Martin Heidegger – Der konsequenteste Philosoph des 20. Jahrhunderts – Faschist

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Martin Heidegger – Der konsequenteste Philosoph des 20. Jahrhunderts – Faschist
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Peter Decker

Martin Heidegger
Der konsequenteste Philosoph
des 20. Jahrhunderts
Faschist

Gegenstandpunkt Verlag

Inhalt

Vorbemerkung

Vorwort

Die Lehre

I. Philosophie ohne Ende oder ‚Ultima Philosophia‘

II. Erarbeitung des Gegenstands oder ‚creatio ex nihilo‘ Erster Vorwurf an die Wissenschaft = die philosophische Methode

Exkurs: Voraussetzungslogik oder die Kunst des Hinterfragens

Der zweite Mangel der Wissenschaft = die Gründe der Philosophie

Die Probleme der Philosophie

III. Der absolut universale Gegenstand ‚Sein‘ oder hocuspocus metaphysicus

IV. Der Kampf der Philosophie gegen das Denken

V. Der Sinn vom Sein oder memento mori

1. Der Mensch

2. Die Welt der Dinge

Apropos „Sinn des Daseins“ – Zeit & Tod

Heidegger und das Fach

I. Das Problem: ein Faschist aus philosophischem Drang

II. Der Kollege im Anliegen Sinnsucherei: Denken aus dem Geist der Rechtfertigung

III. Der überlegene Totalosoph: Schluss mit dem Argumentieren in der Metaphysik!

„Woher, Wohin und Wozu von Welt und Leben“

Suche nach dem Urstoff

Absage an die Metaphysik

IV. Das mutige Bekenntnis zum Ideal aller Philosophen: Ich weiß, dass ich nichts weiß!

V. Die Identität des Fachs: die Suche nach Sinn ohne Gott

Anhang

Der Faschismusvorwurf an Heidegger und seine Bewältigung

Vom Bedürfnis, Geist und Macht zu verwechseln

Wie faschistisch ist Philosophie? Oder: Wie philosophisch war der Faschismus?

Der Faschismus-Verdacht durch Farías …

… und seine Zurückweisung

Ein philosophischer Disput von (inter-)nationalem Wert

Abkürzungen häufig zitierter Werke

Heidegger, Martin

Die Grundprobleme der Phänomenologie, Marburger Vorlesung, Sommersemester 1927, in: Heidegger Gesamtausgabe, II. Abt., Bd. 24

— „Grundprobleme“

Sein und Zeit, in: Heidegger Gesamtausgabe, Bd. 2

— „Sein und Zeit“

Vom Wesen des Grundes, in: Festschrift für Edmund Husserl zum 70. Geburtstag gewidmet, Ergänzungsband zum Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung, Halle a. d. Saale 1929

— „Wesen“

Was ist Metaphysik, Antrittsvorlesung in Freiburg 1923, Bonn 1931

— „Metaphysik“

Die Selbstbehauptung der deutschen Universität, Rede, gehalten bei der festlichen Übernahme des Rektorats der Universität Freiburg am 27.5.1933, in: Freiburger Universitätsreden, Heft II, Breslau 1933

— „Rede“

Einführung in die Metaphysik, Vorlesung 1935, in: Heidegger Gesamtausgabe, II. Abt., Bd. 40

