Krawattennazis

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Kapitel 2

Es war für ihn gar nicht so einfach wegzukommen. Aufträge dieser Art schätzte er für gewöhnlich nicht. Rasche An- und Abreise war ihm deutlich lieber. Der Mann war in einem unauffälligen Mittelklasse-Mietwagen unterwegs, den er am Flughafen Düsseldorf übernommen hatte. Der Abgabeort des Fahrzeugs, der Flughafen Frankfurt, war zuvor vereinbart worden. Aber dieser Weg zurück zur Autobahn zog sich endlos über Landstraßen und machte ihn nervös. Wer nervös ist, macht Fehler. Kein guter Zustand für ihn. Das Navi hatte ihn durch kleine Ortschaften und an einer größeren Stadt vorbeigelotst, von der er in seinem Leben noch nie etwas gehört hatte. Korbach. Nun, es gab Orte, die man nicht unbedingt gesehen haben musste. Auch wenn ihm die Stadt vom bloßen Anblick aus der Ferne nicht unsympathisch erschien. Zwei hohe Kirchtürme ragten wie Landmarken in den Himmel. Die Bebauungen der Stadtviertel umringten sie, wie sich eine scheue Kinderschar um ihre Eltern versammelt. Schließlich war er durch das Edertal gefahren und hatte bei Fritzlar die A49 erreicht.

Alles lief nun nach Plan. Um 13.25 Uhr hob seine Maschine nach Paris ab. Diesen Flug hatte er tatsächlich unter seinem richtigen Namen gebucht, einem Namen, den er seit Jahren nicht mehr benutzt hatte. Ein guter, vertrauter Name, der in ihm Erinnerungen an ein fernes Leben weckte. In Paris würde er die Flughäfen wechseln, ein Taxi von Charles de Gaulle nach Orly nehmen, um von dort mit einem französischen Pass und anderem Namen weiter nach London zu fliegen. Nach diesem knapp dreiviertelstündigen Flug würde er reichlich Aufenthalt in Heathrow haben, bevor er schließlich einen Nachtflug an sein endgültiges Ziel nehmen würde. Es war gut für seine Art von Geschäft, dass der Zivilflugverkehr nach der Corona-Krise beinahe sein altes Niveau wieder erreicht hatte. Er hoffte, mit seinem Flugplan seine Spuren halbwegs gut verwischt zu haben. Neben dem Flughafen von Dubai und dem neuen Flughafen in Istanbul gab es kaum einen Ort auf der Welt, an dem es Profis so gut gelang, unsichtbar zu werden wie in Heathrow. Die Briten lernten einfach nicht aus den zahlreichen Terroranschlägen in ihrem Land dazu.

Wie eine bestürzte Frau, die gerade vom Tod ihres geliebten Gatten erfahren hatte, wirkte Constanze Lieberknecht irgendwie nicht, dachte Emde. Er kam sich vor wie in einem Derrickfilm aus den achtziger Jahren. Der späte Vormittag brach gerade an, und gemeinsam mit einem Beamten der Kripo in Dortmund, der ihm bei diesem Gespräch zur Seite gestellt worden war – offenbar hielt man es vonseiten der Behörden für angebrachter, einen Vertreter aus NRW dabei zu haben – überbrachte er in einer an den kantig-modernen Stil von Le Corbusier erinnernden Villa in Dortmund-Kirchhörde die Nachricht vom vorzeitigen Ableben des ehemaligen Bankvorstands. Draußen um die Straßenecke herum und von Hecken gut verborgen, parkte das Fahrzeug eines Seelsorgers. Nur für den Fall. Doch Emde erkannte auf den ersten Blick, dass die Anwesenheit des Mannes nicht notwendig sein würde.

