Loe raamatut: «Agrarische Religiosität»
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Einleitung: Quellen und Methode, räumliche und zeitliche Eingrenzung
1 Allgemeine Strukturelemente in Appenzell und Obwalden
1.1 Geografische Situation
1.2 Siedlung, Bevölkerung, Verkehr
1.3 Wirtschaft
1.4 Politik
1.5 Soziale Schichtung
1.6 Kirchliche Organisation und schulische Verhältnisse
1.7 Allgemeine Bemerkungen zu den übrigen miteinbezogenen Gebieten
Anmerkungen
2 Sozialstruktur und Arbeitsorganisation der landwirtschaftlichen Bevölkerung
2.1 Zur Typologie der voralpinen Landwirtschaft
2.2 Die Familie als Grundlage des landwirtschaftlichen Betriebs
2.3 Soziale Verhältnisse und Ungleichheit innerhalb der Bauernschaft
2.4 Soziale Beziehungen, Konkurrenz und Solidarität
2.5 Die Einteilung des bäuerlichen Arbeitstages
2.6 Saisonalität, Arbeitsspitzen und -flauten
2.7 Nebenerwerb der Männer und Heimarbeit der Frauen
Anmerkungen
3 Traditionelle bäuerliche Mentalität und Vorboten des Wandels
3.1 Hochwertung des Bauernstands und Ablehnung des Industrialismus
3.2 Arbeitsethik zwischen Freiheit und sozialer Kontrolle
3.3 Vom ästhetischen zum Renditedenken
3.4 Zeitbewusstsein und Zeitdisziplin
3.5 Das Verhältnis zum Geld und zum Risiko
3.6 Die Vehikel der Modernisierung: Landwirtschaftliche Schulen und Maschinen
Anmerkungen
4 Repräsentantin der Religion: Die Geistlichkeit
4.1 Herkunft, rechtliche Stellung und sozialer Status des Klerus
4.2 Die Begegnung von Geistlichen und Volk
4.3 Kritik und Konflikte
4.4 Das demokratische Staatskirchentum und die Problemfälle im Klerus
4.5 Das geistliche Hilfspersonal: Pfarrhaushälterin und Mesner
4.6 Der Beitrag der Orden
4.7 Die spezielle Seelsorge der Kapuziner und die «Kapuzinermittel»
Anmerkungen
5 Individuelle Religiosität
5.1 Die täglichen Gebete und religiösen Handlungen
5.2 Frömmigkeit unterwegs
5.3 Zeichen und Namen
5.4 Die Wallfahrt: Motive, Ziele und Ausführende
5.5 Die Durchführung der Wallfahrt
5.6 Geschlechterspezifische Unterschiede der Frömmigkeit
5.7 Die andere Seite: Aberglaube und Magie
Anmerkungen
6 Soziale Religiosität
6.1 Die Organisationen: Von den Bruderschaften zu den Vereinen
6.2 Prozessionen
6.3 Andachten
6.4 Der gemeinsame Rosenkranz
6.5 Heiligenverehrung und Bauernheilige
6.6 Religiöse Handlungen rund um die bäuerliche Tätigkeit
6.7 Die Kirche und die weltlichen Feste
Anmerkungen
7 Der Sonntag
7.1 Die Gottesdienste: Angebot und Nachfrage
7.2 Innere Teilnahme und unandächtiges Verhalten
7.3 Nach der Messe
7.4 Das Problem der Christenlehre
7.5 Sonntagsheiligung und Sonntagsarbeit
7.6 Der profane Sonntag
Anmerkungen
8 Sakralprunk und -verschwendung
8.1 Sakrallandschaft und Kirchenausstattung
8.2 Die Wertung des künstlerischen und liturgischen Sakralprunks
8.3 Die kirchlichen Feste und ihre Feiern
8.4 Die Gestaltung der Übergangsriten und die Bedeutung der Tracht
8.5 Der Totenkult
8.6 Der Ablass
8.7 Die Seelenmessen
Anmerkungen
9 Die Moral: Theorie und Praxis
9.1 Alltägliche und besondere Gelegenheiten zur Vermittlung der Morallehre
9.2 Die Rolle der Schule und der Lehrer
9.3 Die Praxis der Beichte
9.4 Widerständigkeit und Verletzung der Normen
9.5 Das Tanzen als Beispiel der Normendevianz
9.6 Tabuisiert und dennoch diskutiert: Die Sexualität
Anmerkungen
10 Schluss
10.1 Katholiken und Protestanten: Gemeinsamkeiten und Differenzen
10.2 Gleich und verschieden: Appenzell und Obwalden
10.3 Klerikale Zumutungen und laikaler Eigenwille
10.4 Barocke Ströme unter dem Schutt des 19. Jahrhunderts
10.5 Anpassung und Widerstand: Elemente des konziliaren Wandels