— „Einführung“

Die Technik und die Kehre, Pfullingen 1962

— „Technik“

© 2020 GegenStandpunkt Verlag

Vorbemerkung

In den rund 30 Jahren seit der ersten Auflage dieses Buches ist das bürgerliche Denken über Heidegger natürlich zu neuen Erkenntnissen gelangt, sich in einer Hinsicht freilich treu geblieben: seiner Kombination aus Unwillen und Unvermögen, in der Philosophie des Schwaben die faschistische Gesinnung zu entdecken, die er Zeit seines Lebens nicht verhohlen hat. Dies gilt auch und gerade für die große Entdeckung aus dem Jahr 2015, die „Denktagebücher“ des Philosophen, die von ihm „als der krönende Abschluss der Gesamtausgabe seiner Werke vorgesehen wurden“ (Die Zeit, 23.12.2015; alle folgenden Zitate ebd.) und in denen der kritische Geist in Feuilleton und Wissenschaft endlich fand, wonach er suchte: astreine Bekenntnisse zur NS-Propaganda von Volk und Führer, Rasse und Opfertum, die den großen Denker als Faschisten entlarven. Derart wollte man die Praxis des deutschsprachigen Philosophiebetriebs, Heideggers politische Gesinnung „nicht als von seinem ureigenen Denken getragen“ anzusehen, ihrer Unhaltbarkeit überführt haben – und hat doch nur ein weiteres Mal die etablierte Trennung zwischen dem Geist von Heideggers Philosophie und seiner Affinität zum Faschismus fortgeschrieben: In Textstellen, die der Mann erfreulicherweise seinem Gesamtwerk zugeordnet hat, hat man gefunden, dass er doch glatt „stets gesagt und geschrieben [hat], was er wirklich dachte – er war wirklich Faschist“. Am faschistischen Geist einer Philosophie finden kritische Antifaschisten einfach nichts zu kritisieren: Was der Denker „wirklich“ denkt, offenbart sich für sie erst dort, wo er sich offen zum Faschismus bekennt. Dass einer aus philosophischer Drangsal Faschist wird, kommt für sie nicht in Betracht.

Die weitgehend unveränderte Neuauflage des Bandes, der sich der Kritik bürgerlicher Wissenschaft widmet, zeigt, wie so etwas geht. Ein Artikel im Anhang befasst sich ausführlicher mit der im Vorwort von 1988 aufgegriffenen kritischen Diskussion um Heidegger.

© 2020 GegenStandpunkt Verlag

Vorwort

Ein neues Buch über Heidegger beweist, dass der verehrte Philosoph länger und häufiger mit politischen Vertretern des Faschismus verkehrt hat, als er selbst nach dem Ende des Dritten Reiches zugegeben hat.

Die bundesrepublikanischen Bildungsblätter wittern einen besprechenswerten Skandal im ewig fortgeschriebenen Problem der „Vergangenheitsbewältigung“. Einer, der unter Bildungsmenschen einiges gilt, verliert seine Glaubwürdigkeit – nur weil auf verehrungswürdige Geistestraditionen erpichte Anbeter von Gedanken, die sie – nein, nicht für korrekt, sondern – für groß halten, über eines erschrecken: Wenn sie merken, dass ein „großer Denker“ an dem Sündenfall der nationalen Geschichte mitgewirkt hat.

Über die Philosophie Heideggers scheint sich nach wie vor niemand aufzuregen. Philosophieprofessoren, seien sie nun Anhänger bzw. Schüler von ihm, seien sie nur Interpreten, die sich begabt und gelehrt genug wähnen, ihn zu „verstehen“, ist an den Lehren des „Seinsphilosophen“ nichts Anstößiges aufgefallen. Und insofern ist das bisschen Aufregung über die Mitteilungen im Buch von Víctor Farías, „Heidegger und der Nationalsozialismus“ (1987), gar nicht verwunderlich. Wer will sich schon gerne nachsagen lassen, einem leibhaftigen Komplizen des Faschismus Größe zu attestieren? Wer nimmt schon gerne zur Kenntnis, dass die „großen“ ethischen, kosmologischen und metaphysischen Fragen, die er bei Heidegger mit Respekt genießt, vereinbar sind mit einigem, was jedem Ethiker als Böses geläufig ist? Es ist, als ob die Gemeinde der philosophischen Tradition mit dem Verdacht befasst ist, dass ihre Geistesverwandtschaft mit Heidegger, auf die sie sich sonst einiges zugutehält, nun – nach der „Enthüllung“ – ein schlechtes Licht auf ihre ureigensten philosophischen Neigungen werfen könnte.

Nachgegangen wurde diesem Verdacht indes kaum. Die Trennung zwischen dem Denker und dem Menschen, der „politisch irrte“, tut nach wie vor gute Dienste. Zumal die Behauptung, Heideggers Ideengut erfülle den Tatbestand einer „faschistischen Philosophie“, eines sicher nicht auf ihrer Seite hat: den Beweis, dass „Sein und Zeit“ ein braunes Parteiprogramm darstellt.

