Loe raamatut: «Stahnke und der Spökenkieker»
Peter Gerdes
Stahnke und der Spökenkieker
Kriminalgeschichten
Zum Autor
Peter Gerdes, geb. 1955, lebt in Leer (Ostfriesland). Studierte Germanistik und Anglistik, arbeitete als Journalist und Lehrer. Schreibt seit 1995 Krimis und betätigt sich als Herausgeber. Seit 1999 leitet er das Festival „Ostfriesische Krimitage“. Seine Krimis wurden bereits für den niedersächsischen Literaturpreis „Das neue Buch“ nominiert. Gerdes betreibt mit seiner Frau Heike das „Tatort Taraxacum“ (Krimi-Buchhandlung, Veranstaltungen, Café und Weinstube) in Leer. Neuere Veröffentlichungen: „Ostfriesische Verhältnisse“, „Langeooger Serientester“, „Friesisches Inferno“ und „Ostfriesen morden anders“.
www.petergerdes.com; www.tatort-taraxacum.de
Impressum
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Alle Rechte vorbehalten
1. Auflage 2020
(Originalausgabe erschienen 2003 im Leda-Verlag)
Umschlaggestaltung: Katrin Lahmer
unter Verwendung eines Fotos von: © Jenny Sturm/stock.adobe.com
und © algr53/stock.adobe.com
ISBN 978-3-8392-6840-7
VON FALL ZU FALL
Hauptkommissar Stahnke lebt, und das besser als je zuvor. Der Fünfzigjährige hat – nachdem ihm seine Frau davongelaufen ist – mit der Studentin Sina eine attraktive, 20 Jahre jüngere Gefährtin bekommen. Irgendwann ist er auch befördert worden, und mit Oberkommissar Kramer steht ihm ein zwar humorloser und maulfauler, aber effizienter Mitarbeiter zur Seite. Er »schätzte seinen Assistenten ebenso wie der ihn, aber die beiden Männer hatten es sich angewöhnt, daraus ein Geheimnis zu machen. Zuweilen sogar vor sich selbst.«
Stahnke lebt, und das deutlicher als je zuvor. »Ein anderes Blatt« und »Thors Hammer« (beide 1997) brachten frühe Ermittlungen, da waren andere Personen mindestens ebenso wichtig wie er. In »Ebbe und Blut« (1999) gewinnt er Kontur, in der ersten Fallsammlung »Das Mordsschiff« (2000) hat er bereits Vergangenheit und Zukunft, ist die runde Figur geworden, die ich liebe: ein Zweizentner-Mann mit stoppelblondem Kopf, dem seine »ungesteuerten Gedankenkaskaden« unbehaglich sind, weil er ein langsamer, von seinen Vorurteilen leicht verführbarer Denker ist.
»Der Etappenmörder« (2001) wurde zu Stahnkes bislang größtem und gefährlichstem Fall. Damals wandte sich Sina ab von ihrem früheren Freund, dem immer mal wieder auftauchenden Sportjournalisten Marian Godehau, und ihm zu. Spätestens seit damals aber habe ich für Stahnke zu fürchten begonnen. Es würde ihn doch nicht etwa ein ähnliches Schicksal erwarten wie Sherlock Holmes? Der sollte ja auf dem Höhepunkt des Erfolgs nach dem Willen seines Schöpfers in die Reichenbachfälle gestürzt werden. Was wird Peter Gerdes noch mit Stahnke vorhaben? Sina könnte sich von dem deutlich Älteren abwenden. Oder der stille Kramer macht endlich das, was er unverständlicherweise bis heute nicht gemacht hat und klettert die Karriereleiter an ihm vorbei. Stahnke könnte auch in den sturzbachartigen Fällen untergehen, die ein anthologisierter Kommissar nun einmal zu lösen bekommt, und sein Gesicht verlieren. Oder er muss ins zweite Glied zurück, weil der Autor eine andere Figur in sich entdeckt hat, die er nun fördert und zur Hauptfigur macht.