10.6 Zwei traditionale Welten im Untergang
Anmerkungen
Anhang
Verzeichnis der Archive und der handschriftlichen Quellen
Gedruckte Quellen und Literatur
Verzeichnis der Abkürzungen
Vorwort
In meinem Buch «Musse und Verschwendung. Europäische Gesellschaft und Kultur im Barockzeitalter» (Herder, Freiburg 2006) habe ich, entgegen den gängigen Modernisierungstheorien, versucht, eine dem frühneuzeitlichen Katholizismus eigene und andersgeartete Mentalität («Positive Rückständigkeit») herauszuarbeiten, welche diese Gesellschaft bis in die letzten Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts entscheidend prägte und in einem diametralen Gegensatz zur «Protestantischen Ethik» (Max Weber) stand. Trotz der fundamentalen Kritik der Aufklärung daran und den in mehreren Staaten versuchten Massnahmen, auch den Katholiken auf allen Ebenen zu einem «modernen» Menschen umzuschaffen, lebten diese Einstellungen gleichwohl in etwas veränderter Form im 19. Jahrhundert wieder auf und hielten sich trotz allen gegenteiligen Bestrebungen, etwa durch den Liberalismus, in grossen Teilen bis zur erneuten umfassenden Modernisierungswelle nach dem Zweiten Weltkrieg, beziehungsweise kirchlicherseits bis zum Zweiten Vatikanum – jenseits bloss politischer Ereignisse ist die Zeit zwischen etwa 1955 und 1960 deshalb eine Epochenschwelle.
Im vorliegenden Werk versuche ich, im Sinn einer derzeit gerade noch möglichen Spurensicherung, in einem beschränkten räumlichen Rahmen und mit der Methode der «oral history», die letzten Reste dieser nun fast vollumfänglich verschwundenen Einstellungen und ihre Auswirkungen im Alltagsleben ausfindig und dingfest zu machen. Der auch im 20. Jahrhundert erhebliche Mangel an schriftlichen Quellen zu diesen Fragen lässt es als dringend erscheinen, diese «spätestbarocke» Mentalität zu dokumentieren, bevor ihre letzten Träger verschwunden sind: Meine Interviewpartner und -partnerinnen waren Personen, welche die unmittelbare Nachkriegszeit als junge Erwachsene noch bewusst miterlebt haben, heute aber in einem Alter von über 75 Jahren stehen (mehrere sind inzwischen verstorben). Es ging also um eine Bestandesaufnahme in letzter Stunde, denn in ein bis höchstens zwei Jahrzehnten wird diese «world we have lost» (Peter Laslett) nicht mehr oder nur noch fragmentarisch zu rekonstruieren sein. Schon jetzt stiess ich bei einigen Fragen auf Erinnerungslücken.
Bei der Arbeit an dem eingangs erwähnten Buch beschäftigten mich mehrere mentalitätsgeschichtliche Fragen, die sich aufgrund der problematischen Quellenlage nicht mit Sicherheit beantworten liessen. Es waren jedoch Sachverhalte, bei denen man eine gewisse Kontinuität bis ins 19. und 20. Jahrhundert hinein erwarten konnte. Deswegen habe ich schon dort gelegentlich volkskundliche Studien zum 20. Jahrhundert benutzt, als Anregung, auf mögliche Kontinuitäten zu achten, sowie neue Fragen an die Quellen zu stellen und sie im Lichte späterer Entwicklungen stimmiger zu interpretieren. In der vorliegenden Untersuchung richtete ich an meine Interviewpartner neben eher allgemeinen auch bestimmte gezielte Fragen. Damit wollte ich versuchen, Lücken in den schriftlichen Quellen aus dem Barockzeitalter zu schliessen und unter Beachtung späterer Veränderungen einige hypothetische Aussagen des obengenannten Werks zu überprüfen, zu präzisieren, wenn nötig zu korrigieren oder auch fallen zu lassen. Gleichzeitig wollte ich damit die dort nur grob skizzierte These vom (endgültigen) «Untergang des Barock» nach 1945 etwas ausführlicher begründen.