Dennoch ist die so abwegig erscheinende Verleihung des Prädikats „faschistisch“ an die Philosophie des Schwaben durchaus nichts Irrationales. Wer weiß, und beim Studium von Heidegger ist das kaum zu übersehen, dass er es nicht mit Parteiparolen, sondern eben mit Philosophie zu tun hat; wer darüber hinaus weiß, wie die politische Logik der Faschisten geht – und die beginnt nicht beim Antisemitismus, sondern fordert ihn als Konsequenz ganz anderer, auch jedem Demokraten geläufiger Gedanken über Gott-Staat-Mensch –, vermag durchaus zu entdecken, dass Philosophie und politischer Faschismus sehr wesentlich miteinander zu tun haben.

 

Allerdings nicht nur die Philosophie Heideggers. Davon handelt die vorliegende Schrift. Sie erklärt nicht nur ein paar der allergrundsätzlichsten Ideen des in Verruf gekommenen Sprachkünstlers, sondern auch die Liebe echt „demokratischer Philosophie“ zu ihm. Letztere sucht auch keinen anderen Sinn, wenn sie über Glück und Tugend, Irrtumsmöglichkeit und Wahrheit, Staat und Mensch elitär schwadroniert. Von der allseits geachteten christentümlichen Philosophie ganz zu schweigen.

© 2020 GegenStandpunkt Verlag

Die Lehre
I. Philosophie ohne Ende
oder ‚Ultima Philosophia‘

Auch wir als dogmatische Marxisten können unserem Lehrmeister einige Vorwürfe nicht ersparen. Nicht nur, dass unser Karl Marx partout der Meinung war, just er müsse an Abraham Lincoln schreiben und seine Wiederwahl als großen Sieg der Arbeiterklasse feiern (MEW 16, S. 18); auch und vor allem die These vom ‚Ende der Philosophie‘ halten wir für einen seiner wenigen Irrtümer. Gleich zwei saudummen Dogmen der Bourgeoisie gibt dieses Fehlurteil Anlass zur empirischen Bestätigung. Erstens kommt hier die historische Widerlegung des Marxismus unverdient zum Zug: Hat nicht die Geschichte gezeigt, dass die Philosophie munter weiterlebt und damit der Prophet Marx eben wie fast alle Propheten ein falscher war? Gibt es nicht in unseren Tagen mehr und vor allem besser genährte Philosophen als je in der Geschichte der Menschheit?

Zweitens muss der Marxist der Bourgeoisie immerhin in Bezug auf ihr eigenes Denken recht geben, wenn diese gegen den Marxismus einwendet, er lasse sich eine „irrationale Überschätzung menschlicher Vernunft“ 1) zuschulden kommen. Marx war in seinem „Vernunftoptimismus“ nämlich der irrigen Auffassung, es ginge dem Denken um Erkenntnis, und die Philosophie habe angesichts der Entstehung positiver Wissenschaft, die wirkliche Gegenstände erklärt, ihre Schuldigkeit getan:

„Da, wo die Spekulation aufhört, beim wirklichen Leben, beginnt also die wirkliche, positive Wissenschaft, die Darstellung der praktischen Betätigung, des praktischen Entwicklungsprozesses der Menschen. Die Phrasen vom Bewusstsein hören auf, wirkliches Wissen muss an ihre Stelle treten. Die selbständige Philosophie verliert mit der Darstellung der Wirklichkeit ihr Existenzmedium.“ (MEW 3, S. 27)

