Krawattennazis

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Berlin – ein paar Monate früher

Offenbar hatte der Mann, den er treffen sollte, ein recht ausgefallenes Hobby. Mit einem raschen Blick las York Westermann die Zeit von seiner Armbanduhr ab. Und offenbar nahm er es mit der Pünktlichkeit auch nicht so genau, denn er war bereits vier Minuten zu spät. Mit mäßigem Interesse schaute Westermann in die Regalreihen des Treffpunkts, den der Unbekannte ihm vorgeschlagen hatte: Die Abteilung für Atlanten und antike Karten in einer großen Buchhandlung in Berlin, Friedrichstraße. Menschenmassen. Touristen. Ein idealer Treffpunkt also, wenn man sich unerkannt begegnen wollte. Nur leider eben nicht diese Abteilung in dieser Buchhandlung, über der die Stille der kardiologischen Abteilung eines Krankenhauses schwebte. Nun, eigentlich war es die größte Buchhandlung in der Bundeshauptstadt. So groß wie ein Kaufhaus. Und als solches bezeichnete sie sich auch. Kein Ort, an dem Westermann sich gerne aufhielt. Auch sein Personenschutz hielt es für keine gute Idee, dass er sich hier alleine herumtrieb, ohne adäquate Bewachung. Möglichweise hatten sie ihm einen Personenschützer zur Seite gestellt, von dem er nichts wusste, Dienstanweisung hin oder her – manchmal hielten sich diese Typen einfach nicht an Anweisungen. Egal, seiner Meinung nach standen Staatssekretäre nicht so sehr im Rampenlicht der Manege des ‚Politzirkus’ Berlin‘, sodass sie auch mal ohne ein Trio dunkler Anzüge auf die Straße treten konnten. In diesem Fall hatte er von seiner Sekretärin dieses Treffen als ‚Privattermin‘ eintragen lassen. Offiziell suchte er ein Geschenk für Yvonne, seine Frau.

Westermann war jetzt 45. Er hatte eine steile Karriere gemacht, als er ins Bundeskanzleramt eingezogen war. Das Desaster der dritten Auflage der Großen Koalition und die verschiedenen Machtwechsel von Angela Merkel über ihre glücklosen Nachfolger zu Bundeskanzler Bernd Magilsky hatten eine Menge neue Namen auf interessante Positionen gespült, auch ihn. Denn eigentlich war er im Herzen immer ein tapferer Parteisoldat der Basis geblieben. Berlin war nach wie vor nicht die Stadt seiner Wahl. Er wollte dahin, wo man noch wirklich etwas verändern konnte und nicht dort sein müssen, wo die Hauptaufgabe darin zu bestehen schien, sich selbst zu feiern. Oder das nächste Start-up-Unternehmen, das Monate später wieder sang- und klanglos im Lauf der Geschichte untergegangen sein würde. Aber gut, er war dem Ruf seiner Partei gefolgt und hier war er nun. Eigentlich lief es auch hervorragend. Wenn er vor wenigen Tagen nicht diesen Anruf auf seinem Handy gehabt hätte. Auf seinem privaten Handy! Diese Nummer kannten nun wirklich nicht viele. Und die, die er im Vertrauen ausgequetscht hatte, konnten ihm nicht sagen, wer der Anrufer gewesen sein könnte oder in welchen Zusammenhängen dieser Anruf stand. Beunruhigenderweise wusste der Unbekannte genau, was er damals am Vorabend der Bundestagswahl gemacht hatte – und mit wem. Westermann versuchte, nicht weiter daran zu denken und wandte sich wieder den Büchern zu, um nicht zu sehr als Wartender enttarnt zu werden. Ein freundliches „Kann ich Ihnen helfen?“ der nächsten Verkäuferin hatte er bereits ebenso höflich abgebügelt. Ein merkwürdiges Hobby hatte dieser Typ, Westermann dachte es nochmals. Alte Reiseberichte und Atlanten, Neuauflagen von vergilbten Karten, Meere mit grässlichen Monstern, Kontinent-Umrisse, die den tatsächlichen Formen überhaupt nicht entsprachen. Westermann widmete sich einer historischen Seekarte aus dem 16. Jahrhundert, die offenbar Afrika zeigen sollte. Ohne Zweifel hatten den Kartografen die Kenntnisse über die Küsten jenseits des Kaps verlassen, denn der Indische Ozean war gerade mal ein dünnes Rinnsal, hinter dem direkt Indien und China folgten. Oder das, was zumindest die Landmassen Asiens andeuten sollte. Er merkte gar nicht, wie hinter ihm eine hagere Gestalt im dunklen Anzug stehen blieb, etwas unschlüssig ein Buch aufnahm und darin blätterte.