Einmal habe ich Peter geschrieben: »Geh vorsichtig um mit Stahnke, er ist mir lieb und wert. Wehe Du tust ihm was, so wie Agatha Christie ihrem Poirot.« Und habe ihm auch den Grund für meine Zuneigung gestanden: »Viel mehr als die großen Analytiker und geschwinden Puzzle-Füger mag ich nämlich die Umstandskrämer und Bauchdenker, die Melancholiker. Jene, die immer ein bisschen wirken wie aus der Welt gefallen – und die sie doch so genau kennen, weil manchmal eben der Blick von unten genau die richtige Optik ist. Also Pater Brown, Maigret, Brunetti, Wallander. Ja, und Stahnke eben. Also geh bloß vorsichtig mit ihm um!«
Unvorstellbar, dass Stahnke in der Gegend herumrennt und mit dem Revolver fuchtelt. »Einen Fall mental zu sezieren und zu strukturieren war fast ebenso befriedigend wie die Ergreifung eines Täters aus Fleisch und Blut. Und bestimmt ebenso kreativ.« Manchmal scheint ihn sogar die Tat mehr zu interessieren als der Täter. Auf die Spitze wird das im Fall »Schiefer als Pisa« getrieben, dessen lässige Tätervernachlässigung wohl einzigartig in der Kriminalliteratur sein dürfte.
Der große Stille aus dem Norden irrt sich mitunter, manchmal müssen ihn Freunde und Kollegen auf die richtige Lösung bringen; und immer wieder helfen ihm die merkwürdigsten Analogien weiter. Das alles gefällt mir. Es macht Stahnke unverwechselbar, liebenswert und höchst lebendig. Also hoffe ich, dass es ihm – von Fall zu Fall – weiterhin gut gehen wird. Und er keinen Reichenbach-Reinfall erlebt!
Klaus Seehafer
BLONDES GIFT
»Mein ist die Rache«, sprach der Herr im grauen Anzug. Hauptkommissar Stahnke schüttelte milde das massige, blondstoppelige Haupt und bemühte sich um eine pastorale Modulation seiner Stimme.
»Eben nicht, Herr Krüger«, antwortete er. »Selbstjustiz sieht unser Rechtssystem nun einmal nicht vor.«
»Aber genau das machen die doch mit mir.« Der hochgewachsene, hagere Mann mochte an die fünfundsechzig Jahre alt sein, was aber nur die Längsfurchen in seinem langen, aristokratischen Gesicht verrieten. Kerzengerade saß Wendelin Krüger, Mitglied der Handelskammer seit über dreißig Jahren, auf Stahnkes marodem Besucherstuhl, ohne die Rückenlehne in Anspruch zu nehmen. Ein Sinnbild der Unnachgiebigkeit.
»Sicher, Herr Krüger.« Auch Stahnke bemühte sich jetzt um Haltung, ein Vorhaben, das bei seiner Massigkeit wenig Aussicht auf Erfolg hatte. »So sieht es jedenfalls aus. Ehe wir aber etwas unternehmen können, brauchen wir Beweise. Etwas Handfestes eben. Bis jetzt haben wir ja bloß Vermutungen. Wenn auch recht plausible, wie ich zugeben muss.«
»Vermutungen.« Krüger schnaubte verächtlich durch die Nase, so überzeugend, wie Stahnke es bisher nur in alten Preußen-Filmen gesehen und gehört hatte. »Etwas Handfestes! Ha!«
Ingeborg balancierte das Kaffee-Tablett herein. Sie lächelte Krüger an, als sie die schlanke Blümchen-Tasse vor ihm abstellte. Stahnke bekam seinen HSV-Humpen, wie immer.
»Danke, Inge«, sagte er. Sein Lächeln fiel unsicher aus und blieb unerwidert.
»Bitte, Herr Stahnke.« Mit schnellen Schritten verließ die Frau den Raum, das leere Tablett unter den rechten Ellbogen geklemmt.
Wie konnte ich nur so dämlich sein, dachte Stahnke. Nicht zum ersten Mal. Eine Affäre mit der eigenen Sekretärin, das war ja wohl der klassische Blödsinn. Der beste Beweis für einsetzende Torschlusspanik. Stahnke war jetzt fünfzig und das Alleinsein nach all den Jahren mit Katharina nicht mehr gewohnt, auch wenn er sich seit geraumer Zeit zwangsläufig mehr und mehr Praxis darin aneignete. Daher hatte er Inges Avancen einfach nichts entgegenzusetzen gehabt.
Natürlich hatte er sich auch geschmeichelt gefühlt. Inge war acht Jahre jünger als er und ausgesprochen attraktiv. Schlank und sportlich, irgendwie handfest erotisch. Richtig, diese Hände. Klein und fest, zart und frech. Als Inge sich zum ersten Mal bei ihm eingehakt hatte, nach einem dieser endlosen Verhör-Abende, die sie zusammen mit ihm klaglos ertrug wie ein echter Kumpel, da hatte er gezittert wie ein Drahtseil unter Spannung. Sie hatte es gespürt. Und fester zugefasst.
