Loe raamatut: «Das schöne Fräulein Li»

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Peter Brock

Das schöne Fräulein Li

Kappes siebenter Fall

Kriminalroman

Jaron Verlag

Peter Brock wurde 1966 in Pforzheim geboren, studierte in München Journalistik und lebt als Redakteur in Berlin. Er arbeitete unter anderem für die «Süddeutsche Zeitung» und den «Spiegel» und ist nun als stellvertretender Ressortleiter bei der «Berliner Zeitung» für Berlin und Brandenburg zuständig. Daneben veröffentlichte er Kurzgeschichten und gab einige Bände der Reihe «Berlin kompakt» beim Jaron Verlag heraus.

Originalausgabe

1. Auflage 2009

© 2009 Jaron Verlag GmbH, Berlin

1. digitale Auflage 2013 Zeilenwert GmbH

Alle Rechte vorbehalten. Jede Verwertung des Werkes und aller seiner Teile ist nur mit Zustimmung des Verlages erlaubt.

Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Medien.

www.jaron-verlag.de

Umschlaggestaltung: Bauer + Möhring, Berlin

Satz: LVD GmbH, Berlin

ISBN 9783955520069

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

EINS

ZWEI

DREI

VIER

FÜNF

SECHS

SIEBEN

ACHT

Es geschah in Berlin…

EINS

VIELLEICHT HÄNGT ES MIT DER LANDSCHAFT ZUSAMMEN, denkt Kweihwa Li. Vielleicht wachsen deshalb keine Haare.

Draußen vor der Stadt, rings um die Dörfer, dort, wo die Wasserbüffel leben, stehen ja auch keine Bäume. Dort ist der Boden braun und feucht. Er schwitzt so wie er.

Erneut beobachtet Kweihwa Li, wie sich unter seiner goldbeigen Haut die Muskeln des Unterarms zusammenziehen. Gleich wird er sie wieder entspannen, denkt sie, wenn er die Hände öffnet. Zwei-, drei-, vier-, vielleicht fünfmal wird es noch so gehen, bevor er den Teigklumpen seiner Mutter aufs dunkel-speckige Holzbrett klatscht. Auch das ist feucht. Dann kümmert er sich um die nächste Ladung, während seine Mutter die kleinen halbmondförmigen Taschen mit gehacktem Fleisch füllt. Das kennt Kweihwa Li, sie achtet nicht darauf. Sie schaut wieder auf die männlichen Unterarme im Teig. Kein Härchen. Kein einziges. Dabei könnten darauf Hunderte, ach was, Tausende wachsen.

Ihre Schwester Lienhwa Li hat ihr das geschrieben. Sicher hat sie auch mal irgendeinem Mann über den Arm gestreichelt, wer weiß. Kweihwa kichert leise bei dieser Vorstellung.

Dort in dieser Welt, in der alles anders ist, ist sicher auch so etwas möglich. Dort wachsen ja auch viele Bäume rings um die Stadt, wie Lienhwa schrieb. So wie eben auch Haare auf den Unterarmen von Männern.

Gut, auch hier in China gibt es große Wälder, aber weiter weg, vor allem oben im Norden. Und in Shanghai natürlich, da gibt es viele große Europäer, sicher auch mit bewaldeter Haut. Aber hier in Qingtian in der südchinesischen Provinz Zhejiang, hier gibt es so etwas nicht.

Kweihwa Li wäre auch gerne einmal dort, wo Züge in der Erde unter Straßen und Häusern hindurchfahren, wo man allen Ernstes nur Kaltes zum Abendessen serviert bekommt und wo es Menschen gibt, die so groß sind wie der Kohleofen der Garküche, bei der Kweihwa Li gerade ansteht.

Berlin ist ein Abenteuer. Das steht fest. Und ihre Schwester darf es erleben.

Kweihwa Li ist nicht neidisch. Vielleicht, sofern sie nicht vorher heiratet, geht sie ja auch nach Shanghai wie ihre Schwester, die dort an der Tongji-Universität Medizin studierte und Deutsch lernte, bevor sie zum Studium anderer Wissensgebiete nach Deutschland zog. Ihr Onkel in Berlin hätte sicher auch für sie noch ein Zimmer.

Aber will sie das wirklich? Mit Messer und Gabel essen, mit großen blassen Frauen neben betrunkenen Männern stehen, sich bunte Bilder von fratzenhaften Krüppeln in Galerien ansehen und dann noch lächeln, so wie Lienhwa Li oft ihre Abende beschreibt, oder mit politisch engagierten Landsleuten über Kommunismus diskutieren, über den Versailler Vertrag, der Japan bevorzugt und ihm das ehemalige deutsche Pachtgebiet Qingdao zuspricht?