„Herr Westermann?“, fragte eine Stimme mit angenehmem Timbre. Westermann zuckte bei der unerwarteten Nennung seines Namens zusammen und fuhr herum. Der Mann, dem er gegenüberstand, hatte etwas von der jovialen Verbindlichkeit eines Rezeptionsmanagers in einem renommierten Grandhotel: Freundlich lächelnd, jederzeit empfänglich für eine Bitte, gut gekleidet, Krawatte, Anzugtönung und Hemd aufeinander abgestimmt, und – Westermann blickte kurz nach unten – auf Hochglanz polierte, klassische Schnürschuhe, dazu eine schmale, sichtbar teure Aktenmappe aus Leder. Ein Mann, dem man jederzeit Vertrauen schenken würde – und der gleichzeitig absolut undurchdringlich schien. Jemand, den man – ohne ihm allzu große Nähe einzuräumen – gerne zum Freund haben wollte. Und niemals zum Feind. Westermann war auf der Hut. Er nickte bestätigend und streckte die Hand aus. „Und Sie sind …?“ Das Lächeln seines Gegenübers wurde noch ein Quäntchen breiter, als er das Buch weglegte und die angebotene Hand schüttelte. „Falk Werheim. Nennen Sie mich jetzt und bei weiteren möglichen Zusammenkünften einfach so, natürlich ist das nicht mein richtiger Name. Ich habe ihn gerade draußen auf einem vorbeifahrenden Lieferwagen gesehen. Ein Wäschereifahrzeug, glaube ich.“ Westermann nickte, als würde er verstehen. Verdammt, auf was für eine Scheiße habe ich mich da eingelassen?

Werheim deutete auf eine Reihe von Büchern direkt hinter Westermann. „Wussten Sie eigentlich, dass in früheren Jahrhunderten viele Navigatoren und Kartografen bei ihrer Heimkehr ihren Herren und Auftraggebern glatte Lügen von paradiesischen Zielen und gewinnbringenden Handelskontakten aufgetischt haben?“ Er nahm zielsicher ein Buch aus dem Regal. „Dieser Reisebericht einer Seefahrt von 1547 listet eine Erfindung nach der anderen auf. Reiche Länder jenseits gewaltiger Gebirge, Gefahren, die es nicht gab, Ungeheuer in unergründlichen Meerestiefen.“ Er schüttelte missbilligend und anerkennend zugleich den Kopf. „Die Leute haben damals schon einiges getan, wenn es darum ging, das eigene Handeln in ein rechtes Licht zu rücken und sich das Wohlwollen ihrer Auftraggeber dauerhaft zu sichern.“ Er stellte das Buch wieder weg und zog ein anderes hervor. „Oder das hier. Die Reisen von Ibn Battuta, kennen Sie den?“ Westermann schüttelte ungeduldig den Kopf. „Ein großer muslimischer Rechtsgelehrter aus dem heutigen Tanger, der im 14. Jahrhundert die gesamte damals bekannte und vom Islam beherrschte Welt bereist hat. Fantastisch, wenn man bedenkt, welche Entfernungen auf welche Weise zurückgelegt wurden. Nur zu verständlich, dass die Leute damals übertrieben, finden Sie nicht, Herr Westermann?“

Westermann wurde langsam wirklich ungeduldig trotz des Drucks, unter dem er stand, doch der Unbekannte, der sich Werheim nannte, überspielte das völlig ungeniert. „So läuft das doch auch heute. Wir lügen, dass sich die Balken biegen und hoffen, dass uns niemand auf die Schliche kommt, nicht wahr, Herr Staatssekretär? Und wie heißt es doch so schön in einem großartigen Politthriller? Dass man bei einer Lüge nicht ertappt worden ist, ist für viele fast so gut, als würde man die Wahrheit sagen. Das kennen Sie sicher, ist aus einem Film mit Robert Redford. So etwas wird heute gar nicht mehr gedreht. Nun …“ Er wies mit der Hand auf zwei Sessel, die etwas abseits an der Wand standen. Und denen man sich nicht auf Hörweite nähern konnte, ohne dass es bemerkt wurde. Sie setzten sich. Werheim zog einen Umschlag aus der Mappe.