Constanze Lieberknecht trug einen bunt gemusterten Sari, der ihre schlanke Figur unterstrich. Minutenlang stand sie am Panoramafenster zum Garten. Schweigend. Mit einem „Marlene, bieten Sie den Herren doch einen Kaffee oder Tee an“ beendete sie schließlich die Stille. Emde und sein nordrhein-westfälischer Kollege wandten sich erstaunt um. Nirgendwo in dem weitläufigen, spärlich möbilierten Wohnzimmer, in dem sich neben einem Bücherregal und zwei Lounge Chairs an der Rückwand lediglich ein Quartett weißer Panton Stühle wie eine Gruppe verhuschter Gespenster um einen Glastisch sammelte, war eine Person zu sehen, die sich angesprochen fühlen könnte. Und doch öffnete sich nach weiteren Augenblicken eine Milchglastür und eine adrette Frau in den Fünfzigern in einem eleganten dunklen Hosenanzug erschien mit einem Tablett mit zwei Tassen, zwei Kannen, Milch, Zucker und Kandis. Keine Marlene, eher eine Stephanie, aber nicht mit einem profanen F, sondern mit P und H, bitteschön, dachte Emde. „Meine Herren, ich stelle Ihre Getränke hier auf den Seitentisch.“ Ein kurzes Nicken der sich umdrehenden Hausherrin, und Marlene war wieder wie vom Erdboden verschluckt. „Mein Mann und ich haben seit Jahren nicht mehr das geführt, was man eine Ehe nennen könnte“, begann Constanze Lieberknecht. „Wir hatten unsere eigenen Interessen, unsere eigenen Freundeskreise … und … nun ja, was mir sonst gefehlt haben könnte, daran ließ ich es mir nicht mangeln.“ Emde blickte erstaunt auf. Ein Lächeln huschte über das gleichmäßige und schöne Gesicht von Constanze Lieberknecht. „Sie haben mich schon verstanden, Herr …“ Die Augenbrauen der Frau wichen vor ihren fragenden Augen darunter zurück. „Emde“, sagte Emde mit einem verhaltenen Tonfall, als würde er in einem Beichtstuhl sitzen. „… Herr Emde. Mein Mann wusste davon. Ein jugendlicher Liebhaber verleiht einer in die Jahre gekommenen Ehe manchmal noch den nötigen Rückhalt.“ Mit der Grazie einer antiken Marmorfigur – elegant und dennoch eiskalt – wies ihre Hand auf den Beistelltisch und auf das Tablett dort. „Bitte bedienen Sie sich doch.“ Dann, als hätte Constanze Lieberknecht erkannt, dass es eigentlich eine Unhöflichkeit war, Gäste nicht selbst zu bedienen, schwebte sie die vier Schritte zum Beistelltisch. „Mit Milch oder Zucker?“ „Schwarz“, sagte Emde. „Mit etwas Zucker, bitte“, ergänzte der NRW-Kollege. Emde hatte sich seinen Namen nicht wirklich gemerkt. Domburg? Dromburg? Irgendetwas, das einen an Trutz erinnerte. Festgemauertes.

„Gibt es Feinde oder Widersacher, die Ihr Mann gehabt haben könnte“, griff Emde den Faden wieder auf. „Personen, denen eine solche Tat zuzutrauen gewesen wäre?“ Die Dame des Hauses nahm ihre Position am Fenster wieder ein, nachdem sie den beiden Polizeibeamten die zierlichen Porzellantassen gereicht hatte. „Feinde …“, wiederholte sie, als müsse sie erst über den Sinn dieses Wortes nachdenken. Nein, ging es Emde durch den Kopf. In einer Welt voller Luxus und glanzvollem Dasein, in der alles nur nach deinem Willen zurechtgebogen wird, existiert so etwas nicht. Wie zur Bestätigung schüttelte Constanze Lieberknecht dann auch den Kopf, es war eher ein gelangweiltes Hin- und Herschauen.

„Als wäre sie ein Wesen von einem anderen Stern. Unfassbar. Die beiden müssen jahrelang nebeneinander irgendwie koexistiert haben. Wie auch immer die das geschafft haben.“ Emde schüttelte voller Schaudern den Kopf. Erst für den folgenden Tag hatte Constanze Lieberknecht einen Termin gefunden, ihren toten Gatten in der Gerichtsmedizin in Kassel zu identifizieren. Zwischen Malkurs, Yoga und angstfreiem Atmen, hatte er gedanklich für sich gefrotzelt. Die Autopsie würde bereits am Nachmittag abgeschlossen sein, wenn es bei der vermuteten Todesursache blieb und nicht herauskam, dass Lieberknecht schon tot war, bevor die Schüsse ihn trafen. Das Gespräch mit der Witwe war ohne greifbares Ergebnis verlaufen. Am Ende hatten sie in ihrer Ratlosigkeit sogar gefragt, ob sich im Bekanntenkreis möglicherweise ein ehemaliger Zeitsoldat der Bundeswehr oder anderer Streitkräfte befand, der technisch zu so einem Mord fähig wäre. Was natürlich nicht der Fall war. Constanze Lieberknecht hatte das Wort Bundeswehr ausgesprochen, als würde es sich dabei um eine besonders üble Art von Verbrechersyndikat handeln. Emde hatte regelrecht darauf gewartet, dass sie am Ende noch Kurt Tucholsky zitieren und pauschal alle Soldaten des Mordes bezichtigen würde. Wie sie jahrelang mit einem sich an der Jagd erfreuenden Ehemann klargekommen war, würde ihr Geheimnis bleiben.