Ach, Kweihwa Li weiß es nicht. Eigentlich interessiert sie das alles nicht besonders. Aber sie ist ja auch nicht gefragt worden, ob sie in die große, weite Welt hinauswolle.

Wenn ihr Vater sie weiterhin nicht fragt, wird er anderes mit ihr vorhaben und jemanden für sie finden, jemanden, der gut passt– zu ihr und zu seinem Teegeschäft.

Dann wird sie eben hierbleiben und weiterhin für ihre Schwester einkaufen und Pakete packen. Getrocknete Pinggu-Pilze und kleine getrocknete Fischchen muss sie nachher noch einkaufen und zu Hause ihren Lieblingstee sowie ein bisschen von dem weißen Yin Zhen einpacken.

Die Blassen und Behaarten trinken ja, wenn überhaupt, ganz anderen Tee, hat ihre Schwester geschrieben, gar keinen grünen, sondern schwarzen, der aus Indien kommt. Manchmal sogar mit Milch.

Ein wenig Mitleid hat sie schon mit ihr. Deshalb wird Kweihwa Li, wenn sie nun endlich diese gefüllten Teigtäschchen fürs Abendessen in ihren Blechbüchsen verstaut hat, noch geschwind bei ihrem anderen Onkel vorbeigehen, dem Steinschnitzer, und eine schöne Kleinigkeit für Lienhwa aussuchen.

Sicher, alle ihre Landsleute verkaufen in Berlin Steinfiguren -

davon lebt der Onkel dort ja auch ganz gut –, aber es ist etwas anderes, wenn solch eine Figur von der Schwester kommt und aus Jade gefertigt wurde statt aus billigem Speckstein. Die Deutschen, hat ihr Lienhwa Li einmal geschrieben, erkennen den Unterschied ebenso wenig wie den zwischen Chinesen und Japanern. Für die seien eben alle Asiaten und alle blassgrünen Steine Jade. Komische Menschen!

ZWEI

EIN ABGERISSENER KNOPF DES WINTERMANTELS wird es sein, denkt Hermann Kappe. So genau hat er auch gar nicht hinschauen wollen. Schließlich hat er an diesem Abend schon genug gequirltes Blut gesehen. Es gab Tote Oma. Allein das kann einen erschaudern lassen. Immer, wenn seine Oma in Wendisch-Rietz solche Topfwurst servierte, hat er den Kasper gespielt, damit er vom Tisch verwiesen wurde. Aber inzwischen ist er fast 34 Jahre alt und isst so etwas ganz gern.

Klara kocht Tote Oma fast so gut wie damals seine Oma. Inzwischen weiß er, dass solche Qualitäten kittend für eine Beziehung wirken können, besonders nach dem zweiten Kind. Er versucht in jüngster Zeit immer öfter, sich das vorzusagen: Sie kocht gut, sie kümmert sich bestens um Margarete und Hartmut, sie ist eine Ordentliche, eine Zuverlässige, eine Liebe. Und das genügt, das reicht, das ist alles, was man will, und alles, was man braucht. Kappe redet sich das krampfhaft ein, morgens beim Zähneputzen und abends beim Gutenachtkuss. Denn etwas in seinem Körper signalisiert ihm, dass es eben nicht mehr so ist. Dass das nicht reicht – nicht mehr.

Früher gab es eine Zeit, da genügte ein Blick, eine Umarmung, und er wusste, Klara, die, nach der sich andere Männer umschauten, ist die Richtige für ihn, der Hauptgewinn.

Aber diese Zeiten sind vorbei. Und wenn das Sich-selbst-gut-Zureden nicht mehr hilft, so helfen doch wenigstens noch immer zwei, drei Flaschen Bötzow – Kappes Lieblingsbier. Schließlich muss es irgendwie weitergehen mit ihm und Klara. Doch an diesem Abend hat er nicht einmal die erste Flasche leeren können, da schellte es schon. Er musste mitkommen. Der Schutzpolizist hat ihm aufgeregt von dem Mord auf der Oberbaumbrücke berichtet. Der Einsatz dulde keinen Aufschub.

Es ist kalt, sehr kalt an diesem 4. Februar, und die Straßenbahn, mit der Kappe so gerne vom Mariannenplatz aus fährt, können sie nicht nehmen, weil sie stillsteht. Die städtischen Arbeiter streiken mal wieder für mehr Lohn. Immerhin verkehrt die Hochbahn noch. Und vom Görlitzer Bahnhof aus ist es ja nur eine Station.