„Weshalb wir Sie sprechen wollten, ist schnell gesagt.“ Er machte eine Pause und ließ den Blick versonnen über die Regalreihen gleiten, als wollte er wieder zu seinem Lieblingsthema zurückkommen, schien sich dann aber eines Besseren zu besinnen. Westermann war durchaus aufgefallen, dass der Unbekannte vom ‚Ich‘ ins ‚Wir‘ gewechselt war. Seine Stimme nahm völlig unerwartet einen schrofferen Ton an, der Westermann zusammenzucken ließ. Ein Ton, der hart, aber immer noch lange nicht jenseits aller Höflichkeit war, sondern die Verbindlichkeit eines Warnschilds hatte. „Wer meine Auftraggeber sind, ist völlig egal, lieber Herr Westermann. Was Sie tun, tun Sie nicht für uns, sondern machen das, weil Sie völlig überzeugt von der Sache sind. Es ist nichts, was Sie mit dem Gesetz in Konflikt bringen würde, auch das muss Ihnen klar sein, Herr Westermann.“ Dem Angesprochenen fröstelte es. Er wollte weg, nur weg von diesem Ort, ahnte aber auch instinktiv, was dann passieren würde. Seitdem er mit elf Jahren vor seiner Mutter strammgestanden hatte, nachdem die entdeckt hatte, dass er ihr eine Fünf in Mathe unterschlagen wollte, hatte er sich nicht mehr so klein und ausgeliefert gefühlt wie jetzt. Nicht einmal vor seinem ersten Sachstandsbericht im Bundeskabinett.

„Ich habe einen kleinen USB-Stick für Sie“, fuhr der Unbekannte fort. „Auch damit haben Sie keinerlei Schwierigkeiten. Er enthält lediglich für Sie einige, nun ja, nennen wir es Ideen, welche Meinung Sie bei Debatten, Kabinettrunden und anderen Dingen, in denen Sie Entscheidungsbefugnisse haben, vertreten werden. Eine kleine Arbeitsanweisung, sozusagen. Es gibt auch einige interessante Meinungsansätze, die Sie bei Gesprächen mit dem Bundeskanzler vertreten sollten.“ Westermann fuhr zusammen. „Wie bitte …?“ Er schüttelte verständnislos den Kopf, wollte nicht gehört haben, was er gerade offenbar zu hören geglaubt hatte. „Das ist …“ Er suchte nach Worten. „… unerhört! Wer zum Teufel sind Sie, dass Sie meinen, Sie könnten mir …“ Doch der andere legte beschwichtigend seine Hand auf Westermanns Arm und zischte mäßigend, bevor er mit ruhiger Stimme fortfuhr. „Lieber Herr Westermann, relaxen Sie doch. Noch mal: Wer wir sind, hat Sie vorerst nicht zu interessieren. Und am Ende des Tages werden Sie vielleicht sogar noch froh sein, Teil des Ganzen zu sein.“

Der Mann wartete einen Augenblick ab und sprach dann weiter. „Auch das noch mal: Nichts davon wird Sie mit dem Gesetz in Konflikt bringen, lieber Herr Westermann.“ Er öffnete den Umschlag und entnahm ihm eine Reihe von Fotos. Schwarz-weiß. Grobkörnig und ohne Zweifel aus großer Distanz aufgenommen. „Das hier schon.“ Werheim blätterte sie genüsslich durch, scheinbar nur zu seinem eigenen Vergnügen und mit dem gleichen milden Lächeln, mit dem man Fotos eines besonders schönen, lange zurückliegenden Urlaubs durchblättert. Westermann erkannte das Motiv sofort – es war bei allen Fotos in leichten Varianten das gleiche – und erschrak. Er erinnerte sich an den fernen Moment vor vielen Jahren. Der Junge hatte nichts gesagt. Auch nicht, als ihm, Westermann, die Hand ausrutschte. Und dann noch mal, wieder und wieder. Er war die andere Person auf dem Foto, er war es ganz eindeutig, niemand würde etwas anderes behaupten können. Zwar ein paar Jahre jünger und, nun ja, etwas sportlicher, aber es bestand kein Zweifel. Er würde, sollte er dafür jemals zur Rechenschaft gezogen werden, auch bei einer polizeilichen Vernehmung nicht bestehen. Westermann würde sich keinesfalls herausreden können. Sie waren offenbar damals bereits dabei, wer auch immer sie sein mochten. Und er hatte nichts davon bemerkt. Es war doch nur dieses einzige Mal! Die Lust, Schmerz zuzufügen und die Hilflosigkeit des Jungen auszunutzen, dieses einmalige Gefühl von Macht, es war alles zu stark. Er hatte sich nicht zurückhalten können, hatte noch nie so ein Gefühl des Triumphes gespürt. Und nie, niemals danach, war etwas Vergleichbares mit ihm geschehen. In den Tagen danach hatte sich Westermann vor sich selber geekelt, in seinen dunkelsten Stunden tat er es bis heute. Es hatte nicht viel gefehlt und er hätte das Kind getötet. Was der Junge seinen Eltern erzählt hatte, war nie herausgekommen.

