Krawattennazis

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Er musste an Aviva und ihren Mann denken. Der Gedanke an Aviva war für Kleine stets, als würde er eine Seite eines alten Tagebuchs mit fernen Erinnerungen voller Wehmut aufschlagen. Aviva Blauton, wie sie inzwischen hieß, war Sprecherin der Streitkräfte, als sie sich bei einer seiner Reisen kennengelernt hatten. Damals war sie noch nicht verheiratet. Inzwischen hatte sie in der Politik Karriere gemacht, war aber Reserveoffizierin geblieben – in Israel beinahe Pflicht, wenn man sich für höhere politische Ämter empfahl. Avi war seit vier Jahren Knessetabgeordnete und seit zwei Jahren ständiges Mitglied im Komitee für Auswärtige Angelegenheiten und Verteidigung. Ihr Mann Yossi, ein deutschstämmiger Nachkomme von Holocaust-Überlebenden, war wie er Journalist. Die Blautons vereinte ein großes, freiheitliches und für alles offene Weltbild. Aviva war Mitglied bei HaBeit Shalom, den unverbrüchlich an die Möglichkeit einer Zweistaatenlösung und einer friedlichen Koexistenz glaubenden Liberalen des Landes, Yossi war Kulturredakteur bei der Haaretz. Kleine hatte erst neulich einen Onlinebericht von ihm gelesen. Seine Redaktion hatte ihn tatsächlich dazu gebracht, ein Konzert von Motty Steinmetz zu besuchen, eines in Israel sehr populären und begnadeten, jedoch ultraorthodoxen Künstlers, der die Meinungen teilte wie das Schwert Simeons. Yossi liebte ebenso wie Kleine Klassik und Jazz. Kleine konnte sich vorstellen, dass der Abend für ihn die Hölle gewesen sein musste. Es war dem Bericht jedoch nicht anzumerken. Großes Journalistenkino.

Kleine war auch nach seiner damaligen Reise mit den beiden in Kontakt geblieben, denn sie verband auch vieles, an das er lieber nicht zu oft dachte. Aber inzwischen hatten sie schon lange nichts mehr voneinander gehört. Was für sich betrachtet eigentlich ein Grund zum Feiern war. War nicht bald Jom Kippur? Eine gute Gelegenheit, mal einen längeren Grußbrief zu schreiben. Eretz Israel – Gelobtes Land. Es gibt nichts, dachte Kleine, das sich damit vergleichen ließe – trotz der vielen anderen Erinnerungen, die ich mit diesem Land verbinde, die alles andere als ein Reisetraum sind. Oder vielleicht gerade deswegen? Kleine musste an etwas anderes denken, an das er nicht denken durfte und verbot sich den Gedanken sofort. „Je weniger er in meinem Bewusstsein ist, umso besser.“

Der Aufmacher der Seite fiel ihm erst danach ins Auge: Bundeskanzler Magilsky hatte durch seine Regierungssprecherin weitere Verschärfungen im Umgang der Verfassungsbehörden gegenüber den Reichsbürgern verkünden lassen. Unbewusst nickte Kleine in stiller Zustimmung. Seitdem Magilsky das Erbe von Angela Merkel angetreten hatte, hatte sich einiges getan. Es hatte zwei weniger glückliche Nachfolger der großen Kanzlerin gegeben, die, von der Opposition rasch bedrängt, über ihre Vergangenheit oder törichte Aussagen vor offenen Mikrofonen gestolpert waren oder sich einfach zu provinziell in einem Amt verhalten hatten, in dem Staatskunst und Weitsicht unverzichtbar waren. Eine weitere Anwärterin für den Chefposten im Kanzleramt hatte freiwillig verzichtet, nachdem ihr Mann mehr als fünfhundert Postkarten mit Hassbotschaften und Rücktrittsermutigungen aus dem heimischen Briefkasten gezogen hatte. Es war in den vergangenen Jahren im Zuge der Coronakrise plötzlich chic geworden, dem eigenen Unmut nicht mehr per Twitter, Facebook oder Instagram Luft zu machen, sondern ganz traditionell per Postkarte. Es war sogar möglich, über private Netzwerke ‚Hater‘ zu engagieren, die diesen Job dann als Auftrag übernahmen.