Nun befand sich Emde auf dem Heimweg auf der A44 in Richtung Kassel, in den Ohren das Headset seines privaten Mobilfunkanschlusses. Am anderen Ende der Leitung lauschte Paul Kleine. Noch wenige Kilometer bis zum Autobahnkreuz Werl, ab dort in Richtung Arnsberg. Kleine hatte ihm in der Vergangenheit einmal erzählt, dass er, wann immer er dieses Autobahnkreuz hinter sich gelassen hatte, beim Anblick der Höhenzüge, der Ausläufer des Rothaargebirges, auch alle Sorgen abgelegt hatte. Aber ob das Leben in dem kleinen Weiler im Naturpark Diemelsee für ihn wirklich so sorglos war? Emde hatte manchmal so seine Zweifel. Er wusste, dass der ehemalige Journalist und jetzige Lokalreporter – Emde war der genaue Unterschied nicht so ganz klar, Zeitungsleute waren für ihn Zeitungsleute, oder? – viel gesehen hatte und über die Ursache der Albträume, die ihn oft plagten, nicht sprechen wollte. Emde hakte nicht nach, er spürte, dass es Kleine so lieber war. Es gab sicher auch viele Dinge in Kleines Vergangenheit, über die Emde froh war, nichts zu wissen.

Im Laufe des Tages hatte Kleine ihm mal wieder einen großen Dienst erwiesen und Augen und Ohren nach möglichen Hinweisen aufgehalten. Doch scheinbar waren die Einwohner von Heringhausen direkt am See keine großen Journalistenfreunde. Kein einziger Hinweis war bislang eingegangen, keine einzige Anfrage bei den Polizeidienststellen in Korbach oder bei der zuständigen Staatsanwaltschaft Kassel gestellt worden. In dem kleinen Dorf wurde eisern geschwiegen, obwohl, da war sich Emde sehr sicher, der Einsatz oben auf den Wiesen des Eisenbergs Ortsgesprächsthema Nummer eins bei den kurzen Gesprächen über Gartenzäune hinweg und in der Bushaltestelle sein würde. Offenbar war aber auch kein Kollege der schreibenden und berichtenden Zunft auf der Wiese über dem See erschienen, um sich am Tatort umzuschauen. Stattdessen hatte es von der Staatsanwaltschaft inzwischen eine nüchterne und sehr offizielle Pressemitteilung gegeben, die seitens der Medien bislang einfach nur zur Kenntnis genommen worden war. Von Mord war natürlich nicht die Rede. Die Sprachregelung sah in solchen Fällen das „Auffinden einer leblosen Person“ vor. Auch von einer Pressekonferenz war zunächst mit Rücksicht auf die Familie des Opfers und des derzeitigen Ermittlungsstands abgesehen worden. Was gab es zum jetzigen Zeitpunkt auch schon zu berichten? Der Deckel war gut unter Kontrolle: Kein einziger Verdacht wies in die Richtung eines mutmaßlichen Mordfalls. Zwei Leute in seinem Team hielten wachsam weiterhin in den sozialen Medien nach irgendwelchen Erkenntnissen Ausschau, überprüften Facebook-Kontakte, mögliche verdeckte Gruppen. Man wusste ja nie. Obwohl Emde sich sicher war, dass der dahingeschiedene Lieberknecht eher weniger der agile Facebook-affine User war. Carl Lieberknecht war bis ins Mark die Generation Encyclopaedia Britannica, ledergebunden und mit Goldschnitt.

 

Es war eine stille Absprache zwischen den beiden Männern Paul Kleine und Stefan Emde, dass Emde hin und wieder unerlaubterweise Details von seiner Arbeit berichtete und Kleine ihm mit seinem Fachwissen, nicht selten auch mit seinen guten Kontakten zur regionalen und auch überregionalen Presse, weiterhalf. Nicht so ganz im Sinne der Dienstvorschriften. Aber sehr wertschöpfend. Und schon so manches Mal konnte auf diese Weise der Zünder vor einer Detonation aus dem Sprengsatz brisanter Informationen herausgedreht werden.