 

„Wäre doch schade um dieses große politische Talent, meinen Sie nicht auch?“, fuhr Werheim unbekümmert fort, ohne sein Lächeln einzustellen. „Stellen Sie sich mal vor, Herr Westermann: Ihre Frau sieht das. Yvonne, nicht wahr? Wollten Sie ihr nicht gerade ein schönes Geschenk suchen? Oder der Bundeskanzler? Was würde der dazu sagen? Ihr Chef! Oder …“ Wieder blickte er versonnen die Reihe von Büchern an. „… die Damen und Herren der Hauptstadt-Korrespondenz? Nun? Können Sie sich die Schlagzeile vorstellen?“

Westermanns Stimme war ein heiseres Krächzen. Sie wussten sogar, dass er offiziell hier auf Geschenksuche war. Jeder Wille zum Protest war gebrochen. In seiner Magengegend breitete sich Übelkeit aus. „Was wollen Sie, Sie verdammtes Arschloch? Und wer zum Teufel sind Sie?“ Wieder lächelte der andere, die Beleidigung überhörend. Der Blick schien in eine weite Ferne gerichtet. „Wie schon gesagt, wer wir sind, hat Sie erst mal nicht zu interessieren. Sie kümmern sich jetzt um das hier.“ Mit einer einzigen raschen Handbewegung wanderte ein kleiner Gegenstand in Westermanns Hand. Es war der USB-Stick, Westermann fühlte es, ohne hinzusehen. Die Geste war gleichzeitig ein Händeschütteln zum Abschied. Die Aufnahmen verschwanden wieder in der Aktenmappe. Westermann war viel zu benommen, um irgendetwas anderes machen zu können, als passiver Zuschauer der Szene zu sein. „Bis heute Abend um 21 Uhr haben Sie das Ding in Ihren PC gesteckt. Wir sehen das dann, es wird sich bei uns melden. Sie finden, wie bereits gesagt, darauf nichts, was Ihnen schaden könnte, da müssen Sie uns schon vertrauen. Allerdings finden Sie die besagte Liste mit Ideen für Ihre Meinungsfindung. Sieht ganz normal aus, als hätten Sie sich Notizen gemacht. Eines unserer kreativen Nachwuchstalente hat sich sogar die Mühe gemacht, Ihnen zu jedem einzelnen Thema ein paar Presseberichte beizufügen. Sieht wirklich so aus, als wäre das Ihre persönliche Ideenwerkstatt, sogar Ihren Duktus haben wir gut kopiert, für den Fall, dass Sie doch auf dumme Gedanken kommen. Und wenn Sie denken, dass hier gerade etwas stattfindet, gegen das Sie Anzeige erstatten müssten: Nur zu! Sie werden schon sehen, was Ihnen dann blüht. Ansonsten freuen wir uns auf die gute Zusammenarbeit.“ Werheim blickte wieder genüsslich auf die Bücher. „Denken Sie immer dran, lieber Herr Westermann: Es wurden ganze Länder und Ozeane erfunden, wenn es um die Darstellung der eigenen Lebensleistung geht. Denken Sie an Ibn Battuta und lernen Sie von der Weisheit vergangener Forscher!“ Der Mann blickte auf seine Armbanduhr, eine elegante Longines, erhob sich, machte zwei Schritte rückwärts und deutete kurz eine Verbeugung an wie ein Palastdiener, der sich von einem Herrscher entfernt, dann drehte er sich um und verschwand zwischen den Regalreihen, ohne sich ein weiteres Mal umzuwenden. Westermanns Knie waren zu schwach zum Aufstehen, ihm wurde schwarz vor Augen.