Genau so hat er sich einen gemütlichen Samstagabend vorgestellt: in der Kälte stehen, in die aufgerissenen Augen eines zerbeulten Toten sehen, die Alkoholausdünstungen der umstehenden Zeugen und Schaulustigen einatmen und sich dann auch noch von seinem besserwisserischen Kollegen, diesem schlaksig-großen studierten Ingenieur Dr. Kniehase, das blutige Etwas, von dem er noch immer denkt, dass es ein Wintermantelknopf sei, unter die Nase halten lassen.

«Das könnte ein wichtiger Hinweis sein», mutmaßt Dr. Kniehase.

«Könnte», brummt Kappe. «Könnte aber auch nicht. Könnte auch bloß ein abgerissener Knopf sein.»

«Nein, es ist ein Anhänger aus Jade mit eingraviertem Namen. Sicher gehörte der Tote zu irgendeiner Geheimorganisation.»

«Na, dann lesen Sie mal vor!», entgegnet Kappe, während er Dr. Kniehase dabei beobachtet, wie dieser mit bloßen Fingern das Blut vom Anhänger wischt.

Aber Dr. Kniehase kann die Schrift nicht lesen. Es ist Chinesisch. Oder Japanisch. «Sicher lebte das Opfer im gelben Viertel und war auf dem Heimweg.»

Schlaues Kerlchen, dieser Kniehase, denkt Kappe. Wenn es zehn Uhr abends ist, die Brücke nach Friedrichshain zum Schlesischen Bahnhof führt, wo gut zweihundert chinesische Händler wohnen, und einer von ihnen darauf liegt, mausetot, dann könnte er tatsächlich recht haben. Dann wird der zu Tode Geprügelte seinen Bierdeckel nicht bezahlt haben, dann wird er am Tresen etwas zu frech gewesen oder den weiblichen Rundungen einer Kellnerin zu nah gekommen sein. So etwas passiert eben. Dazu braucht man keine Geheimorganisation.

Aber Dr. Kniehase gibt nicht auf. «Sicher ein Mord zwischen rivalisierenden Chinesen-Banden. Da steckt so was wie die Mafia dahinter.»

Kappe wäre froh, wenn hinter Dr. Kniehases Äußerungen öfter mal etwas stecken würde. Wenn auch einfach nur ein klitzekleines Fünkchen Bescheidenheit. Kappe tritt ein paar Schritte zur Seite, steigt über den Bordstein und geht zu den vier Zeugen, die auf der Fahrbahn vor einem Audi frösteln, der von zwei Schutzpolizisten zwecks Tatortsicherung am Weiterfahren gehindert wird. Wie es sich wohl fährt in so einem neuen 14/50 PS Typ K mit 3,5-Liter-Motor, Vierradbremsen, Kugelschaltung und allem Pipapo, fragt sich Kappe. Viel lieber würde er jetzt mit dem Fahrer plaudern, als sich noch mal von den vier Angetrunkenen anhören zu müssen, was geschehen war. Sie sind nämlich die Einzigen, die gesehen haben wollen, was geschah.

«Aba nur von janz weit weg und nich genau», fährt einer von ihnen Kappe sofort in die Parade.

Der Wortführer, ein großer, dicklicher Mann mit der Gesichtsfarbe eines zu kurz gebackenen Eierkuchens und ebendieser Konsistenz, wiederholt, dass sie gerade aus Heinz’ Schänke am Gröbenufer kamen, als sie sahen, wie ein Mann auf der Brücke auf den Chinesen erst einprügelte und dann, als dieser am Boden lag, auch noch auf ihn eintrat.

«Det dit so een Schlitzooge is, ham wa ja nich jewusst.» Dann habe der Täter sein Opfer vom Pflaster aufgehoben und über die Brüstung in die Spree werfen wollen.

«Aba nich mit uns! Det war denn doch ’n bisschen zu ville», erzählt der Eierkuchen, und die drei nebenstehenden Schiebermützenjungs vom Typ Hungerhaken nicken. «Als er uns jesehn hat, hatta die Beene inne Hände jenommen und is jeloofen.» Aber wie er aussah, der Täter, oder was er anhatte, das wüssten sie nicht mehr.

Kappe schreibt sich die Namen der vier auf, die gegenüber in einem Lagerhaus des Osthafens arbeiten.

Der Anführer heißt Brückmann.

«Klar, wenn der Mord auf ’ner Brücke passiert», murmelt Kappe in seinen wintergrauen Wollschal hinein. «Wir sehen uns morgen früh um zehn im Präsidium», sagt Kappe befehlsmäßig knapp. «Und bis dahin sollte Ihr Gedächtnis ausgeschlafen sein».