Aber Stahnke war nicht der Typ, der unterschiedliche Erwartungen lange ignorieren konnte. Er war einfach zu ehrlich. Natürlich hatte es eine Weile gedauert, bis er es selbst begriff. Zuerst hatte er sich in Inges offene Arme geworfen wie in einen Zeit-Strudel, der ihn zurück führte in die Lebensphase des Suchens, des Ausprobierens, des Spielens. In eine längst vergangene Lebensphase. In diesen Strudel aber war er alleine getaucht. Inge lebte und liebte hier und jetzt. Ihre Suche war niemals ziellos, und wenn sie spielte, dann nach festen Regeln. Sie wollte keine Affäre, sie wollte eine Beziehung. Etwas Handfestes eben.
Als Stahnke das klar geworden war, da hatte er es ihr gesagt. Etwas ungelenk vielleicht – »du, lass das mal, wir müssen reden« –, aber unmissverständlich. Dass Katharina sich zwar von ihm getrennt, er sich aber noch immer nicht von ihr gelöst habe. Dass er deshalb zu einer neuen Bindung einfach nicht in der Lage sei. Das hatte er ihr gesagt, ganz offen; ein bisschen bewunderte er sich sogar dafür.
Na ja, vielleicht hatte er die Karten nicht sofort auf den Tisch gelegt, aber doch ziemlich bald, kaum dass der erste Rausch verflogen war. Er wollte genießen, aber sie sollte sich nicht ausgenutzt fühlen.
Natürlich tat sie genau das.
Krüger stellte seine Tasse lautlos auf die Untertasse zurück. Seinem Gesichtsausdruck war nicht zu entnehmen, ob ihm Inges Kaffee mundete. Auch Stahnke trank. Der Kaffee war stark, fast bitter, mit viel Milch und Zucker darin. Typisch Inge: Wenn schon, denn schon. Nicht schlecht, auf Dauer aber würde ihm das auf den Magen schlagen.
»Wann glauben Sie denn etwas Handfestes vorweisen zu können?«, fragte Krüger. »Wenn man mir das nächste Lager zertrümmert hat?«
Zynisch konnte er also auch sein, der Herr Import-Export-Kaufmann. Was aber kein Wunder war, schließlich hatte man ihm übel mitgespielt. Erst diese Rufmordkampagne – »Garantiert in die Gruft mit Wendelins Walnüssen« – und dann die Verwüstung seines Speichers. Dutzende von Nuss- und Kaffeesäcken hatten sie aufgeschlitzt und dann mit dem Feuerlöscher draufgehalten. »Als nächstes bin ich selber dran«, fürchtete Wendelin Krüger. Deshalb hatten ihn die Kollegen auch zu Stahnke ins Dezernat Gewaltverbrechen geschickt.
»Mal anders herum gefragt.« Stahnke beugte sich vor und stützte die Ellbogen auf die Schreibtischplatte, die Unterarme vorgestreckt, die Handflächen offen, als wollte er nach dem langen grauen Herrn greifen. »Kann es denn sein, dass vielleicht etwas dran ist an den Vorwürfen, die gegen Sie erhoben wurden? Schließlich handeln Sie ja mit ›notleidenden Partien‹. Und wenn Sie wirklich schimmelige Nüsse verkauft haben sollten, wäre das ja keine Kleinigkeit. Die sind ziemlich gesundheitsschädlich, habe ich mir sagen lassen. Tja, und dann wäre es immerhin denkbar, dass nicht böse Konkurrenten Ihr Lager verwüstet haben, sondern wütende Verbraucher.«
Stahnke kam richtig in Fahrt, wie so oft, wenn sich aus ein paar Spekulationen plötzlich ein hübsches, stimmiges Bild zu formen begann. »Nüsse, das ist doch etwas für Naturköstler, oder? Nüsse im Müsli, klar. Oder im Kuchen. Na, und wenn solche Leute merken, dass man ihnen ausgerechnet in ihr Gesundheits-Essen Gift reingemischt hat, dann kann es doch sein, dass die losgehen wie die Tierschützer. Oder?«
Stahnke klatschte die Handflächen auf den Tisch. Einen Fall mental zu sezieren und zu strukturieren war fast ebenso befriedigend wie die Ergreifung eines Täters aus Fleisch und Blut. Und bestimmt ebenso kreativ.