„Könnte der Liebhaber von ihr eine Spur sein?“, fragte Kleine. Emde ächzte. „Ein Fotograf. David Kline. Ist natürlich nur sein Künstlername. Heißt in Wirklichkeit Torben Wagner, was auch nicht viel besser ist. War in der Nacht und den Morgenstunden zur mutmaßlichen Tatzeit zu Gast zwischen den Satinlaken von Frau Lieberknecht. Sagt sie zumindest. Ich kann mir jedenfalls nicht vorstellen, warum die beiden den Alten aus dem Weg schaffen wollten. Da ist nirgends ein echtes Motiv, das die Anheuerung eines Profis rechtfertigt.“

Constanze Lieberknecht hatte den Beamten während des Gesprächs ein Foto ihres jugendlichen Liebhabers gezeigt. Es stand offen im Bücherregal des Wohnzimmers. Ein Jesustyp. Lederjacke, Dreitagebart, wilder, der Welt entrückter Blick. Handschriftliche Notizen ihres Mannes bewiesen: Er wusste tatsächlich von der Liaison und billigte sie. Einen finanziellen Vorteil schien Constanze Lieberknecht durch den Tod ihres Gatten nicht zu genießen: Durch ein Erbe war sie, ersten Ermittlungen und Gerüchten zufolge, fast so vermögend wie ihr verstorbener Mann. Dennoch hatten sie ihn und auch die schweigende Marlene überprüfen lassen. Doch es gab nirgends einen Punkt des Zweifels. „Bleibt also auf den ersten Blick nur noch die große Nummer“, zog Kleine ein Fazit. „Prospersoil.“ Emde nickte, während er an einem niederländischen Wohnwagengespann vorbeizog. Mit Freude und Neid gleichermaßen gönnte Emde sich eine kurze mentale Auszeit von seinen Ermittlungen, als er registrierte, dass der Wohnwagen von einem Mercedes-Benz 300 TE gezogen wurde. Grünmetallic, sicherlich noch die Originallackierung aus den achtziger Jahren. Emde beobachtete mit Genuss, wie der Kombi in seinem Rückspiegel immer kleiner wurde, ein fantastisches Bild. Die Frontpartie des Wagens mit den gleichmäßigen Linien, Scheinwerfern und Kühlergrill mit Stern strahlte gelassene Kraft und die Zuversicht eines längst vergangenen Jahrzehnts aus. Auch in seiner Garage stand ein 300 TE in Dunkelblau, Baujahr 1986. Und irgendwann, Emde schwor es sich beinahe jeden Tag, würde er das Fahrzeug wieder ans Laufen bekommen. Gekauft hatte er den Wagen von einem Bauern in Gembeck, der das Auto als dritter oder vierter Besitzer mehr als Ackerschlepper denn als Personenwagen genutzt hatte. Es war praktisch nichts mehr wert. Bei dem unsanften Versuch eines Vorbesitzers, den Tacho mit einer Zange zurückzudrehen, war gleich der ganze Tachoblock in Stücke gegangen. Emde war es egal, er liebte seinen Benz und wusste: Er würde ihn eines Tages fahren und sich vorkommen, als säße er auf einem rollenden Sofa.

„Bist du noch da?“, drang Kleines Stimme in seine Träume. Prospersoil! Emde war wieder im Jetzt. Prospersoil war das Explorationsunternehmen, in das Lieberknecht viel Kapital gesteckt hatte. Eine Firma mit einem steuersparenden Sitz in Wilmington im US-Bundesstaat Delaware, unter Fachleuten als Steuerparadies bekannt. An sich nicht illegal. Aber mit reichlich Geschmäckle. Das Thema Versteuerung von Gewinnen in dem Land, in dem sie erwirtschaftet wurden oder eben in Steueroasen war regelmäßig Gelegenheit zu empörten Wutartikeln der Wirtschaftsseiten von Zeitungen und Magazinen. Dass sich hier so manches Fragezeichen in ein Ausrufezeichen verwandeln würde, lag auf der Hand. Schon mehrfach hatte es wegen des Prospersoil-Vorhabens in der beschaulichen Gemeinde handfesten Streit gegeben, bei dem es auch zu Androhungen gekommen war. Nicht selten spielten dabei auch soziale Unterschiede eine Rolle. Hier der vermögende Investor, der mit viel vermeintlichem Gönnertum und Pathos in Rats- und Ausschusssitzungen die große Geige spielte und den Tenor vortrug, die Gemeinde sei ja eigentlich nur mit seinem Geld zu retten. Dort die Einheimischen, die sich nicht kaufen lassen wollten. Und eigentlich, dachte Emde, gab es dabei noch mindestens eine weitere Gruppe. Die der stillen Mitläufer, die betroffene Mienen machten, davon sprachen, dass sich die Region nicht ausliefern dürfe, wenn sie ihre Ursprünglichkeit nicht verlieren wolle – aber klammheimlich Begeisterung empfanden, wenn wieder in der Zeitung von hochtrabenden Plänen zu lesen war. Sei es nun eine wieder in Gang zu bringende Erzgrube oder – Emde fröstelte es immer noch bei der Erinnerung an das ganze Hin- und Hergerede – eine Hängeseilbrücke, die sich über eine selbstmörderische Distanz von 400 Metern in großer Höhe quer über den Diemelsee spannen sollte.