Neben diesen konkreten Anliegen leitete mich eine dritte allgemeinwissenschaftliche Zielsetzung. Gegenüber einer immer noch stark auf Dogmen, Institutionen, Parteien, Personen und das Verhältnis zum Staat bezogenen Kirchengeschichte möchte ich einer mehr die sozialen, ökonomischen und kulturellen Folgeerscheinungen der Religiosität, in diesem Falle einer bestimmten Konfession, betonenden Geschichte, unter Berücksichtigung anderer und neuer methodischer Ansätze, das Wort reden. Ich gehe damit einig mit meinem Freiburger Kollegen Urs Altermatt. In seinem grundlegenden Werk «Katholizismus und Moderne» hat er neben entsprechenden theoretischen Ausführungen bereits Mitte der 1980er-Jahre auch einige Bereiche des katholischen Alltags mit «oral history» und schriftlichen Quellen untersucht (S. 261ff.), diesen Ansatz dann aber sowohl selber wie in den Arbeiten seiner zahlreichen Schüler leider nicht mehr systematisch weiterverfolgt, und er ist auch sonst ohne Nachfolge geblieben.
War somit, von der erwähnten Ausnahme abgesehen, das Interesse der Historiker an diesen Phänomenen gleich null, so hat besonders das Fach Volkskunde dem auf diesem Feld arbeitenden Wissenschaftler nicht Weniges zu bieten und war methodisches Vorbild. Prinzipiell geht es im vorliegenden Projekt allerdings nicht um eine traditionelle Darstellung der sogenannten Volksfrömmigkeit vor den radikalen Veränderungen im Umfeld des Zweiten Vatikanums. Dieses Forschungsgebiet ist für die Schweiz bereits recht gut dokumentiert, namentlich durch die Arbeiten von Walter Heim. Jedoch war und bleibt es mein Wunsch, dem seinerzeit gepflegten, heute aber zur Unbedeutsamkeit herabgesunkenen Fach der «Religiösen Volkskunde» unter veränderten Bedingungen vielleicht eine wissenschaftliche Zukunft zu bahnen. Französische Historiker, besonders solche aus dem Umkreis der sogenannten Ecole des Annales, haben den Untergang der traditionellen Landwirtschaft und der traditionellen Religiosität als die beiden grössten Verlusterfahrungen des 20. Jahrhunderts bezeichnet. Diesem Urteil kann man wohl für ganz Europa beipflichten. Dass zwischen beidem ein Zusammenhang bestehen könnte, wurde allerdings in der Geschichtswissenschaft wenig beachtet. An die Forschungen zur religiösen Volkskunde anzuknüpfen und davon ausgehend neue Wege der Analyse dieser spezifisch agrarischen Religiosität zu beschreiten, war ein weiteres Motiv dieses Buchs.
Der schon vor dem Konzil sich abzeichnende tiefgreifende Wandel der katholischen Religiosität ist nicht Thema dieses Buchs (auch meine Interviewpartner habe ich, wenn sie unbeabsichtigt darauf zu sprechen kamen, obschon ungern, wieder zur Ordnung rufen müssen). Dennoch stellt er zweifellos ein Forschungsdesiderat ersten Ranges dar, das ebenfalls in Angriff genommen werden müsste, nachdem auch die geistlichen und weltlichen Protagonisten des Konzils im Greisenalter stehen oder bereits verstorben sind. Dass die Frage nach der barock-katholischen Mentalität alles andere als veraltet ist, habe ich in meinem Buch «Gelassenheit und Lebensfreude. Was wir vom Barock lernen können» (Herder, Freiburg 2011) zu zeigen versucht. Auch die vorliegende Untersuchung kann daran anknüpfen – noch leben unter uns Personen, welche eine ganz andere Lebenseinstellung als die heute vorherrschende haben. Um der Gefahr zu entgehen, bloss luftige Thesen in den Raum zu stellen, scheint es mir wichtig, dies zu dokumentieren. Die Resultate dieser Studie können vielleicht dazu beitragen, den um 1950 in der Schweiz und etwas phasenverschoben in ganz Europa einsetzenden gewaltigen Umbruch in allen Lebensbereichen unter veränderten Aspekten zu beleuchten und so besser zu verstehen.