Magilsky schien im Vergleich zu seinen Amtsvorgängern clean zu sein. Und zeigte Schneid. Zumindest auf den ersten Blick. Eine ziemlich nationalistisch, in Teilen bereits rechtsextrem angehauchte Partei, die damals auf einer Welle orientierungsloser Begeisterung in den Bundestag gespült worden war, war seitdem kaum noch wahrzunehmen und hatte sich mit einer geradezu idiotischen Pannenserie mit fehlgeleiteten Tweets, dümmlichen Statements und merkwürdigen Pressekonferenzen selbst ins politische Aus gespielt. Nach langen Diskussionen hatte Magilsky den Tag der Deutschen Einheit wieder zu einem gewöhnlichen Werktag zurückverwandelt. Die Länder hatten inzwischen so viele eigene Feiertage, dass es einen breiten Konsens gegeben hatte, diesen Tag zu opfern. In den vergangenen Jahren war er sowieso nur noch eine Einladung an Autonome gewesen, in Berlin und anderen Städten zu immer heftigeren Straßenschlachten anzutreten. Nachdem die Gewerkschaft der Polizei angekündigt hatte, ihr Personal nicht mehr dem giftigen Qualm brennender Autoreifen, Fäkaliengeschossen und Beschimpfungen aussetzen zu wollen und die Politiker es satt waren, bei jeder Rede zum Tag der Deutschen Einheit in einen Wald von Stinkefingern zu schauen und einem schrillen Pfeifkonzert zu lauschen, war es ein Leichtes, diesen Tag wieder abzuschaffen. Ost und West waren vereint. Nun, zumindest offiziell. Es gab wichtigere Gründe zum Feiern.

Dafür, dass er die Rechten das Fürchten gelehrt hatte, sparte Magilsky allerdings selbst nicht mit der gesamten Palette rechtskonservativer Sprüche. Damit war er an den rechten Rand seiner Partei gerückt und nahm den unverhüllten rechten Trotteln den Wind aus den Segeln. Kritiker, von denen es zu Kleines großer Bestürzung immer weniger zu geben schien, meinten jedoch, der Bundeskanzler befeuere ihre Meinung mit seinen derben Äußerungen noch, in denen oft von „klare Kante zeigen“ die Rede war. Es war Magilsky offenkundig gleichgültig, dass zur Not auch mit Hilfe von Polizeiverordnungen regiert werden konnte – Hauptsache, Sicherheit und Ordnung konnten gewährleistet werden. Wie Cato, der im alten Rom stets verkündet hatte, dass Karthago im Übrigen zerstört werden müsse, endeten Statements des Bundeskanzlers stets und geradezu inflationär mit einem Bekenntnis zu Demokratie, Freiheit und den Grundsätzen der Europäischen Union – und einer radikalen Kampfansage gegenüber allem, was nicht gesetzestreu war. Magilskys Reden waren so aufdringlich und eindimensional, dass man in den wenigen Hauptstädten, in denen die EU noch etwas galt, hellwach geworden war und argwöhnisch beobachtete, was da in Berlin so vor sich ging und wofür dieser junge Rising Star – Bundeskanzler Magilsky war gerade mal 37 Jahre alt – eigentlich stand. Europa war gut sechzig Jahre nach der Unterzeichnung der Verträge von Rom einfach nicht mehr en vogue. Immerhin, dachte sich Kleine, der junge Bundeskanzler, der selbst aus einfachen Verhältnissen im Ruhrgebiet stammte, hatte sich über mühsame Parteiarbeit hochgearbeitet. Aus dem Maschinenraum auf die Kommandobrücke, so stand es doch immer wieder so gerne in den Parteiveröffentlichungen.