Wie man sich täuschen kann, wenn man der Philosophie, die man selbst in Grund und Boden kritisiert hatte, zugute hält, sie sei an wirklichem Wissen interessiert! Statt ihr Existenzmedium zu verlieren, hat sie es durch die Herausbildung der Einzelwissenschaften erst so richtig gesichert. Unermüdlich bestehen Philosophen darauf, eine Sorte „Erkenntnis“ zu pflegen, zu der die Wissenschaften nicht in der Lage seien. Ohne auch nur einer einzigen Disziplin einen Fehler nachzuweisen, distanzieren sie sich mit lauter Argumenten für Skepsis von der bloßen Bemühung um Objektivität. Selbst den Naturwissenschaften sagen sie die wüstesten methodischen Kunstgriffe nach, die dem Philosophen dann immer nur eine Gewissheit offenbaren: Sie scheitern, weil sie Sicherheit im Wissen nicht garantieren. Gleichgültig gegen die tatsächlichen Leistungen der Naturwissenschaft, die immerhin ein paar Gesetze der Natur zu ihrem Wissen zählt, die immerhin wegen dieses Wissens ein wenig dazu beigetragen hat, dass Philosophen auch nicht mehr in Höhlen oder Fässern hausen müssen, verkündet eine ganze elitäre Denkergemeinde, dass die eigentliche Wahrheit und der Weg und das Leben bei ihr zu Hause wären. Höhnisch verhandeln sie über „empirische“ oder „exakte“ Wissenschaft, die schon deswegen mangelhaft sei, weil sie die Fragen der philosophischen Grundwertekommission einfach nicht zu ihrer Sache erklärt. Darüber ist sogar manchem Naturwissenschaftler seine philosophische Ader bewusst geworden, sodass es in der ansonsten durchaus rationalen Zunft lauter Überläufer zum Gewerbe des Sinnsuchens gibt.

Kaum Schwierigkeiten haben Philosophen heutzutage mit den Geistes- und Gesellschaftswissenschaften. Deren Forschen und Lehren ist schon ganz vom philosophischen Geist durchdrungen; einerseits, was die organisierte Skepsis anlangt, die im programmatischen Modell- und Hypothesenbilden kräftig zum Zug kommt; andererseits im dazugehörigen Pluralismusgebot, das den unentscheidbaren Wettstreit von „Theorien“ festschreibt, die um die beste Fassung des Sorgerechts für den Gegenstand konkurrieren. Moralisierende Funktionalisten der Sache, der ihre Vorliebe gilt, sind sie darüber alle geworden, sodass der Philosophie nunmehr die abstrakten Prinzipien des Könnens und Dürfens und Sollens den Stoff liefern. Sie deuten und legitimieren die Welt, indem sie verhandeln, wie sich Theorie und Praxis für den Menschen ziemen.

In dem auch von Philosophen stets bejammerten Prozess der Ausgliederung aller wirklichen Gegenstände aus der ursprünglichen Domäne der prima philosophia hat sie als Philosophie gewonnen, was sie als Wissenschaft verlor. Wird nun alle Welt von der Naturwissenschaft oder der Ökonomie, von Soziologie und Psychologie oder von mehreren zugleich untersucht, so hat die Philosophie in dieser Entwicklung immerhin erreicht, dass von ihr niemand mehr erwartet, sie würde Urteile über wirkliche Gegenstände fällen – das machen ja die anderen schon.

Ihre Spezialität hat sie so erst richtig ausbilden können: wissenschaftliche Untersuchung unwirklicher Gegenstände oder unwissenschaftliche Betrachtung der Wirklichkeit – was dasselbe ist. Sie hat sich vom Zwang zum Argument befreien können, dem sich der philosophische Geist zur Zeit Kants und Hegels noch verpflichtete. „Freiheit zum Objekt“ ist die Parole, unter der heute philosophiert wird, und endgültig frei gemacht hat man sich von der klassischen Forderung Hegels, Philosophie habe Wissenschaft zu sein, die schon damals falsch war. Wie weit es die Philosophie in der Ausbildung ihrer Eigenart gebracht hat, beweist die Militanz und das gediegene Selbstbewusstsein, mit dem sie unangemessene Erwartungen zurückweist:

Die Geschichte der Philosophie ist „eine permanenten Misslingens, wie sie dem Handfesten immer wieder, terrorisiert [!] von der Wissenschaft, nachgehängt hat. Ihre positivistische [Wissenschaft ist für Adorno Positivismus] Kritik verdient sie durch den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit, den die Wissenschaft verwirft; [die hätte man besser nie beansprucht, weshalb] jene Kritik irrt, indem sie die Philosophie mit einem Kriterium konfrontiert, das nicht ihres ist [!!] ... Philosophie ist weder Wissenschaft noch ... Gedankendichtung [stimmt, auch schön ist sie nicht!], sondern eine zu dem von ihr Verschiedenen ebenso vermittelte wie davon abgehobene Form.“ (Th. W. Adorno: Negative Dialektik. Frankfurt 1966, S. 113)

Wer sich derart von Adorno sagen lassen muss, dass die Philosophie weder das Weder noch das Noch ist, sondern vielmehr, weil sie keinen Inhalt kennt, eine Form; wer ferner sich dahingehend belehren lassen muss, dass diese für sich nicht besonders vielsagende Form deswegen Philosophie ist und nicht Back- oder Sonatenhauptsatzform, weil sie zu dem, was sie weder-noch ist, Beziehungen unterhält, der merkt etwas von dem Triumph, den die moderne Philosophie gegenüber dem Mann heraushängen lässt, der sie totsagte, bloß weil er sie kritisiert hatte. Marx ignorierte das Interesse, das im Kapitalismus an Anti-Wissenschaft bleibt. 2) Als ob aus Unwissenheit Philosophie statt Wissenschaft betrieben würde und nicht aus dem unverhohlenen Interesse, im „wissenschaftlichen Zeitalter“ dem Irrationalismus „rational“ seinen staatserhaltenden Platz zu sichern!

Rechte Philosophen haben nie daran gezweifelt, dass vor der „Verbreitung technischer Denkmodelle“ zu warnen ist, weil die Naturwissenschaft und damit die Beherrschung der Natur Vorbild für das soziale Leben werden und eine „letzte Verzichtsbereitschaft“ (Arnold Gehlen) der Massen untergraben könnte. Linke Kollegen erweisen Marx hämisch ihre Reverenz, indem sie das Resultat seiner Philosophiekritik zum Ausgangspunkt einer endlos ausgewalzten und stets beliebten rhetorischen Frage machen: „Wozu noch Philosophie?“ Natürlich ist das keine Frage, sondern die Kundgabe eines Interesses, das dem Berufsphilosophen die Pfründe sichert, weil es sonst von niemandem verfolgt wird:

„Nur Denken, das ohne Mentalreservat [dort kommen die geistigen Indianer hin], ohne Illusion des inneren Königtums seine Funktionslosigkeit und Ohnmacht [!!!] sich eingesteht, erhascht vielleicht einen Blick in eine Ordnung des Möglichen, Nichtseienden, wo die Menschen und Dinge an ihrem rechten Ort wären. Weil Philosophie zu nichts gut ist [!], ist sie noch nicht verjährt.“ (Th. W. Adorno: Eingriffe. Frankfurt 1963, S. 26)

Dass ein Blick in das, was es nicht gibt, nottut, auch wenn er völlig nichtsnutzig ist, versteht sich. Die Erforschung des „Nichtseienden“ freilich ist – nach den Worten des alten Briest – „ein weites Feld“.

Dabei hatte die Philosophie inzwischen doch ihre Vollendung gefunden. Nicht, wie noch Marx meinte, mit Hegel, sondern mit dem anderen Schwaben Martin Heidegger. Marx hielt Hegel für den Höhe- und Endpunkt der Spekulation, weil er diese bis an die Grenze zur Wissenschaft getrieben hat. Der wirkliche Vollender der Philosophie hat ihren wissenschaftsfeindlichen Charakter auf die Spitze getrieben. Seine intellektuelle Absage ans Denken bringt den Fehler der Philosophie pur zum Ausdruck – philosophisch ausgedrückt: Er bringt ihn praktisch auf den Begriff.

Drei Charakteristika dieser Art geistiger Betätigung weisen Heidegger als den nicht zu überbietenden Großmeister aus:

– Anders als seine Philosophiekollegen, die Moral-, Sozial-, Geschichts- usw. ‑philosophie betreiben und sich so immerhin noch eine Erinnerung an einen wirklichen Gegenstand erhalten, macht sich dieser Totalphilosoph nicht mehr die Mühe, seine Sinnsprüche als Urteile über einen Gegenstand aufzubereiten: Er spricht buchstäblich über nichts mehr, was es gibt, er ist Seinsphilosoph.