«Aber morjen is Sonntach! Da wollt ick mit meena Jrete …», empört sich Brückmann.

Kappe lässt den jungen Stückgutträger, Kistenstapler oder was immer er sein mag, gar nicht erst ausreden. «Jawohl, Sonntag! Hier geht es um Mord und nicht um eine Landpartie!»

Kappe selbst ist am nächsten Morgen auch nicht ausgeschlafen. Er war nämlich auf dem Heimweg noch in seiner Stammkneipe «Zum Löwen» am Heinrichplatz eingekehrt, um sich dort mit seinem Freund Trampe zu treffen.

Dieser führt das Wort am Tresen und lässt sich selbst von Kappes Bierbestellung nur ungern unterbrechen. Er muss agitieren, «Massen bewegen», wie er gerne sagt, schließlich bekommt er sein Geld als Funktionär von den Sozialdemokraten, und da kommt ihm natürlich ein Urteil wie das des Berliner Landgerichts gerade recht, um über Kriegsgewinnler herzuziehen.

Da hat doch tatsächlich einer von diesen Gewinnlern, der erst mit Mehlsäcken, dann mit Korbflaschen, Heeresgerät und zu guter Letzt mit Bouillonwürfeln handelte, Millionen gemacht, sich eine Zwanzigzimmervilla für acht Millionen Reichsmark am Wannsee geleistet und sich sogar die Türgriffe seines Benz-Automobils, so schreibt es das Tageblatt, vergolden lassen. Und nun klagt er vor Gericht, weil ihm ein Geldverleiher, aufs Jahr hochgerechnet, 225 Prozent Zinsen für läppische 37 000 Mark berechnete, die er sich geliehen hatte.

«Geschieht ihm recht, so einem Volksschmarotzer!», erregt sich Trampe. «Unsere Jugend wurde im Krieg verheizt. 2,7 Millionen sind als Krüppel zurückgekommen, beschädigt an Kopf und Körper. Und so einer verdient sich ’ne goldene Nase.»

Das Gericht hat, was Kappe kaum glauben kann, die Klage abgewiesen und die 225 Prozent Zinsen nicht als strafbaren Wucher angesehen. Schließlich sei das Opfer nicht in einer Notlage gewesen.

«Nassforsch», sagte sein Vater immer, wenn einer, von sich selbst überzeugt, ohne dass viel dahintersteckt, einem anderen großkotzig kommen will.

Nassforsch, das ist auch dieser Brückmann, denkt Kappe. Darum hat er ihn auch absichtlich warten lassen und als Letzten zu sich ins Bureau gerufen.

Die anderen drei haben nicht viel gesagt. Nicht einmal die schwarzen Wollhosen und das cremefarbene Oberhemd unterm abgewetzten braunen Sakko haben sie beschreiben können. Und wenn sie schon nicht wissen, wie der Tote aussah, der doch immerhin stundenlang zu ihren Füßen lag, wie sollen sie dann erst den Täter beschreiben können?

«Groß, kräftig, kantig», behauptet Brückmann. «Ein Deutscher, ganz klar!»

Die drei anderen waren sich da nicht so sicher.

Ansonsten nutzt Brückmann die Gelegenheit, um in der Amtsstube seiner Meinung über die schmarotzenden Ausländer, die Kriegsgefangenen aus dem Osten, die in der Stadt geblieben sind, und die marokkanischen Soldaten der französischen Armee freien Lauf zu lassen. «Die besetzen unsa Saarland und besudeln unsere Frauen.» Brückmann holt behäbig ein Stofftaschentuch aus der Hosentasche, spuckt abfällig hinein, steckt es wieder ein und fährt fort: «Schweine sind det – und det Versailles! Eene Schande!»

Kappe schaut ihn nicht einmal an, er ordnet seine Unterlagen. Er ist gern Deutscher – aber dieser Ausländerhass, dieser billige! Kappe findet das widerwärtig. «Würden Sie ihn wiedererkennen?», fragt Kappe.

«Sicha! Aber ick würd ihn nich verraten, nicht ausliefern an diesen Memmenstaat. Er hatte sicha seine Jründe, so wat zu tun, auf dies Jesocks einzuprügeln, meine ich.»

«Es wäre aber strafbar, den Täter nicht zu nennen», entgegnet Kappe angewidert. «Und außerdem, das Opfer war kein Gesocks, es war ein Chinese. Ein Mensch wie Sie und ich.»