Wendelin Krüger schnaubte wieder, diesmal lauter als zuvor. Mit einem Ruck erhob er sich, so dass der Besucherstuhl ein paar Zentimeter über das graue Linoleum nach hinten rutschte, was nach Krügers Kategorien vermutlich einem Wutausbruch gleichkam. »Mein Herr«, sagte er dennoch beherrscht, »ich habe nicht den Eindruck, dass Sie sich meinem Anliegen in gebührender Weise widmen, und bin nicht länger bereit, meine knapp bemessene Zeit auf Ihre abstrusen Theorien zu verwenden. Guten Tag.«
Starker Abgang, dachte Stahnke, als der lange, gerade, graue Rücken durch die Tür verschwand. Er nahm sich vor, weitere Erkundigungen über die Geschäfte des Herrn Wendelin Krüger einzuholen. Gleichzeitig sollten die Kollegen von der Streife Krügers diverse Lager in der Speicherstadt verstärkt im Auge behalten. Wissen konnte man ja nie.
Inge schaute herein. Ein giftiger Blick. »Noch einen Kaffee, Herr Stahnke?«
Es war so bitter, viel bitterer noch als ihr starker Kaffee, und durch keinerlei Milch oder Zucker gemildert. Mit dem Lass-uns-doch-Freunde-bleiben-Mythos hatte Inge in den letzten zwei Wochen gnadenlos aufgeräumt. Wenn schon, denn schon – ganz oder gar nicht. Liebe war nicht, also war Feindschaft. Und jeder, der die Entwicklung vom kollegialen »Sie« zum erst kumpelhaften, dann begehrlichen »Du« verfolgt hatte, wusste jetzt natürlich Bescheid.
Stahnke suchte Inges Blick, hielt ihm aber nicht stand. »Ja bitte«, sagte er und schichtete ein paar Aktendeckel um, hinter denen er sich am liebsten ganz versteckt hätte. Es war ja so bitter.
Da war die Akte Krüger. »Vandalismus St-Annen-Straße«, das war in unmittelbarer Nähe des Speicherstadtmuseums. Irgendwie passend, machte doch dieser ganze Herr Wendelin einen irgendwie musealen Eindruck. Vielleicht konnte man ihn ja ausstopfen und ins Museum neben eine der alten Sortiermaschinen stellen.
Inge platzte mit dem Kaffee mitten in sein Lachen hinein. Ihr blasses Gesicht unter dem dunkelblonden Pilzkopf blieb unverändert streng. »Ist sonst noch etwas, Herr Stahnke?«
»Nein.« Der Hauptkommissar schluckte trocken. »Danke. Du kannst Feierabend machen, Inge.«
Sie drehte sich um, mit schwingendem Rock, zeigte ihm das Muskelspiel ihrer schlanken Waden. Wie hatten sie es genossen, alle beide, wenn er zärtlich in diese Waden hineinbiss, sich dann langsam nach oben …
Sie ging grußlos.
»Kramer«, sagte Stahnke, ohne die Stimme zu heben.
Sein Assistent erschien in der Tür, verlässlich wie immer, und schwieg auffordernd.
»Sie waren doch auch neulich im Speicherstadtmuseum.«
Keine Antwort. Wer von Kramer eine Antwort wollte, musste schon eine richtige Frage stellen. Aber eine ausbleibende Verneinung reichte ja auch.
»Hat man Ihnen da auch von diesen Giften erzählt, die entstehen, wenn bestimmte Lebensmittel falsch gelagert werden? Wie heißen die noch?«
»Aflatoxine«, sagte Kramer wie aus der Pistole geschossen. »Ein Mischwort. Aspergillus für Pilz, flavus für gelb oder auch blond. Und Toxine für Gift, klar.«
»Blonde Pilze?« Stahnkes zweifelnder Blick glitt an Kramers Miene ab. »Blondes Gift? Gefährlich?«
»Kann tödlich sein«, sagte Kramer. »Die Dosierung müsste ich aber nachschlagen.«
»Und die befallen Nüsse?«
»Erdnüsse, Paranüsse, Pistazien, Haselnüsse, also tropische und auch heimische Arten. Und natürlich Kaffee.«
»Kaffee.« Stahnke hob seinen Becher an den Mund und trank. »Gerösteten?«
»Nein, Rohkaffee. Wenn er feucht wird, nicht richtig gelüftet. Aber die Rückstände bleiben nach dem Rösten drin. Das ist ja gerade das Gemeine.« Kramer schob eine Hand in die Tasche und lehnte sich lässig an den Türpfosten. Ein ungewohnter Anblick.