Im Gegensatz zu meinen erwähnten anderen Werken sind diesmal, besonders bedingt durch die gewählte Methode, viele Verdankungen anzubringen. Wie noch im Einzelnen auszuführen sein wird, konzentriert sich die Untersuchung auf die beiden Kantone Appenzell Innerrhoden (unter Ausschluss der Exklave Oberegg) und Obwalden (mit Engelberg). In ersterem, meiner Heimat, hätte ich wohl mit von altersher bestehenden Beziehungsnetzen passende Interviewpartner finden können, allerdings gleichwohl mit einigem Zeitaufwand. Deswegen war es eine grosse Hilfe, dass mir Frau Franziska Raschle eine Liste mit regelmässigen Teilnehmerinnen und Teilnehmern an dem von ihr initiierten und geleiteten «Erzählcafé» zur Verfügung stellte. Bei Kaffee und Kuchen tauschen hier die Senioren regelmässig zu einem vorgegebenen Thema ihre Erinnerungen aus. Es handelt sich bei ihnen infolgedessen allesamt um an der Vergangenheit interessierte Menschen, was sich auf meine Recherchen sehr positiv auswirkte: Fast alle waren zu einem Interview bereit. Ein stets aufmerksamer und interessierter wissenschaftlicher Gesprächspartner und Helfer in Vielem war der Volkskundler Roland Inauen, Konservator am Museum Appenzell. Ausserdem halfen mir Achilles Weishaupt, Josef Inauen und Johann Manser mit ihrem grossen lokalen Wissen bei einigen Spezialfragen. Pfarrer Stephan Guggenbühl öffnete mir das Pfarrarchiv und unterhielt sich mit mir über das Thema der Stiftmessen. In der Landesbibliothek konnte ich stets auf die Hilfe von Doris Überschlag zählen, im Landesarchiv auf diejenige von Stephan Heuscher. Innerrhoden kann nicht vollständig ohne die Folie der anderen Konfession im benachbarten protestantischen Ausserrhoden betrachtet werden; dazu verdanke ich Hans Hürlemann, Urnäsch, und Albert Tanner, Bern, sachkundige Auskünfte.
Die Forschungen in Obwalden wären nicht möglich gewesen ohne die tatkräftige Unterstützung von a. Pfarrer Karl Imfeld, Kerns, einem der letzten profilierten Vertreter der religiösen Volkskunde in der Schweiz. Selber forschend tätig und unermüdlich publizierend, stellte er mir sein umfassendes Wissen zu seiner Heimat vorbehaltlos zur Verfügung. Vor allem aber konnte er mir eine grössere Anzahl Personen nennen, die zu einem Interview bereit waren. Die Nennung seines Namens öffnete dann dem Fremden alle Türen. Staatsarchivar Angelo Garovi half mir mit «Literaturgeschenken» und weiteren Hinweisen. Informationen zu einigen landwirtschaftlichen Fragen verdanke ich Petra Omlin und Paul Küchler. In Engelberg, jenem einstigen, jetzt zu Obwalden gehörigen geistlichen Kleinstaat, öffnete mir mein ehemaliger Berner Kollege, Stiftsarchivar Rolf De Kegel, die Pforten. Stiftspfarrer Bernhard Mathis OSB stellte mir daraufhin eine Liste mit möglichen Interviewpartnern zusammen, die sich ebenfalls ausgezeichnet bewährte. Rolf De Kegel und Katharina Odermatt verdanke ich einige zusätzliche Informationen.
Am Rande habe ich noch, um etwas Kontrastfarbe ins Bild zu bringen, auch die protestantische ländliche Religiosität am Beispiel von Bern, insbesondere des Oberlandes, etwas genauer betrachtet; ein systematischer Vergleich der protestantischen mit der katholischen Mentalität musste allerdings unterbleiben. Einblicke in diese mir etwas fremde Welt erhielt ich durch die Pfarrer Simon Kuert, Langenthal, und Ernst von Känel, Spiez.