«So? Meinen Sie? Die kommen hierher, verdienen sich mit gefälschtem Nippes dumm und dämlich und machen die Mietpreise kaputt, weil se zu viel zahlen für die letzten Absteigen, so dass unsere Leute keene Unterkunft mehr finden. Und wenn se jut aussehn, poussieren se auch noch mit unsere Mädels. Nee, da hab ick keen Mitleid nich!»

«Das alles wissen Sie so genau?», fragt Kappe.

«Jawoll ja! Einem Kollegen isses so jegangen. Der hat seine Kammer verloren inner Krautstraße, weil die Wirtin von’ nem Chinesen mehr bekommen hat. Und als ihm dann die Hand ausjerutscht is und er dem Schlitzauge mal Bescheid jestoßen hat, issa auch noch vorm Kadi jelandet.»

«Und Sie rechtfertigen diese Körperverletzung auch noch?», fragt Kappe.

«Körperverletzung? Das war Notwehr! Nationale Notwehr sozusagen. Wir sind doch hier in Deutschland!»

Kappe merkt, dass das Gespräch mit Brückmann nur als Belastungsprobe für die Nerven taugt, und beschließt, dass dafür in seinem Leben Klara eine ausreichende Trainingspartnerin ist. Wer aus Brückmanns Umfeld wann in eine Chinesen-Schlägerei verwickelt war, das wird er mal gesondert prüfen, oder er wird es gar nicht prüfen. Denn dass Brückmann nicht der Täter sein kann, ist klar. So, wie das Opfer durch die Tritte zugerichtet wurde, hätte der Täter Blut an Schuhen und Hose haben müssen. Brückmann darf also gehen.

Und auch Kappe geht. Dorthin, wo das Opfer lebte. In Berlin gibt es 38 Kabaretts und jeden Tag schönere, jüngere Nackttänzerinnen, die die neue Freiheit der Sitten nutzen. Näheres weiß Kappe freilich nur von seinem Freund Gottlieb Lubosch, auch Liepe genannt, dem Adlon-Kellner, der sich im Nachtleben auskennt.

Es gibt Menschen in der Stadt, die ordern in Revuetheatern den Champagner nur flaschenweise, die schicken ihren Chauffeur zum Kokainkauf in die Friedrichstraße, und manchmal bringt der dann auch gleich noch ein, zwei leichte Mädchen in Pelz und Hut auf dem Rücksitz der Duxschen Pullmann-Limousine mit. Wer kann und will, der lässt es sich gutgehen. Besser als je zuvor. Manche aber werden durch die viele Reklame, die nun auch an Laternenpfählen hängen darf, unzufrieden. Sie glauben, zu kurz gekommen zu sein, und wollen ein größeres Stück vom Kuchen abhaben. Natürlich ohne es sich leisten zu können.

Diese Diskrepanz kann, kriminalistisch gesehen, zum verbotenen Eigentumserwerb unter Zuhilfenahme von unrechtmäßigen Handlungen führen, erinnert sich Kappe an das einst auf der Polizeischule Gelernte, an das er gerade denken muss, als er am Schlesischen Bahnhof aussteigt. Kurz gesagt, mancher mordet, um an Geld zu kommen, andere, wie Klara, wollen einfach nur ein neues Kleid mit Fledermausärmeln. Auch das ist teuer. Man denke nur an die Stoffverschwendung dieser modischen Schnitte. Andererseits, nackt kann Kappe seine Klara auch nicht aus dem Haus gehen lassen, seit der zweiten Geburt sowieso nicht mehr. Dick ist sie geworden.

Er schämt sich für solche Gedanken, als er an Mietskasernen in den Farben Blassgrau, Hellgrau und Dunkelgrau vorbei zum gelben Viertel marschiert.

Das kennen nicht viele in Berlin. Nur selten liest man in der Zeitung davon. Zwar ist es, mit New York verglichen, nur ein klitzekleines Chinatown, aber immerhin wohnen hier viele Händler.

Auch Kappe hatte sich bislang nicht sonderlich um dieses Viertel gekümmert. Mit der Farbe Gelb, stellt er nun fest, hat es nur rudimentär zu tun. Schön wär’s, wenn’s so wäre, denkt er sich: sonnengelbe Vorderhäuser, zitronengelbe Seitenflügel und maisgelbe Hinterhäuser. Er verharrt noch für einen Moment in diesem Tagtraum. Dann ist er angekommen im Geviert der Markusstraße, der Langen Straße, der Kraut- und der Andreasstraße, wo die chinesischen Händler hausen.

Zu sagen, ihre Hautfarbe sei gelb, wäre vermessen. Sie ist eher ein ockerartiges Grau.