Der Mann, der sich Werheim nannte, eilte durch den Hauptausgang und war unter den Arkaden zwischen den Säulen und einer großen Touristengruppe schnell in der Menschenmenge verschwunden. Es war höchste Zeit. Selbst wenn Westermann die Kraft gehabt hätte, ihn zu verfolgen, hätte er ihn rasch verloren und nicht gesehen, wie der Unbekannte die Treppe hinab zum U-Bahnhof Friedrichstraße verschwand. Dort stieg er in eine gerade mit Getöse einfahrende U-Bahn in Richtung Alt-Tegel ein. Alles lief minutengenau nach Plan. Geduldig wartete er, bis sich das Knäuel der Wartenden von den Aussteigenden gelöst hatte, und bestieg dann selbst den gelben Waggon. Drinnen musterte er aufmerksam die dort sitzenden Fahrgäste. Am Ende des Wagens nahm ein Mann mit Frank-Sinatra-Hut und großer Sonnenbrille seine Tasche von Sitz gegenüber und nickte ihm zu. Es waren noch reichlich andere Sitzplätze frei, doch Werheim setzte sich auf den angebotenen Platz. Der U-Bahn-Zug hielt an der nächsten Station und das Spiel des Aus- und Einsteigens von Fahrgästen wiederholte sich, als Werheim eine Berliner Morgenpost aus der Aktenmappe nahm und sie aufschlug. Sie hatten diese Geste abgesprochen. Schließlich kündigte ein Gong und eine blechern klingende Lautsprecherstimme die Einfahrt in die Haltestelle Naturkundemuseum an. „Er hat angebissen“, sagte Werheim tonlos. Sein Gegenüber reagierte nicht. Werheim sah sein eigenes Spiegelbild in den großen dunklen Brillengläsern. Augenblicke vergingen. Dann sprach der Mann schließlich doch. „Gut. Steigen Sie hier aus. Machen Sie sich unsichtbar.“ Die Aktenmappe wechselte ihren Besitzer. Nach einem weiteren Augenblick, als Werheim bereits im Aufstehen begriffen war, fügte der andere noch hinzu: „Gute Arbeit. Wenn wir Sie wieder brauchen, lassen wir es Sie über den üblichen Kanal wissen. Die Uhr können Sie behalten“ Werheim nickte, wandte sich der sich mit einem Druckluftzischen öffnenden Tür zu und stieg aus. Sein Job war getan. Helles Tageslicht und tobender Straßenverkehr umfing ihn, als er die Treppen aus dem U-Bahn-Hades zur Chausseestraße hochstieg. Eigentlich war dies nur eine Verlängerung der Friedrichstraße. Doch Werheim, der in Wirklichkeit Bertram Kortes hieß und alles andere als das war, was er gerade dargestellt hatte, kam es vor, als wäre es eine andere Stadt. Er blieb kurz stehen. Jetzt einen Espresso. Am liebsten noch einen kleinen Schluck von irgendetwas Hochprozentigem. Er wollte versuchen, nun zunächst an die schöne Summe Geld zu denken, die ihm für sein kleines Bühnenstück, das er gerade abgeliefert hatte, bereits vor zwei Tagen überwiesen worden war. Vielleicht würde er sich von dem Geld den großen Atlas historischer Seekarten gönnen, den er sich von seinem normalen Gehalt als Kleinkünstler und gelegentlicher Filmstatist niemals würde leisten können, denn das war er tatsächlich auch in der Wirklichkeit: Ein Liebhaber klassischer Reiseberichte und antiker Karten. Wenn er die Uhr versetzte, in deren Besitz er nun überraschend gekommen war, kam bestimmt noch viel mehr zusammen. Er hatte keine Ahnung, was auf dem Markt für so einen Wecker zu erzielen war. Es war ja schließlich für eine Sache, der er sich problemlos mit seiner Meinung anschließen konnte, soweit er darüber Bescheid wusste, oder etwa nicht?

Kortes entdeckte ein kleines, namenloses Café, wie es sie hier in Berlin auf halber Strecke ins Problemviertel Wedding viele gab. Sie existierten ein paar Wochen, wenn sie ein Publikum fanden, dem der Laden gefiel, vielleicht auch etwas länger, wenn der Kaffee fair gehandelt und ökologisch einwandfrei, also dem Geschmack des Berliner Publikums zugeschnitten war. Eines Morgens waren dann doch die Scheiben mit Zeitungspapier verklebt. Kortes bestellte einen doppelten Espresso. Und … er zögerte noch … einen Grappa. Die langhaarige Aushilfskraft mit Rastamähne und sichtbarem Hang zu alternativen Lebensstilen führte die Bestellung ohne eine einzige Gefühlsreaktion aus. Kortes wählte einen Platz am Fenster, von dem er die Straße beobachten konnte. Doch, dachte er sich. Heute war zweifellos ein guter Tag.

Kapitel 4

Billie Holiday beklagte mit ihrer von Drogen zerstörten Stimme, dass sich ihr Liebhaber geändert habe, das Strahlen aus seinen Augen verschwunden und sein Lächeln nur noch ein gedankenloses Grinsen sei, während Kleine bereits den dritten Single-Malt in die schweren geschliffenen Gläser goss. Emde lehnte sich zurück, genoss die Musik, obwohl er eigentlich kein Jazzfan war. Er mochte dennoch die besondere Atmosphäre in Kleines Hütte. Die Schirmlampen verströmten ein warmes Licht, aus den Holzwänden war durch den Temperaturunterschied zwischen drinnen und draußen ein leichtes Knacken zu hören.