»Man kann es allerdings riechen, wenn Kaffee befallen ist. Riecht modrig und ein bisschen nach Gras. Solche Partien müssen dann sorgfältig neu sortiert werden.«
»Ah ja«, sagte Stahnke, »die so genannten notleidenden Partien.«
»Exakt«, sagte Kramer.
Er wartete einen Moment; als sein Vorgesetzter aber keine Anstalten machte, das ohnehin schon ungewöhnlich ausgedehnte Gespräch fortzusetzen, wandte er sich ab.
Stahnke rief ihn jedoch noch einmal zurück. »Sagen Sie, wie wirken die denn eigentlich, diese Aflatoxine?«
Kramer zuckte die Achseln. »Weiß nicht genau. Scheint aber mehr was Langfristiges zu sein. So über die inneren Organe, vor allem die Leber. Langsam, aber sicher.«
»Danke«, sagte Stahnke. Kramer verschwand.
Der Hauptkommissar hob seinen Kaffeebecher zur Nase und schnupperte. Milch und Zucker milderten die bittere Strenge des Getränks. Stahnke runzelte die Stirn. »Mein ist die Rache«, murmelte er vor sich hin.
Dann schüttelte er den Kopf: »Ach was, Unfug.« Entschlossen nahm er einen kräftigen Schluck und stellte den Becher zurück auf den Schreibtisch.
Oder schmeckte der Kaffee etwa doch etwas muffig?
»Quatsch«, sagte Stahnke. »Nie im Leben.«
DIE KREUZIGUNG DES
DR. WOHLMANN
»Typisch«, grunzte Stahnke und ließ die blickdichte Gardine zurück vors Fenster fallen, »einen dicken Jaguar vorm Haus stehen haben, aber lauthals jammern, dass die Kohle nicht mehr reicht. Ärzte. Bäh.«
Wie um seine Schmähung zu unterstreichen, tupfte sich der Hauptkommissar einen Tropfen Heilpflanzenöl unter die Nase. Das allerdings hatte ganz praktische Gründe, denn in der Praxis von Dr. Wohlmann stank es mörderisch. Buchstäblich. Und was da so stank, war der Doktor selbst.
»Und?«, fragte Stahnke, als Polizeiarzt Dr. Mergner aus dem Behandlungsraum ins Wartezimmer trat, wo der Hauptkommissar schon seit geraumer Zeit genau das tat, wozu das Zimmer gedacht war. Er tat es ungern, aber professionell. Seine Hände steckten nicht etwa deshalb in den Taschen seines Trenchcoats, um seine leitende Position zu unterstreichen. Jedenfalls nicht nur. Stahnke wusste, dass die größte Bedrohung für Spuren an Tatorten tollpatschige Polizisten waren. Also hielt er sich zurück und die Hände bei sich. Spuren und sonstige Fakten waren für die Kriminaltechniker da, für die Fotografen und die Ärzte. Sein Job war die Kopfarbeit, das, was er »die mentale Bewältigung eines Falles« nannte. Oft schon hatte er durch pure Gedankenarbeit Struktur ins postmortale Chaos gebracht. Nun ja, auch das Umgekehrte war ihm bereits widerfahren. Aber das stand auf einem anderen Blatt.
Mergner blickte so verwirrt drein wie immer. Seine ewig schief auf dem Nasenrücken hängende Nickelbrille mit den flaschenbodendicken Gläsern, auf denen sich ebenso viele Fingerspuren nachweisen ließen wie an manchem Tatort, sein wirrer Haarschopf und seine fahrigen Bewegungen stempelten ihn zur Karikatur seines Berufsstandes. Aber Stahnke, der die Außenwirkung seiner eigenen gut zwei Zentner und seines blondstoppeligen Rundschädels gut einzuschätzen wusste, ließ sich von Äußerlichkeiten längst nicht mehr täuschen. Mergner verstand sein Handwerk, auch wenn er dies zuweilen nach Kräften verbarg.
Der dürre Gerichtsmediziner warf seine langen Arme empor, so plötzlich und ruckartig, dass Stahnke unwillkürlich einen Schritt zurücktrat. »Sie können sich’s aussuchen«, krähte Mergner. »Lungenperforation durch die abgesplitterten Enden mehrerer gebrochener Rippen. Innere Blutungen. Milzriss. Kreislaufzusammenbruch. Außerdem ist der Körper weitgehend dehydriert. Schon mal ’ne ganze Palette, nicht wahr? Und wer weiß, was ich sonst noch finde, wenn ich ihn erst auf dem Tisch habe.«
Mergner pflegte seine Leichen in Oldenburg zu öffnen, mit einer schier unglaublichen Präzision, von der sich Stahnke schon des öfteren hatte überzeugen können, ebenso widerwillig wie anerkennend. Reiner Zufall, dass Mergner gerade in Leer zu tun gehabt hatte, als der Leichenfund im Ärztehaus am Ostersteg gemeldet wurde.