Die Häuser sind wie überall in den Armutsvierteln des neuen, seit 1921 dank der Eingemeindungen auf gut 3,8 Millionen Einwohner angewachsenen Groß-Berlin tristgrau. Und das ist weniger eine Farbe als vielmehr ein Zustand.

Notausgänge aus diesem Leben gibt es hier in dieser Gegend häufiger als sonst wo. In jedem zweiten, dritten Haus ist eine Budike oder ein Bouillonkeller untergebracht. Nichts glänzt wie in den großen Revuetheatern, allenfalls die Augen der Betrunkenen. Aber flüchten aus dem Alltagsdasein, das hier gleichbedeutend ist mit auf engstem Raum zur Untermiete Wohnen, oft ohne elektrisches Licht und Bad, das kann man in diesen Gaststätten. Dazu braucht man keine Glitzerwelt, nur Alkohol. Und den gibt es, viel und billig. Und wem das nicht genügt, der macht endgültig Schluss. Eine Flucht ohne Wiederkehr, ein Sprung aus dem vierten Stock oder ein Schuss mit einem der Revolver, die es ja an jeder Ecke zu kaufen gibt.

1200 Mal im Jahr gelingt so eine letzte, endgültige Flucht in Berlin. Diese Zahl aus der polizeilichen Statistik hat sich Kappe gemerkt. Also jede Woche 23 Selbstmörder.

Weiter kommt Kappe in seinen melancholischen Gedanken nicht. Das ist auch gut so. Er ist ja weder Reichsbedenkenträger noch Heilsarmee-Oberst. Und jetzt ist er erst einmal pitschepatschenass, stinkt und wird von drei kleinen Chinesen ausgelacht, von denen keiner älter ist als vier.

Sie tragen trotz des eisigen Windes Hosen mit einem Schlitz am Hintern. Das spart Windeln.

Aber Kappe ist nicht danach, sich über nackte Kinderpopos zu amüsieren. Er klaubt sich erst einmal die Pilzreste aus den Haaren, die zusammen mit dem brackbraunen Wasser über ihn kamen.

Jemand hatte getrocknete Holzohrpilze eingelegt und das Wasser auf die Straße gekippt. Freilich ohne zuvor zu schauen. Wer schaut hier auch schon gerne aus dem Fenster, sieht man doch eh nur armselige deutsche Arbeitslose, schwer an ihren achteckigen Kollektionskoffern tragende Chinesen, Falschspieler und Betrüger, die am nahen Schlesischen Bahnhof Ankömmlingen aus der Provinz einen passenden Empfang bereiten wollen.

Wenn das Wasser wenigstens warm gewesen wäre, denkt Kappe, oder nach Rosenblüten geduftet hätte. Und nun kommt auch noch jemand, der versichert, ihn nicht hauen zu wollen. Na immerhin!

Die kleine Frau, nicht älter als dreißig, mit den tiefschwarzen Augen, den hochgesteckten rabenschwarzen Haaren und dem engen kohlenschwarzen Kleid verbeugt sich vor Kappe nun schon zum dritten Mal und sagt etwas, das wie «Nie hau!» klingt, und fügt dann noch so etwas wie «Hinn bau tschienn!» hinzu.

Dass sie ihn nicht hauen will, was ihr angesichts seiner körperlichen Überlegenheit auch schwergefallen wäre, freut Kappe, und dass sie erkennt, dass etwas «hin» ist, nämlich seine Unversehrtheit, das weiß er zu schätzen. Nur ob diese mit Hilfe eines Herrn Tschienn wiederaufzubauen wäre, daran zweifelt Kappe. Eines jedenfalls wird ihm schlagartig bewusst: Es wird schwer werden, den Mord an einem Chinesen aufzuklären, wenn man dessen Sprache nicht spricht. Aber Chinesisch lernen, das weiß Kappe, das geht gar nicht.

Dass die Frau zu ihm nur «Guten Tag!» und «Entschuldigen Sie!» sagte, das wird er eines Tages noch erfahren. Bis jetzt aber weiß Kappe nur, dass er wie ein begossener Pudel dasteht.

Die Chinesin versucht, ihn mit einem gräulichen Küchenhandtuch, das sicher eine Waschbrettallergie hat, trockenzureiben. Sie reicht mit ihren Armen kaum an seinen Kopf heran. So gelingt es Kappe, die gut gemeinte Hilfe galant abzuwehren und den dreckigen Lappen von seinem Körper fernzuhalten.

Unterdessen ist er, beinahe unbemerkt, der Mittelpunkt einer kleinen Menschenansammlung geworden. Zu den drei Kindern, die Kappe mit Pilzwasser auf dem Kopf so lustig finden, sind weitere Chinesen und auch ein paar Deutsche gekommen.