Wie jeder Kenner weiss, spielen die Kapuziner in der ländlichen katholischen Religiosität eine grosse Rolle. Ich hatte das Glück, noch einige ältere Patres interviewen zu können. Die Namen sollen aber hier aus Vorsichtsgründen nicht erwähnt werden, da es in den Gesprächen auch um die etwas umstrittenen «Kapuzinermittel» zur Heilung von kranken Menschen und besonders um krankes Vieh ging.
Abschliessend sei noch den Leitern der besuchten Archive Dank abgestattet: Stefan Kemmer vom Bistumsarchiv St. Gallen, Albert Fischer von demjenigen in Chur und Christian Schweizer vom Provinzarchiv der Schweizer Kapuziner in Luzern.
Bei der Beschaffung des Bildmaterials waren mir Roland Inauen, Appenzell, und Klara Spichtig, Sarnen, eine grosse Hilfe.
Allen Mitarbeitern des Verlags hier + jetzt danke ich für die stets angenehme und reibungslose Zusammenarbeit bei der Publikation.
Den grössten Dank schulde ich allerdings allen meinen hier anonym bleibenden Interviewpartnern und -partnerinnen. Nach Jahren blossen Bücherstudiums waren die Besuche auf den Bauernhöfen und den übrigen Alterssitzen nicht nur wissenschaftlich ergiebig, sondern auch menschlich eine angenehme Abwechslung. Überall wurde ich wohlwollend empfangen, und die Gespräche verliefen in freundschaftlicher Atmosphäre, ohne den heute allgegenwärtigen Zeitdruck.
Ursellen, Frühjahr 2013
Peter Hersche
Einleitung: Quellen und Methode, räumliche und zeitliche Eingrenzung
Wie bereits erwähnt, beruht die Untersuchung zunächst auf Interviews, die ich zum grössten Teil in den Jahren 2006 und 2007 gehalten habe. Die Gespräche fanden fast alle in den Wohnungen der Interviewpartner statt und dauerten in der Regel etwa zwei Stunden. Sie wurden auf MD (Mikrodisc) aufgezeichnet. In beiden Regionen, Appenzell und Obwalden, waren es jeweils rund 20 Interviews. In Appenzell kamen einige eher zufällig sich ergebende kurze Gespräche mit Bekannten hinzu, die nicht auf Tonträger aufgezeichnet wurden und bei denen ich bloss im Verlauf oder nachträglich einige stenografische Notizen machte. Die genannte Zahl ist nicht sehr gross, doch ergaben sich nach etwa 12–15 Befragungen immer häufiger Wiederholungen von bereits Gesagtem, und es war ein Sättigungspunkt erreicht, der ohne grosse Bedenken eine Beendigung der Interviewtätigkeit in der betreffenden Region erlaubte. Andererseits ist das Verfahren der «oral history» natürlich immer offen. Etwas frustrierend, aber wohl unvermeidlich ist nämlich der Sachverhalt, dass nach einem Dutzend oder mehr Gesprächen ein Befragter eine interessante Feststellung zu einem Gegenstand machen kann, an den man selber zunächst nicht gedacht und den man deshalb auch nicht in den Fragenkatalog aufgenommen hat. Man hätte also nochmals von vorne anfangen können und die früheren Interviewpartner nochmals aufsuchen müssen. In diesen Fällen habe ich höchstens die im Vorwort erwähnten Kontaktleute nochmals befragt.