»Danke«, sagte Stahnke. »Und was denken Sie?«
Wieder hob Mergner Arme und Hände, eine Geste, die alles zwischen Ratlosigkeit und Verzweiflung ausdrücken konnte. »Äußerste Brutalität«, stieß er hervor, »hab ich selten gesehen, so was. Ein Irrer, wenn Sie mich fragen. Vielleicht religiös motiviert. Sie wissen schon, Ostern und so.« Mergner raufte sich die Haare, befingerte seine Brille und vergewisserte sich, dass sein ausgeblichener Schlips auch wirklich schief hing. »Aber erwarten Sie bitte nicht, dass …«
»… auch nur ein Wort davon in Ihrem Bericht steht«, unterbrach Stahnke und nickte besänftigend. »Sie sind Mediziner, kein Kriminalist, und den Mörder muss ich schon selber finden. Ich weiß.«
»Genau.« Mergner blickte sich nach seiner Tasche um. »Und darum möchte ich auch verschärft gebeten haben, dass Sie ihn nämlich finden, den Mörder, allein schon aus standesmäßiger Betroffenheit heraus.« Er hielt inne, wie eingefroren mitten in der Bewegung: »Oder standesgemäßer? Wie sagt man?«
»Standesmäßige Betroffenheit ist schon standesgemäß, denke ich«, erwiderte Stahnke. Als Mergner die Stirn runzelte, schob er schnell nach: »Und was können Sie zum Todeszeitpunkt sagen?«
»Der Verwesungsprozess ist schon recht weit fortgeschritten, beschleunigt durch die Hitze«, sagte Mergner, der gedanklich sofort umgeschaltet hatte. »Das erfordert einiges an Rechnerei. Aber ich sage mal: Karfreitag.«
Wieder nickte Stahnke. Mergners Da-war-doch-noch-was-Blick ließ er an seinem Pokerface, das er in langen Dienstjahren ganz nach Bedarf ein- und auszuknipsen gelernt hatte, abgleiten. Er bedankte sich herzlich und schüttelte den Polizeiarzt mit einem kräftigen Händedruck aus seiner Grübelei. Mergner zuckte die Achseln und ging.
Widerstrebend wandte sich Stahnke wieder dem Behandlungszimmer zu. Kramer kam ihm entgegen, kreidebleich. »Die Bestatter sind da«, sagte der Oberkommissar mit einer Stimme, deren gepressten Klang Stahnke unwillkürlich in der Rubrik »grünlich« einordnete. »Können wir ihn jetzt losmachen?«
»Gleich«, sagte Stahnke und schob sich an seinem Assistenten vorbei, ohne die Hände aus den Manteltaschen zu nehmen.
Karfreitag. Doch, da könnte etwas dran sein, überlegte Stahnke, während er Wohlmanns Leiche ein weiteres Mal betrachtete. Der leblose Körper des Kinderarztes saß auf dem grünen Linoleum, das verzerrte Gesicht eingesunken, der Leib aufgedunsen, mit dem Rücken an einen breiten Heizkörper gelehnt, die weit ausgebreiteten Arme mit Handschellen an die Heizungsrohre gefesselt. Tatsächlich gemahnte das Bild an eine Kreuzigung. Das Heizungsventil war bis zum Anschlag aufgedreht gewesen, und da es über die Osterfeiertage noch einmal recht kühl geworden war, hatte der Gasbrenner ganz hübsch gepowert. Den Kollegen von der Funkstreife, die als Erste alarmiert worden waren, war eine fürchterliche Hitze entgegengeschlagen. Und ein entsetzlicher Gestank.
Wohlmann war misshandelt worden, ob vor oder nach seiner Kreuzigung, musste noch ermittelt werden. Vermutlich war beides der Fall. Der oder die Täter hatten den Arzt geschlagen und getreten, hatten ihm mehrere Rippen gebrochen, Blutergüsse zugefügt und innere Organe verletzt. Dann hatten sie ihn seinem Schicksal überlassen, angekettet und mit fest verklebtem Mund.