Emde hatte André Grimmelmann tatsächlich auf dessen Hof angetroffen. Vom Tod des Bankvorstands hatte dieser schon gehört. Erstaunlich, wie schnell sich manche Neuigkeiten dann doch verbreiten, ohne dass man etwas davon mitbekommt, hatte Emde gedacht. Und nein, natürlich hatte Grimmelmann ein Alibi für den Zeitpunkt des Todes und hätte auch gar nicht vor Ort sein können. Das einzige Transportmittel der Familie, ein betagter VW-Bus, bereits schrottreif aus Bundeswehrbeständen gekauft, die Bataillonsabzeichen notdürftig mit grüner Farbe übertüncht, war derzeit nicht fahrtüchtig. „Was willst du?“, hatte ihn Grimmelmann mit einem gereizten Ton gefragt. „Glaubst du etwa, dass ich den Typen erledigt habe? Manchmal denke ich, ich könnte es wirklich tun.“ Vor einiger Zeit hatte er im Eifer eines Streits im Rahmen einer öffentlichen Diskussion tatsächlich gepoltert, bei Typen wie Lieberknecht könne jeder rechtschaffene Bürger nur noch zur Waffe greifen. Lieberknecht hatte daraufhin durch seine Anwälte eine Strafanzeige prüfen lassen, doch davon war ihm abgeraten worden. Grimmelmann kam ungeschoren davon. Natürlich war Emde sich darüber im Klaren, dass Grimmelmann weder finanziell in der Lage war, einen Auftragsmörder zu engagieren, noch so eine Tat selbst zu vollbringen. Ein solcher Umweltfreund, der sich schon scheut, eine Herde Kühe über die Straße zu treiben, um deren Seelenfrieden nicht zu stören, ballert einem Banker doch nicht das Gehirn an die Lattenwand. Für gewöhnlich wollen solche Leute auch nichts mit einer solchen Tat zu tun haben. Und dennoch: Dieser wilde Blick in Grimmelmanns Augen und die Tatsache, dass er genau wie dessen Frau den Tod Lieberknechts kein Stück weit bedauerte, hatten Emde frösteln lassen.

Umso wohler war ihm nun bei der Wärme des Whiskys und der Glut von Billie Holidays Stimme. Emde würde zwar nie so ein Jazzfan wie Kleine werden. Ein Discofox mit seiner Frau Susanne zu Musik von Helene Fischer, wenn unten in der Festhalle wieder gefeiert wurde, das war schon eher nach seinem Geschmack. Aber andererseits hatten die Songs der Ausnahmesängerin aus den USA etwas Außergewöhnliches, dem er sich nicht entziehen konnte, wann immer Kleine die Platte auflegte. Beim Durchstöbern durch Kleines Plattensammlung hatten sie vor einigen Jahren in einem Album von Al Jarreau tatsächlich eine gemeinsame Schnittmenge gefunden. Für Kleine gerade noch Jazz genug, war die Musik des amerikanischen Stimmakrobaten für Emde schmusiger achtziger Jahre Pop, an den er sich noch gut erinnern konnte.