Fast alle Befragten waren zum Zeitpunkt der Interviews über 75 Jahre alt. Ich habe auf eine ausgeglichene Geschlechterverteilung geachtet, die Männer überwiegen jedoch leicht. Die allermeisten Interviewpartner waren Bauern oder wenigstens dem bäuerlichen Milieu noch verbunden, nicht wenige habe ich auf ihren Höfen aufgesucht. Dies war Absicht, denn mich interessierten ja besonders die engen Zusammenhänge der Religiosität mit der bäuerlichen Arbeit. Die dörflichen Eliten habe ich prinzipiell nicht berücksichtigt, auch Handwerker kommen nur am Rande vor. An Mesner und Polizisten habe ich mich mit spezifischeren Fragen gewandt. Erstere können etwas aussagen über allerlei konkrete kirchliche Probleme, Letztere etwas zur Frage der Normdurchsetzung in einer Gesellschaft. Angefragt habe ich zunächst stets nur Einzelpersonen. Wenn dann aber in einigen Fällen im Verlauf des Gesprächs der Ehepartner hinzutrat und sich schliesslich auch daran beteiligte, habe ich auch ihn oder sie ins Gespräch miteinbezogen. Zwar komplizierte dies die Interviewsituation ein wenig, doch konnte ich gelegentlich aus dem Paarverhalten auch einige interessante zusätzliche Schlüsse ziehen. Anders als bei ähnlich gelagerten früheren Untersuchungen aus dem Appenzellischen1 habe ich meinen Interviewpartnern Anonymität zugesichert. Wichtige Aussagen von ihnen und die eher seltenen wörtlichen, meist ins Schriftdeutsche übertragenen Zitate im Text sind daher bloss mit Kantonskürzel (AI, OW) und den Initialen der Interviewten nachgewiesen. Ausnahmsweise, bei besonders heiklen Fragen oder wenn man aus dem Kontext auf den Urheber schliessen könnte, habe ich sie auch ganz weggelassen.
Bei meiner wissenschaftlichen Tätigkeit war es mir stets wichtig, gegenüber den von der Historiografie immer bevorzugten Eliten die Perspektive «von unten», vom «gewöhnlichen Volk» aus, miteinzubeziehen, ja, dieses im Sinne einer ausgleichenden Gerechtigkeit sogar eher in den Vordergrund zu rücken.2 Dennoch wollte ich bei der vorliegenden Untersuchung unbedingt auch die Sicht «von oben» einbringen, also die Meinung der die Normen festlegenden, verkündenden und im Rahmen des Möglichen auch durchsetzenden Instanzen kennenlernen. Konkret waren dies bei der gewählten Fragestellung in allererster Linie die Geistlichen, die geweihten und beamteten Diener der Religion. Deren Stellung im Volk war ein wichtiger Fragepunkt. Dieses Vorhaben auszuführen, war jedoch nicht ganz leicht – zwar fand ich in Obwaldner Altersheimen und -siedlungen drei ehemalige Pfarrer, welche den von mir ins Auge gefassten Zeitraum wenigstens als junge Kapläne noch miterlebt hatten und mir dazu Rede und Antwort standen. In Appenzell aber war kein einziger der damals wirkenden Geistlichen mehr am Leben, beziehungsweise noch für ein Interview ansprechbar. Ich konnte immerhin drei ältere aus Appenzell gebürtige, aber später auswärts wirkende Priester interviewen. Diese Gespräche waren insgesamt durchaus lebendig, für meine ganz spezifischen Fragen allerdings eher wenig ergiebig. Zwar waren alle Befragten mit der Heimat noch irgendwie verbunden, doch wurden die Erinnerungen an die traditionelle Religiosität in der Zeit nach dem Krieg von den späteren Erfahrungen auswärts (teils in städtischer Umgebung) weitgehend überlagert, sodass Laien nicht selten zu bestimmten Problemkomplexen besser informiert waren. Hinzu kommt natürlich, dass genau diese Priestergeneration den Auftrag hatte, die Reformen des Zweiten Vatikanums in ihrem Wirkungskreis durchzusetzen. Diese wohl nicht immer einfache und leichte Arbeit «im Weinberg des Herrn» hat vielleicht Erinnerungen an die «Zeit davor» verblassen und verdunkeln lassen, zumal, wenn diese Priester, wie der das Konzil einberufende Papst Johannes XXIII., der Auffassung waren, so wie bisher könne es mit der katholischen Kirche nicht weitergehen, ein «aggiornamento» sei überfällig.3 Dann