– Er praktiziert den wissenschaftsfeindlichen Charakter unmittelbar, indem er nicht einfach falsch denkt, sondern ganz die antiintellektuelle Attitüde der Philosophie lebt:

„Und die philosophische Arbeit verläuft nicht als abseitige Beschäftigung eines Sonderlings. Sie gehört mitten hinein in die Arbeit der Bauern.“ (M. Heidegger: Schöpferische Landschaft: Warum bleiben wir in der Provinz? 1933)

Die Bauern sind die lebendige Inkarnation der Weisheiten, die die Philosophie zu bieten hat; der Idiotie des Landlebens kann man diese Weisheiten ablauschen, man muss sich nur wie Heidegger

„zur Zeit der Arbeitspause [!] abends mit den Bauern auf der Ofenbank ... oder am Tisch im Herrgottswinkel“ treffen: „ ... dann reden wir meist gar nicht. Wir rauchen schweigend unsere Pfeifen.“ (Ebd.)

Getreu dieser antiintellektuellen Devise vollendet er auch den Gedankengang der Philosophie zum kompletten Blödsinn, dessen allgemein bekannt gewordenes Merkmal die zum Zwecke des Tiefsinns reihenweise neu erfundenen Tautologien sind:

„Die Welt ist nie, sondern weltet.“ (Wesen, S. 101)

– Schließlich geniert sich der Vollender philosophischen Denkens auch nicht, deutlich auszusprechen, dass die Feier des Sinns, des Todes und der abstrakten Freiheit im Gegensatz zum Bedürfnis die universitäre Form des faschistischen Gedankenguts ist. Er war sogar bereit, für diese Einsicht praktisch einzustehen, wurde 1933 Rektor in Freiburg und erfand prompt als Ergänzung des Wehr- und Arbeitsdienstes einen Wissensdienst an der Nation.

II. Erarbeitung des Gegenstands
oder ‚creatio ex nihilo‘

Freundlicherweise hat Heidegger sich zu sich selbst auch noch als Wissenschaftstheoretiker verhalten, er hat seine Gedanken kommentiert. Dieser Kommentar stellt fest, dass der erste Teil jeder philosophischen Überlegung das Absehen von der Eigenart des betrachteten Gegenstandes zu sein hat: „Reduktion“.

„Das Sein soll erfasst und zum Thema gemacht werden. Sein ist jeweils Sein von Seiendem und wird demnach zunächst nur im Ausgang [!] von einem Seienden zugänglich. Dabei muss sich der erfassende phänomenologische Blick zwar [!] auf Seiendes mit [!] richten, aber so, dass dabei das Sein dieses Seienden zur Abhebung und zur möglichen Thematisierung kommt. Das Erfassen des Seins geht zwar zunächst und notwendig je auf Seiendes zu, wird aber dann von dem Seienden in bestimmter Weise weg- und zurückgeführt auf dessen Sein.“ (Grundprobleme, S. 28)

Natürlich will auch die „Reduktion“, das Nicht-Analysieren des philosophisch zu betrachtenden Gegenstands hieb- und stichfest motiviert sein. Dies geschieht mit Angriffen auf die Wissenschaft, die sich dieser Reduktion nicht befleißigt.

 

Um sich neben der Wissenschaft eine Existenzberechtigung zu verschaffen, entdeckt die Philosophie einen Mangel an der Wissenschaft. Natürlich darf das kein Fehler sein – seine Beseitigung wäre Wissenschaft, nicht Philosophie. Der Philosoph entdeckt keine Verstöße gegen die Wissenschaft, sondern Mängel, die die Wissenschaft gar nicht hat.

Die Wissenschaftskritik der Philosophie besteht daher in der beleidigten Feststellung, dass Wissenschaft nicht Philosophie ist. Der vorwurfsvolle Vortrag der Differenz – weit entfernt davon, Kritik zu sein – ist nur die Vorstellung der Eigenarten der Philosophie.

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