Emde hatte dem Journalisten inzwischen weitere Details des mutmaßlichen Mordes berichtet. Der ehemalige Pressemann räusperte sich, Emde sah fragend auf. „Was mir keine Ruhe lässt: Es gibt zig Möglichkeiten, eine unliebsame Person aus dem Weg zu räumen, ohne dass es direkt nach Mord aussieht. Du kannst es wie einen schiefgegangenen Raubüberfall aussehen lassen, du kannst ihn von der Straße abdrängen an einer Stelle, an der sichergestellt ist, dass er nicht überlebt. Du kannst ihn mit Worten töten, ihn lächerlich machen und jeder Ehre berauben. Bei solchen Kerlen ist auch das genau so, als würdest du sie töten. Dann bist du den entsprechenden vermeintlichen Widersacher los, aber hast auch nicht sofort Ermittlungen am Hals. Denn die andere Seite muss ja zuerst darauf kommen. Was ich mich wirklich frage, ist: Warum wird er von einem Profi erschossen – und es soll auch genauso aussehen?“ Kleine blickte Emde über den Tisch an. Der erwiderte den Blick und zuckte mit den Schultern. „So, als wäre die Tat auch gleichzeitig eine Warnung: Passt bloß auf, die Ihr noch lebt und Ähnliches vorhabt.“ Emde nickte bedächtig. Der Gedankengang hatte etwas für sich und tatsächlich hatte er diesen Aspekt noch gar nicht bedacht. Schande! Er suchte nach Worten, er drang nur äußerst ungern in die Vergangenheit seines Freundes ein, von der er längst nicht alles wusste und auch ganz froh darüber war. „Nur, weil du vielleicht mit so etwas Berührung hattest: Gibt es eigentlich bei Streitkräften die Pflicht, nachzuhalten, was ihre ehemaligen Angehörigen, die … nun ja, sagen wir mal, besondere Kenntnisse erworben haben, in ihrem weiteren Leben machen? Du weißt schon, so wie etwa bei der Luftwaffe sicherlich eine Akte darüber geführt wird, wenn ein ehemaliger Transallpilot bei einer Lufttransportgesellschaft anheuert.“ Kleine blickte in die Lichtreflexe, die eine Kerzenflamme durch das kunstvoll geschliffene Glas in seinen Whiskey warf. Er wusste, auf was für eine Vergangenheit der Polizist anspielte. „Oder ob ein ehemaliges Mitglied einer Spezialeinheit mit einer Ausbildung zum Scharfschützen jetzt bei Douglas als Kosmetikberater arbeitet und nach Feierabend möglicherweise noch seinem ursprünglichen Job nachgeht, so etwas meinst du doch …?“ Emde nickte ernst ohne jeden Anflug von Humor. Ihm war nicht zum Lachen. Er wusste in Bruchstücken, dass Kleine während seiner Reisen durch den Nahen Osten gute Kontakte zu den dortigen Streitkräften aufgebaut hatte, vielleicht immer noch besaß. Und zumindest zu diesem Thema mehr wusste, als der Wehrdienstverweigerer Emde. Kleine schmunzelte, schüttelte den Kopf und schnalzte missbilligend mit der Zunge. „Du meinst ja wirklich weiß Gott, von was ich alles Ahnung haben müsste. In diesem Fall kann ich es dir tatsächlich nicht sagen. Sicherlich wird das je nach Nation unterschiedlich gehandhabt. Müsste man mal genau recherchieren.“ Er nippte an seinem Glas. „Aber das geht bestimmt nicht, ohne dass es Aufsehen erregt. Es sei denn, man fragt als hohes Tier unter dem Siegel der Verschwiegenheit im Verteidigungsministerium nach.“ Kleine sah Emde an. „Etwa, wenn dein oberster Dienstherr der Landespolizei in Berlin anrufen und um Amtshilfe auf dem kleinen Dienstweg bitten würde. In deinem Auftrag.“ Die beiden Männer lachten kurz, dann wurde Kleine ernst. „Anderes Thema jetzt.“ Er zögerte noch. „Hast du die Schmiererei oben am Stromverteiler gesehen? Am Ortsausgang neben der Bushaltestelle?“ Kleine war sie aufgefallen, als er von seinem Termin in Bad Arolsen zurückgekehrt war. Schon seit ewigen Zeiten stand dort ‚Nazis raus!‘ in Großbuchstaben mit einem Edding geschmiert. Niemand hatte sich bis jetzt daran gestört. Die Botschaft, die dort transportiert wurde, schien niemanden zu erregen. Warum auch? Nun hatte jemand ‚Nazis‘ durchgestrichen und durch ein ‚Juden‘ ersetzt. Das Gebilde darüber sollte offenbar einen Davidstern zeigen, doch die künstlerischen Fähigkeiten und das Allgemeinwissen des unbekannten Schmierers waren im Dilettantismus versickert – der Stern hatte nur fünf Zacken. Und das erregte zumindest Kleine. Emde scheinbar auch, denn der Bulle schüttelte nun mit dem Kopf. „Auch hier? Ich fasse das nicht!“ Sein Blick zeigte tiefe Ungläubigkeit. Es konnte sich nur um einen Täter von Auswärts handeln, der an der nahen Bushaltestelle gewartet hatte. Die Leute aus dem Dorf hätten diese Angelegenheit unter sich geregelt. Er würde es morgen melden müssen. Damit hatte auch die Gemeinde Diemelsee ihren ersten Fall von antisemitischen Schmierereien, wie sie im Rest der Republik immer mehr zum unkommentierten und nicht mehr hinterfragten Tagesgeschehen wurden. Auch dieser Fall würde nicht wirklich ernsthaft weiterverfolgt werden. Wer weiß, wer am Ende dahintersteckte? Etwas Empörung, das würde es dann auch schon sein. Sicher nur ein Lausejungenstreich. Emde wusste um die schreiende Ungerechtigkeit. Und er wusste auch, dass dagegen nichts zu machen war. Der Ermittler holte tief Luft. Es wurde wirklich Zeit, dass sie das Thema wechselten und diesen unerfreulichen Fall Lieberknecht aus dem Kopf bekamen. Zumindest für den heutigen Abend. Der nächste Titel von Billie Holiday war schon düster genug.

 

Die Nachricht kam mitten in der Nacht. Einer von Kleines früheren Kollegen aus der Zeit des Volontariats, der nun in der Redaktion einer großen Tageszeitung mit Sitz in Frankfurt arbeitete, hatte sie gesendet. Offenbar hatte er in dieser Nacht Spätdienst und offenbar war – um eine rechtzeitige Reaktion der Konkurrenz zu vermeiden – kurzfristig der Andruck verschoben und diese Meldung auf der Titelseite eingefügt worden. Kleine blickte auf das Display seines Handys und erschrak. „Ist das nicht bei euch da oben?“ las er. Dazu eine abgescannte Kurzmeldung über den Tod von Carl Lieberknecht, der mutmaßlich während eines Jagdaufenthalts am Diemelsee einem Mord zum Opfer gefallen war. Die Meldung war bereits im Druck, die Nachricht nicht mehr einzufangen. Kleine fluchte.