Emde wand sich aus den Erinnerungen heraus und wieder seinen Überlegungen zum Fall zu. Auf dem Parkplatz am Ortsrand von Heringhausen war Lieberknechts Geländewagen sichergestellt worden – mit zwei völlig verängstigten Jagdhunden im Fond. Die schon im Laufe des Vormittags zusammengestellte Sonderkommission, die unfassbarerweise tatsächlich den Namen ‚Wiesenruhe‘ erhalten hatte, hatte rasch wertvolle Fakten zu dem besonderen Geschäftsverhältnis zwischen dem verstorbenen Bankvorstand und dem Unternehmen Prospersoil zusammengetragen. Zwar hatte die nächste Mordkommission, die MoKo, ihren Sitz in Kassel. Doch da die Korbacher Ermittler näher an dem Fall dran waren und wussten, wie das zu erwartende Schweigen der Einheimischen zu knacken war, wurde, wie Emde es schon am Morgen geahnt hatte, in Korbach eine Sonderkommission gebildet. Mit ihm als Leiter, was wiederum für ihn ein kleines Wunder war. Ob sich das wohl auch bei seinen Bezügen bemerkbar machen würde? Vier Kollegen der MoKo aus Kassel sollten kurzfristig die ‚Wiesenruhe‘ unterstützen. Und bei den Ermittlungen waren beim näheren Hinsehen durchaus einige Fragezeichen aufgetaucht, während die Hundertschaft im Wald bislang auf keinerlei verwertbare Spuren gestoßen war. Emde hatte zwei seiner Mitarbeiter als Tatortteam abgestellt, die sich mit dem Ermittlungsfortgang am Ort des Mordes beschäftigen sollten, eine Kollegin trug eingehende Hinweise zusammen, zwei weitere, die im gleichen Ort beziehungsweise dem Nachbarort wohnten, wo Lieberknechts Hütte stand, befragten die Anwohner auf scheinbar nachbarschaftlicher Basis. Gab es Auffälligkeiten? Was für ein Nachbar war der getötete Banker eigentlich? Emde war klar, dass die Leute vom Diemelsee keinem Ermittler aus dem fernen Kassel Rede und Antwort stehen würden. Da musste schon ein anderer Ton angeschlagen werden, den man nur beherrschte, wenn man sich von Kindesbeinen an kannte. Und das Gespräch erst mal mit den Dingen begann, die wirklich wichtig waren: Die aktuellen Milchpreise oder der Ernteausfall im zurückliegenden Sommer. Die Kollegen aus Kassel fragten im Hotel am See nach, einem großen Kasten mit knapp 60 Zimmern und einem eigenen Steg in den Diemelsee. War den Rezeptionisten ein Gast aufgefallen, der, in welcher Form auch immer, aus dem Rahmen fiel? Oder dem Personal des Restaurants? Gab es eine kurzfristige Buchung für nur eine oder zwei Nächte? Einen fremd klingenden Namen oder Akzent? Emde hatte nicht viel Hoffnung auf verwertbare Ergebnisse. Aber sie durften nichts unversucht lassen.