Einige Zeit hatte er sicherlich noch gelebt, rasend vor Schmerzen, Angst und Durst. Seine Handgelenke waren blutig gescheuert, seine Kleidung von Kot und Urin verschmutzt. Wie lange mochte es gedauert haben, bis der Tod ihn erlöste? Karfreitag, Samstag, Ostersonntag, Ostermontag – die Praxis war über die Feiertage natürlich geschlossen, ebenso wie alle anderen im Haus, keiner der Kollegen hatte Notdienst gehabt. Das große Gebäude war praktisch menschenleer gewesen. Keine Chance auf Rettung, keine Hoffnung, nur brennende Hitze und Qualen bis zum Schluss.
»Ist gut«, sagte Stahnke. »Sie können ihn losmachen.« Die Kollegen machten sich ans Werk, die Bestatter öffneten den Leichenkoffer.
Kramer saß im Wartezimmer und blätterte in einer Zeitschrift mit braunem Pappeinband. Lesezirkel, alter Kram, wie in den meisten Praxen. Stahnke setzte sich neben seinen Kollegen. Eine Tageszeitung vom vergangenen Donnerstag lag aufgefächert auf dem niedrigen Tisch, Sportteil obenauf.
»Haben Sie die mitgebracht?«, fragte Stahnke.
Kramer schüttelte den Kopf: »Lag schon hier, als ich kam. Wieso? Soll ich sie ins Labor geben?«
Stahnke antwortete nicht. Vorsichtig blätterte er um, jede Seite nur mit den Fingerspitzen berührend. Regionalsport, Bundesliga, Lokalsport, darunter ein Block mit Bumsanzeigen. Es folgten zwei weitere Seiten mit Inseraten und ganz hinten die Familienanzeigen. Geboren, geheiratet, gestorben. Tja. Eigentlich konnte man Lebensläufe recht knapp zusammenfassen.
»Was waren das eigentlich für Handschellen?«, fragte er.
»Ziemlich professionelle Dinger«, sagte Kramer. »Kein Kinderspielzeug mit Sicherheitsknöpfchen. Leider. Diese haben Polizei-Qualität. Es sind aber ziemlich viele von den Dingern in Umlauf.«
»Ach. Und wo wird so was verkauft?«
Ein feines Grinsen spielte um Kramers schmale Lippen: »In Sexshops natürlich.«
»Natürlich«, bestätigte Stahnke eilig. »Na, dann wollen wir die mal überprüfen.«
»Schon veranlasst«, sagte Kramer.
Hin und wieder könnte ich ihn eigentlich loben, dachte Stahnke. Stattdessen aber fragte er: »Deutet denn irgendetwas auf Sexspielchen hin? Ich meine, es sollen sich ja schon Leute selbst erdrosselt haben beim Versuch, sich den Extra-Kick zu geben.«
Kramer brachte es fertig, gleichzeitig zu nicken und den Kopf zu schütteln, ohne dabei debil auszusehen. »Schon, aber das können wir ausschließen. Das hier übersteigt alle mir bekannten Sado-Maso-Praktiken. Ich meine natürlich, alle, von denen ich bisher gehört habe.«
»Natürlich«, bestätigte Stahnke. Das Grinsen verkniff er sich. »Also dann, was haben wir?«
»Dr. med. Hanno Wohlmann, 43 Jahre, verheiratet, keine Kinder. Niedergelassener Kinderarzt, alteingesessene Praxis vom Schwiegervater übernommen, Ehefrau arbeitet als Sprechstundenhilfe mit. Gut situiert, aber nicht übermäßig begütert.«
»Na, für einen Jaguar reicht es immerhin«, unterbrach Stahnke.
Kramer hob fragend die Augenbrauen: »Wieso Jaguar? Die Wohlmanns haben einen Passat, dunkelblau. Kein schlechter Wagen, aber kein Jaguar.«
Stahnke wies mit dem Daumen über seine Schulter; Kramer erhob sich halb und linste durch die Gardine. »Ach der«, sagte er. »Ist mir auch aufgefallen. Der gehört aber nicht Wohlmann, sondern einem seiner Nachbarn. Banker oder so.«
Stahnke nickte stumm. Dass ihm das immer wieder passieren musste! Ständig tappte er in die Falle seiner eigenen Vorurteile. Was ins Bild passte, wurde geglaubt. Glauben aber hieß nicht wissen. »Und nicht wissen heißt sechs«, pflegte sein alter Mathelehrer stets zu ergänzen. Man musste eben genauer hinsehen. Stahnke, setzen. Nur gut, dass er bereits saß.
Das Wartezimmer besaß zwei Türen; die eine führte zum Behandlungszimmer, die andere zum Flur mit der Rezeption, den weiteren Ordinations- und Therapiezimmern und dem Durchgang zu den Privaträumen. Vom Flur her war ein zaghaftes Klopfen zu hören.