Kappe gehört nicht hierher, das sieht man an seinem Straßenanzug. Er kauft seine Hemden und Hosen zwar meist auch nur bei C&A in der Königstraße, gleich in der Nähe des Polizeipräsidiums am Alexanderplatz, aber besseres Tuch als diese lichtscheuen Gestalten hier trägt er allemal.

«Da müssen Sie die Polizei rufen! Sofort!», rät ihm eine ältere Frau.

«Ach was, wer sich hier rumtreibt, ist selber schuld», sagt ein Handwerker, der seine Werkzeugtasche vorsichtshalber mit beiden Armen fest umschlossen hält.

Kappe nickt nur.

Und die Chinesen? Die lachen einfach. Auch die älteren. Kappe stimmt in dieses Knabenchorlachen als Bass mit ein.

Bloß jetzt den Dienstausweis nicht zücken, denkt er. Er versucht es lieber mit einem Scherz und meint, auch der Regen sei schon mal sauberer gewesen. Dann bahnt er sich einen Weg durch die Schaulustigen.

Die chinesische Stifterin all dieses Unheils schaut Kappe hinterher.

Beim Zurückblicken sieht er, dass sie ihm zuwinkt wie ein kleines Mädchen.

Als Kappe seinen Slalom um spielende Kinder, Bettler, Fahrräder, stehengelassene Ascheimer und Holzkisten mit chinesischen Schriftzeichen fortsetzt, muss er sich eingestehen, dass er eigentlich gar nicht weiß, wo er hinwill.

«Willste mitkommen?», wird er von einem Mädchen gefragt, das seine Tochter sein könnte. «Ick mach et uns jemütlich.»

Kappe schüttelt nur den Kopf. Eigentlich hätte er seinen Ausweis ziehen und sie fragen müssen, wie alt sie sei, wie ihr Lude heißt und in welcher Kalenderwoche des Vorjahres sie sich das letzte Mal gewaschen habe. Aber er lässt es. Vielleicht ist es wieder diese nie so ganz zweifelsfrei diagnostizierte Stoffwechselkrankheit, die ihn seit seiner Jugend plagt und die ihm ab und an eine Extraportion bleierne Müdigkeit beschert. Aber da sieht er auch schon das rettende Schild an der Ecke Kraut- und Lange Straße: Schultheiss. Jetzt ein Bier. Es ist zwar nicht erlaubt im Dienst, und es wird seine Müdigkeit sogar noch verschlimmern, aber der hopfigherbe Geschmack auf der Zunge hat ihm schon oft beim Nachdenken über knifflige Fälle geholfen. Und nachdenken, das muss er nun wahrlich.

Denn klar ist bislang nur, dass der Tote allem Anschein nach als Händler arbeitete und wie viele seiner Landsleute von Tür zu Tür ging, um Specksteinschnitzereien, Porzellanvasen oder Lackschächtelchen zu verkaufen. Ein paar geschnitzte Drachen, die man als Staubfänger auf die Kommode stellen kann, sowie einen nicht unbeträchtlichen Geldbetrag fand man in den Manteltaschen des Toten. Aber einen Ausweis hatte er nicht bei sich. Oder wurde er ihm gestohlen? Aber warum sollte der Räuber dann das Geld zurücklassen?

Kappe steuert weiter auf die Kneipe zu. Er geht so zielstrebig über die Kreuzung, dass er fast von einem abbiegenden NAG-Sportwagen C4b über den Haufen gefahren wird. Kappe kann gerade noch rechtzeitig einen Sprung zurück machen.

Der am Steuer in dem offenen Wagen sitzende Chinese hupt und schreit.

Kappe versteht kein Wort. In Gedanken ist er bei dem Autotyp, einem NAG, einem bordeauxroten, gebaut von der Neuen Automobil-Gesellschaft in Oberschöneweide, der Fabrik, die von dem Manne gegründet wurde, dessen Sohn, Walther Rathenau, vor wenigen Tagen erst zum deutschen Außenminister ernannt worden war. Und ein derartiges Auto wird gefahren von einem Chinesen! Was für eine verkehrte Welt! Dieser Geruch! Der ist es. Kappe braucht einen Moment, um zu merken, was an dieser Kneipe anders ist.