ist Gleichgültigkeit, wenn nicht gar Ablehnung gegenüber der traditionellen Religiosität verständlich und vielleicht auch verzeihlich. Nur ein historisches Interesse vermag dann diesen Graben noch zu überspringen. Ein Problem ist ferner, dass Geistliche vermutlich von ihrer Ausbildung und Stellung her etwas dazu neigen, in erster Linie auf kirchliche Normen zu rekurrieren und über davon abweichende Praxen zu schweigen, nicht nur aus einer gewissen Scheu bei bestimmten Fragen (Sexualität!), sondern auch, weil man sie sonst beschuldigen könnte, zu wenig eifrige Hirten ihrer Herde gewesen zu sein. An und für sich wären Priester natürlich die besten Quellen, um die für den Historiker hochbrisante Frage der Diskrepanz von moralischen Normen und der Praxis zu prüfen: nämlich durch die in unserem Zeitraum noch üblichen und einzig statthaften Einzelbeichten, die damals noch ziemlich regelmässig abgelegt wurden. Ich könnte in einer anonymisierten und vorwiegend quantitativen Auswertung dieser Bekenntnisse keine Verletzung des Beichtgeheimnisses sehen, da dieses ja einzig dem Schutz der Person dient. Aber die angefragten bischöflichen Ordinariate sehen das anders (obschon es erstaunlicherweise offenbar keine definitive römische Regelung dieser Frage gibt), und so blieb mir dieser Erkenntnisweg versperrt. Hier läge, allerdings nur noch für kurze Zeit, ein Quellenschatz vergraben, über den wir heute, da die Einzelbeichte zur Ausnahme geworden ist, in Zukunft nicht mehr verfügen werden.4
Die mündlichen Quellen wurden mittels themen-, beziehungsweise problemzentrierten semi-strukturierten Interviews erschlossen.5 Für mein Forschungsvorhaben wählte ich also eine eher «weiche» Methode und errichtete nicht ein starres Theoriegerüst als Grundlage für einen detaillierten Fragebogen, den ich dann Punkt für Punkt abhakte, um die Resultate womöglich quantitativ auszuwerten. Stattdessen begnügte ich mich mit einem Leitfaden, bestehend aus etwa 20 offenen Fragenkomplexen, die ich einigermassen der Reihe nach, im Einzelnen aber flexibel (bisweilen auch in einer anderen Reihenfolge) durchging. Erwies sich eine Fragestellung als unergiebig, so schritt ich gleich zur nächsten; intensives «Nachbohren» erwies sich, wie ich bald erkannte, als sinnlos. Die im konkreten Gespräch gesetzten Schwerpunkte und die Spannbreite der Aussagen waren also sehr verschieden und hingen stark von der befragten Person ab. Nach den ersten paar Interviews habe ich den Leitfaden leicht modifiziert. Gleich zu Beginn machte ich die Geprächspartner darauf aufmerksam, dass es mir nicht in erster Linie um persönliche Erfahrungen ginge, sondern um allgemeine Feststellungen: Nicht was das Individuum, sondern was «man» dachte, sagte und machte, wollte ich wissen. Am Schluss meiner Arbeit sollten ja einigermassen generalisierbare Feststellungen und zwar zu von mir gesetzten Problemkreisen stehen. Rein narrative Interviews hätten mir für mein Projekt wenig gebracht; wenn das Gespräch in diese Richtung abzugleiten drohte, erlaubte ich mir, den Redefluss zu unterbrechen. Dies geschah auch, wenn die Interviewpartner, sicher ohne Absicht, mehrfach die gesetzte chronologische Grenze überschritten. Brachten die Sprecher ein Thema aufs Tapet, das ich interessant fand, wiewohl es nicht in meinem Leitfaden figurierte, so liess ich sie zunächst einmal reden, um dann bei passender Gelegenheit wieder zu meinen Vorgaben zurückzukehren. Dasselbe machte ich bei Themenkomplexen, die mich zwar interessiert hätten, die ich aber den älteren Leuten nicht direkt zumuten wollte, also insbesondere Probleme der Sexualität oder, in der damaligen kirchlichen Umschreibung, die Vorschriften des sechsten Gebots. Mit dem gewählten Verfahren vermied ich die meisten der mit narrativen Interviews verbundenen Schwierigkeiten, vor allem den in der Forschung wohlbekannten Sachverhalt, dass Erinnerungen immer konstruiert