Über all das war Emde im Laufe des späten Mittags über seinen Tablet-PC informiert worden. Er blickte auf die vier Leuchtziffern zwischen Tachometer und Drehzahlmesser seines Dienstkombis. Zwanzig vor drei. Bis er in Korbach sein würde, wäre es kurz vor vier Uhr. Zu spät, um sich noch in die Akten einzulesen und einen Termin mit der Geschäftsführung von Prospersoil in Kassel zu machen. Das Unternehmen war durch das Kommissariat bereits über den Todesfall informiert worden. Offizielle Verlautbarungen verkniff es sich für den heutigen Sonntag jedoch noch – immerhin war Lieberknecht noch nicht durch seine Frau identifiziert. Für etwas Aktenstudium zum Fall an sich und einen Abstecher bei Kleine, den Emde schon im Laufe des Tages geplant hatte, war jedoch nach seiner Rückkehr an den Diemelsee noch Zeit. Zuvor würde er André Grimmelmann Hallo sagen. Er glaubte zwar nicht, dass der bekennende Umweltaktivist etwas mit dem Tod von Lieberknecht zu tun hatte. Einige kurze Fragen konnten jedoch manchmal den Blick für neue Tatsachen freimachen.

Kapitel 3

Als sein Mobilfunkgerät mit einem lauten Glockenton den Eingang einer Kurznachricht signalisierte, tauchten auf den Autobahnschildern bereits die ersten Hinweise auf den Flughafen auf. Der Mann war überrascht. Das Gerät war ein Wegwerfhandy, eigentlich nur für den Notfall gedacht, damit sein Auftraggeber mit ihm Kontakt aufnehmen konnte, wenn etwas Unvorhergesehenes eingetreten war. Nun, offenbar war das jetzt der Fall. Er las rasch die Notiz, die ihn zum Halt aufforderte. Kurz vor Erreichen des Autobahnkreuzes zur A3 sollte er die Autobahn verlassen und auf einem Waldparkplatz an der Straße Richtung Hainburg – noch so ein Ort, den er nicht kennenlernen wollte – auf weitere Anweisungen warten. Der Mann hoffte, dass es nicht allzu viel Zeit in Anspruch nahm. Ihm blieben noch knapp 50 Minuten zur Abgabe des Fahrzeugs und für den Check-in. Gepäck hatte er nicht viel. Eine längliche Stoffrolle mit einem schweren Inhalt hatte er bereits bei einem früheren Halt an einer Raststätte unauffällig im Unterbodenraum eines geparkten Wohnwagens einer dänischen Familie versteckt, die sich zu einem etwas längeren Mittagessen niedergelassen hatte. Mit etwas Glück würde der entsetzte Familienvater seine unheilvolle Fracht erst daheim finden – und wäre dann erst mal in Erklärungsnot, weil die Familie bis zu ihrem Ziel ohne Zweifel noch mehrere Stopps machen würde.

Den Parkplatz fand er ohne Probleme – und fluchte still. Denn unter den Bäumen stand ein Wohnmobil mit deutschem Kennzeichen. Ein dicklicher Mann mit buschigem Haar und einem T-Shirt, das ihn als Florida-Urlauber auswies, rollte gerade einen Schlauch an einer Seitenklappe zusammen. Als er den Neuankömmling erblickte, hob er mit freundlichem Lächeln die linke Hand und näherte sich. Nicht das auch noch, dachte der Mann, war sich jedoch bewusst, dass er jetzt so kurz vor dem Ziel keinen Fehler machten durfte. Offenbar hatte der Wohnmobilfahrer ein Problem. „Entschuldigung …“, fing der Dicke an, als er knapp drei Meter vom Auto entfernt war und der Mann bereits die Scheibe auf der Fahrerseite heruntergefahren hatte. Er wollte gerade antworten, Deutsch sprach er recht gut, eigentlich fließend, doch zu einem Gespräch kam es nicht mehr. Mit unendlicher Lässigkeit fuhr die rechte Hand des Dicken scheinbar ohne jegliche Hast nach vorne. Das Letzte, was der im Auto sitzende Mann in seinem Leben sah, war die Mündung eines Schalldämpfers, der auf eine schwarz glänzende Automatik geschraubt war. Bevor zwei schnelle Schüsse ins Gesicht seinen Plan beendeten, in Kürze nach Paris zu fliegen, empfand er, begreifend, was gerade geschah, ein lähmendes Gefühl von Trauer. Trauer darüber, nun nie mehr seinen richtigen Namen nennen zu können, wenn er danach gefragt wurde. Ein Gefühl, das sogar seine Wut auf sich selber übertönte, einen tödlichen Fehler gemacht zu haben.