Gut, da sitzen zwei Dutzend Chinesen im Gastraum und nur fünf, sechs Deutsche. Aber sonst? Alles wie immer und überall: blankgescheuerte Holztische, ungepolsterte Stühle, deren Schrammen davon zeugen, dass sie schon manchen Flug durchs Lokal überlebt haben, und hinterm Tresen ein Wirt des Typs «Eckkneipe»: unschätzbares Alter zwischen vierzig und sechzig, Bierbauch, Blick eines gutmütigen Dackels, der genau weiß, wo der Hase lang läuft, Lederschürze überm altersgrauen weißen Hemd, aus dessen zu weit geöffnetem Kragen gelbliches Feinripp und graue Brusthaare lugen, die Ärmel hochgekrempelt, die Hände im Spülwasser, der Blick bei den Gästen.

Klar, so jemand sieht einem wie Kappe sofort an, dass er nicht aus freien Stücken hier ist, um sich mal billig einen auf die Lampe zu gießen. Außerdem weiß der Wirt längst, obwohl es noch in keiner Zeitung hat stehen können, dass einer seiner Gäste tot ist. Deshalb überlegt er bei Kappes Anblick gar nicht erst, ob es sich bei ihm um eine Amtsperson handelt, die zwecks Kontrolle von Küche und Toilette vorbeikommt, oder um einen Polizisten, der illegal hier lebende Chinesen oder solche ohne Genehmigung zum Haustürverkauf sucht. Der Wirt weiß gleich, der kann nur wegen des Mordes da sein.

Kappe steht derweil noch staunend vor den mit chinesischen Schriftzeichen versehenen Blättern, die an die holzvertäfelten Wände geheftet sind.

«Tach! Det sind Bekanntmachungen des Konsulats für unsre China-Männer», sagt der Wirt, der hinter Kappe getreten ist.

«Schön! Und ich bin Kappe, Hermann Kappe.»

«Und Sie kommen von der Polizei wegen des Toten.»

Kappe ist solch eine Direktheit nicht unangenehm. Gern lässt er sich vom Wirt auf ein Bier einladen und stellt sich zu ihm an den Tresen.

Von den Chinesen achten nur wenige auf ihn. Nichts zeugt von Unruhe, Ängstlichkeit oder schlechtem Gewissen, registriert Kappe enttäuscht. Die meisten haben irgendwelche Dominosteine vor sich aufgebaut, sitzen zu je vier Mann am Tisch und spielen.

Dass es sich dabei um Mahjong handelt, bekommt Kappe vom Wirt erklärt. Ein Spiel, das man freilich auch mit Karten spielen könnte, aber Schiffer auf dem Jangtse haben es erfunden, und damit die Karten nicht ins Wasser geweht wurden, nutzten sie Steine zum Spielen. Er erklärt ihm auch, dass der Getötete Herr Keung geheißen habe, noch bevor Kappe danach fragt. Er sagt ihm zudem, dass er den Vornamen nicht kenne, weil sich die Chinesen ohnehin kaum mit Vornamen anreden würden. Keung jedenfalls bedeute Kraft, das sei ihm gesagt worden, und kräftig sei der Tote ja tatsächlich gewesen. «Der hat für den Wong geschuftet, diesen Schuft!», fährt der Wirt fort, und ohne auf eine Nachfrage zu warten, fügt er hinzu: «Des is een übler Jeselle, kann ick Ihnen sagen. Der führt een härteres Rejiment als der Li, und ganz koscher is der ooch nich.»

Manchmal, denkt Kappe, genügt die Zeit, die man für zwei Schluck Bier braucht, und schon erhellt sich die mondlose Finsternis, die am Anfang jeden Mord umgibt. Beim zweiten Bier weiß er bereits, dass es sozusagen zwei Chefs der chinesischen Händler gibt oder vielleicht auch zwei Paten: Wong und Li.

Während Wong noch ganz in der Nähe seines Lagers in der Krautstraße wohnt und erst vor zwei Jahren den Großhandel für die an Haustüren feilgebotenen Waren von einem Onkel übernahm, hat sich Li, der mit seiner Familie schon 1908 aus der südchinesischen Küstenprovinz Zhejiang mit der Transsibirischen Eisenbahn über Moskau nach Berlin kam, längst im Handel mit Lackwaren, Porzellan und Steinschnitzereien etabliert, und zwar so gut, dass er nur noch sein Lager im gelben Viertel hat. Er selbst, der Chef, lebt mit seiner Familie dort, wo auch Klara gerne mit Kappe hinziehen würde: in der Kantstraße in Charlottenburg.

€5,49
Vanusepiirang:
0+
Ilmumiskuupäev Litres'is:
22 detsember 2023
Objętość:
231 lk 2 illustratsiooni
ISBN:
9783955520069
Kustija:
Õiguste omanik:
Автор
Allalaadimise formaat:
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Mustand
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