sind und die Vergangenheit stets eine subjektiv interpretierte ist. Die Festlegung auf bestimmte Fragenkomplexe lässt dazu weniger Raum. In der Auswertung der Interviews kamen auch wieder «weiche» quantitative Elemente zum Zug: Eine Feststellung, welche die allermeisten Befragten spontan machen, zeichnet die Realität wohl ziemlich genau nach. Davon abweichende und widersprüchliche Aussagen müssen soweit wie möglich geklärt werden und in der Darstellung aufscheinen und diskutiert werden. Ort, Zeit und Umstände der Interviews hielt ich schriftlich in einem Begleitprotokoll fest. Fast immer fielen einige Themenkomplexe des Leitfadens aus Zeitgründen unter den Tisch: Nach zwei Stunden Reden zeigten sich sowohl bei den Befragten wie bei mir selber manchmal leichte Ermüdungserscheinungen. Ein zweites Interview schien mir gleichwohl nicht notwendig. In ganz wenigen Fällen habe ich bei bestimmten Fragen später nochmals Kontakt aufgenommen. Eine Anzahl offener Fragen konnte ich am Schluss in Gesprächen mit Roland Inauen und Karl Imfeld klären. Eine Transkription der Interviews habe ich nicht vorgenommen, diese wäre zu aufwendig gewesen und hätte auch zu viel «Abfall» (ich verwende diesen Begriff zwar ungern, aber bezogen auf meine ziemlich spezifische Fragestellung ist er doch nicht ganz unangemessen) mit sich gebracht. Die Aussagen wurden in relativ traditioneller Manier auf Karteikarten thematisch verzettelt, allerdings mit einem ziemlich feinen Raster von etwa 135 einzelnen Punkten. Dieses strukturiert auch den inhaltlichen Aufbau der Arbeit.
Schriftliche Quellen habe ich nur ergänzend benutzt. In erster Linie waren dies einige gedruckte autobiografische Berichte und Erinnerungen, sowie zumeist auf Interviews beruhende entsprechende Darstellungen von Dritten.6 Hinzu kamen periodische offizielle und quasi-offizielle Publikationsorgane.7 Unter den archivalischen Quellen waren die Pfarrberichte aus dem Dekanat Appenzell besonders wichtig, denn sie verringerten die erwähnte Lücke bei den geistlichen Interviewpartnern. Diese schriftlichen Berichte über den Stand der Pfarreien waren gemäss den Synodalstatuten von 1932 alle vier Jahre von sämtlichen Ortsgeistlichen aufgrund eines vorgegebenen Schemas von 36 Punkten abzufassen und dem bischöflichen Ordinariat einzusenden.8 Sie umfassten jeweils etwa 5–10 Seiten und dienten als Grundlage der eigentlichen kanonischen Visitation, die aber nicht vom Bischof selber, sondern von einem seiner Beamten vorgenommen wurde (Generalvikar, Offizial, Seminarregens usw.).9 Im Gespräch mit den Ortsgeistlichen ging es dann eigentlich nur noch um einige offene Fragen der bereits eingesandten Berichte. Darüber wurde ein Visitationsprotokoll erstellt, wobei der Visitator auch andere ihm zugekommene Informationen verwertete. In Obwalden wurde die Visitation noch nach dem klassischen tridentinischen Muster, zusammen mit der Firmung, vom Bischof selbst durchgeführt. Hier habe ich ein Protokoll und dazugehörige Akten aus dem Jahre 1956 benutzen können. Die Quellen aus dem Provinzarchiv der Kapuziner dienten vor allem der Klärung spezifischer mit dem Orden zusammenhängender Fragestellungen (Beichten, Segnungen, Volksmission usw.).
Eine auch zu einigen meiner Fragestellungen aufschlussreiche, in der Forschung bisher allerdings kaum benutzte Quelle sind die Antworten auf die von der Schweizerischen Gesellschaft für Volkskunde 1931 gestellten 1585 Fragen zu allen wichtigen Bereichen der Volkskultur, die gesamtschweizerisch erhoben werden sollten, die sogenannte Enquete I.10 Die Antworten sind für Appenzell in einer Kopie mit ergänzenden Anmerkungen und Quellenhinweisen des redigierenden Verfassers Albert Koller erhalten. Sie betreffen zwar einen etwas früheren Zeitraum als den von mir gewählten. Gleichwohl half dieses Material, einige Fragen befriedigender zu klären und die Kontinuität rückwärts zu verlängern.