»Bitte«, sagte Kramer.
Die Tür wurde einen Spalt breit geöffnet, und ein kleiner, vierschrötiger Mann schob seinen Kopf hindurch. »Brauchen Sie noch etwas?«, fragte er.
»Danke«, sagte Kramer. »Aber kommen Sie doch einen Augenblick herein, Herr Przybilski.«
Ein Bauerngesicht, dachte Stahnke. Rund, pausbäckig, stark geädert, flankiert von zwei leuchtend roten Segelohren. Drei zu eins, dass das der Hausmeister ist.
»Herr Przybilski ist hier der Hausmeister«, erläuterte Kramer.
Stahnke erhob sich, schüttelte dem Mann die Hand und lächelte ihm so leutselig zu, dass der gar nicht anders konnte als zurückzulächeln, obwohl ihm offenkundig gar nicht danach zu Mute war.
»Sie haben uns also angerufen«, stellte Stahnke fest; von irgendwem hatte er das aufgeschnappt. »Haben Sie auch die Leiche gefunden?«
Przybilski nickte. »Ja. Das Fräulein Weiß, die junge MTA, also die neue Sprechstundenhilfe, hat bei mir geklingelt. Weil sie nicht reinkam in die Praxis, nicht wahr, und weil es so roch. Ich habe dann aufgemacht, und zusammen sind wir rein.«
»Fräulein Weiß?« Stahnke blickte Kramer an.
»Schock«, sagte Kramer knapp. »In Behandlung. Noch nicht vernehmungsfähig. Wir werden benachrichtigt.«
»Und warum konnte die Dame nicht hinein? Hatte sie keinen Schlüssel? Immerhin arbeitet sie doch hier.«
»Doktor Wohlmann hat seinen Angestellten nie Schlüssel gegeben«, sagte der Hausmeister. »Nur er und seine Frau hatten welche. Einer von beiden kam immer als Erster, der andere ging als Letzter.«
»Und wer wäre heute dran gewesen mit früh da sein? Wohlmann oder seine Frau?«
»Der Herr Doktor«, sagte Przybilski. »Er wollte über die Feiertage noch Unterlagen für die Krankenkassen aufarbeiten, hat er mir letzte Woche erzählt. Seine Frau ist verreist. Besucht ihre Eltern in Bremen über die Feiertage. Soll erst übermorgen zurück sein.«
»Sie ist schon benachrichtigt«, kam Kramer Stahnkes Frage zuvor. »Die Bremer Kollegen haben das übernommen.«
Stahnke rieb sich das Kinn; seine Bartstoppeln raschelten leise. Er fixierte Kramer und fragte mit gedämpfter Stimme: »Haben Sie dieses Fräulein Weiß gesehen?«
Kramer nickte.
»Und?«
Kramer zuckte die Achseln. »Jung. Hübsch. Niedlich.« Er lehnte sich zurück. »Meinen Sie das?«
»Klar«, sagte Stahnke. »Und sie war neu hier in der Praxis, nicht wahr?« Ein verlockender Gedanke: Geldsack trifft Jungbrunnen, betrogene Gattin wird zur Bestie. Klischee, sicher. Aber warum war das Klischee? Weil es immer wieder vorkam.
Vorsichtig, Stahnke, dachte Stahnke. Denk an den Jaguar.
»Wer tut so was? Wer tut bloß so was?« Przybilskis Stimme klang halb erstickt.
Überrascht blickte Stahnke auf. Der Hausmeister stand gekrümmt da, das Gesicht in seinen Handflächen verborgen. »Er war doch so ein feiner Mensch, der Herr Doktor. Hat immer nur allen geholfen. Sich um jeden gekümmert, um die Kinder, hat sie gesund gemacht. Ein Wohltäter. Wer tötet denn so jemanden? Wer bringt so einen um? Und dann auch noch so.«
Stahnke legte ihm beide Hände auf die Schultern; dieses Maß an Vertraulichkeit mochte gerade noch angehen. »Genau das ist die Frage, Herr Przybilski«, sagte er. »Und genau deswegen sind wir ja hier. Um das rauszukriegen. Vertrauen Sie uns, wir werden den Mörder schon finden.« Fast hätte Stahnke über seine eigenen Worte den Kopf geschüttelt. Seit wann machte er denn so große Sprüche? Und so sentimentale obendrein?
Der Hausmeister rieb sich die Augen, bedankte sich und ging.