„Scheinbar konnte da jemand die Klappe nicht halten. Entweder bei Lieberknechts Haufen. Oder eben bei euch.“ Emde war nach dem vierten Anruf schließlich wach geworden und ans Telefon gegangen. Er atmete tief durch und ignorierte Kleines nur dürftig getarnte Anschuldigung. Für seine Kolleginnen und Kollegen bei der Kripo legte er die Hand ins Feuer. „Oder es war unser Naturfreund Grimmelmann, der hatte auch schon Wind von der Sache bekommen“, brachte er einen weiteren Verdacht ins Spiel und ärgerte sich, dass er den Lokalpolitiker so weit über den mutmaßlichen Mordfall in Kenntnis gesetzt hatte. Nun gut, würde er ihn sich also morgen nochmals vorknöpfen. „Was meinst du können wir jetzt tun, außer die Staatsanwaltschaft zu informieren?“ Kleine war überrascht, dass die Frage an ihn gerichtet gewesen war. Normalerweise hätte er sie stellen müssen. „Bin ich bei den Bullen oder du?“, antwortete er mürrisch. Er klickte sich inzwischen durch die Nachrichten im Internet und seine E-Paper-Zeitungen. Doch bis dahin war die Nachricht des toten Bankvorstands noch nicht vorgedrungen. Dafür gab es wieder einen Anschlag in Jerusalem, dessen Berichterstattung seine Aufmerksamkeit beanspruchte. Emde beantwortete die Frage für sich selbst: „Vielleicht ist es besser, wenn wir uns wieder aufs Ohr legen. Man weiß ja nie, wann man das nächste Mal dazu kommt.“ Genau, dachte Kleine und verabschiedete sich, es ist wie im Krieg. Du musst schlafen, wenn du die Chance hast, den Zeitpunkt dazu selbst festzulegen.

Er las weiter, was in Israel geschehen war. Seine Gedanken schweiften weit ab zu fernen Erinnerungen. Unzählige Bilder und Empfindungen, Gerüche, Farben und Geräusche traten in sein Bewusstsein. Israel! Ein Attentäter mit einem Messer hatte am Abend zuvor eine Gruppe italienischer Touristen in einer Gasse hinunter zum Löwentor im arabischen Teil der Stadt angegriffen und zwei Senioren, ein altes Ehepaar, erstochen. Sicherheitskräfte hatten den Mann noch an Ort und Stelle erschossen. Was für eine verfluchte Scheiße! Da lebst du dein ganzes Leben gemeinsam zusammen und freust dich, zum Ende deiner Tage auf Erden, auf eine Pilgerreise ins Heilige Land – und dann kommt das Ende schneller als gedacht und du liegst gemeinsam mit deiner Partnerin beim Gerichtsmediziner in der Edelstahlwanne. Und dennoch, dachte Kleine: Es gibt kein Land auf der Welt, in dem er so sehr das Gefühl hatte, nach Hause zu kommen, wann immer er auf dem Flughafen Ben Gurion in Tel Aviv landete. Die Hektik in den Gassen der Altstadt, andererseits wiederum die stillen Teestuben im arabischen Viertel an einem kühlen Herbstmorgen, bevor die Sonne den Wüstendunst besiegt und über den Ölberg steigt, die zahllosen Ecken – Kleine kam es oft so vor als würde die Altstadt von Jerusalem mit ihren engen Gassen nur aus Ecken bestehen; aus Ecken, einigen Toren und vielen verschlossenen Türen. Die ruhigen Vororte wie Rehavia im Westen mit ihren Vorgärten, den Zypressen und dem Summen der Zikaden im Sommer schienen das genaue Gegenteil dazu. Dann der schrille Glanz des wertlosen, meist in Fernost gefertigten Plunders in den Souvenirshops der Altstadt und die Kunst der Händler, diesen feilzubieten als wäre jede beleuchtete Jesusfigur, jedes Holzkreuz aus Olivenholz, jede Blechmenora und jeder Plastikrosenkranz eine Reliquie für sich; dagegen die unmittelbar spürbare ungestüme Kraft der Schöpfung auf einer Fahrt aus den Bergen herab an die Ufer des Toten Meeres und schließlich der Blick von der Felsenfestung Masada über das Tote Meer hinüber nach Jordanien und nicht zuletzt die Menschen, ihre ruppige Freundlichkeit, die sich erst auf den dritten Blick oder manchmal auch gar nicht zeigte, die fremden Geschmacksrichtungen der israelisch-arabischen und dagegen die vermeintliche Vertrautheit der jüdisch-israelischen Küche.