für die oft mühseligen Märsche zum Wartenberg. Häufig praktizierten wir Grenzausbildung, um das taktisch richtige Verhalten im Grenzdienst zu schulen. Dabei lernten wir den Aufbau der Grenzsicherungsanlagen anhand einer Übungsgrenze kennen. Die Lehrgrenze auf dem Wartenberg sollte ein originalgetreuer Nachbau der echten Grenze sein, aber man konnte auf den ersten Blick sehen, dass die teils maroden Hindernisse einen Anfang und ein Ende besaßen. Es war offensichtlich, dass die Sperranlagen so angelegt wurden, dass sie eine Flucht von Osten nach Westen verhinderten, was in krassem Gegensatz zur Argumentation der Offiziere stand, die von einer ständigen Bedrohung durch die Bundeswehr sprachen. Unser Hauptfeldwebel, kurz Spieß genannt, beendete mit dem Abendappell um 17.00 Uhr den Ausbildungstag. Die „Mutter der Kompanie“ kümmerte sich um Ausrüstung, Bekleidung, Essen, Post und Urlaub. Ihm unterstanden UvD und GuvD als Laufburschen sowie der Schreiber als Sekretär. Unser Spieß war Fähnrich und Parteisekretär der Kompanie.

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