Magilsky hatte, das musste man auch zugeben, neuen Wind in die abgeschliffenen und erodierten Machtbalancen der Parteienlandschaft gebracht. Vordergründig war er ein Machtmensch wie er im Buche stand, mit einem breiten Setzkasten aus Politphrasen. Aber die Rechnung ging auf: ‚Politiker‘ war in der Rangliste der unbeliebtesten Berufe auf dem ersten Platz abgelöst worden – von ‚Versicherungsvertreter‘. Die Leute trauten ihrer politischen Kaste wieder etwas mehr zu. In den letzten Tagen der Kanzlerschaft von Angela Merkel war das lange nicht so. Es hatte eine tiefe Kluft zwischen dem Wahlvolk und seinen Vertretern gegeben. Wobei sich Kleine sicher war, dass dieser Graben des Misstrauens noch lange nicht überwunden war und dass ‚Politiker‘ auch deswegen wieder verstärkt auf der Berufswunschliste vieler Heranwachsender stand, weil in einer breiten Mehrheit der Bevölkerung erkannt worden war, dass man sich in keinem anderen Berufsumfeld so gut vernetzen, so gut von Beziehungen profitieren – und schlussendlich durch die vielen verschiedenen Nebeneinkünfte sehr gut und unerkannt absahnen konnte.

Die politische Garde der nicht im Scheinwerferlicht Stehenden, vor allem die außerparlamentarischen politisch denkenden Intellektuellen, war nach wie vor so gefragt wie zuletzt zur Zeit der Wiedervereinigung, befand Kleine und mit ihm auch die meisten Kommentatoren der großen Tageszeitungen. Denn die Tendenzen von unverhohlenem Antisemitismus hatten seit der Bundestagswahl sogar noch stark zugenommen, und niemand, auch nicht Magilsky, schien diesem Treiben Einhalt gebieten zu können, scheinbar schon gar nicht der Verfassungsschutz, dem vorgeworfen worden war, selbst mit dem rechten Mob zu paktieren. Wobei auf der Straße und schließlich auch bei entsetzlich vielen Medien kaum mehr ein Unterschied zwischen Rassismus und Antisemitismus gemacht wurde – es war für viele in ihrer Unwissenheit schlicht das Gleiche. Kleine schämte sich, wenn er Bilder sah, die das Verbrennen von Flaggen mit Davidstern zeigten. Er schämte sich, wenn er von Parteiprogrammen las, die das Schächten von Tieren zu religiösen Zwecken verboten und damit ganz unverhohlen Juden wie Moslems gleichermaßen die Grundlagen zur Ausübung ihrer Religion entziehen wollten. Und als vor einigen Jahren die Coronawelle durch Deutschland lief und ihre Opfer forderte, als in den Randlagen der Großstädte mittellose Verstorbene in Massengräbern verscharrt werden mussten, weil die Behörden und Hilfsdienste überlastet waren, als Ausgangssperren verhängt und Lebensmittel knapp wurden, da geisterte beinahe unwidersprochen plötzlich der Vorwurf durch das Internet, nicht chinesische Schweigepolitik sei schuld an der Verbreitung der Pandemie, sondern das Weltjudentum. Kleine kam es nun, einige Jahre später, so vor, als wäre mit der entsetzlichen Pandemie auch der letzte Rest eines gemeinsamen Erinnerungsvermögens verschieden, denn die meisten Coronatoten waren Alte und Kranke, nicht zuletzt auch die Letzten der Generation, die sich noch aktiv an die Zeit des Zweiten Weltkriegs und des entbehrungsreichen Wiederaufbaus in den Jahren danach erinnern konnten. Es schien vielen der jüngeren Generationen beinahe egal, dass damit ein Kollektivgedächtnis Abschied genommen hatte. Kleine musste sich jedes Mal vor Scham schütteln, wenn er daran dachte.

 

Auch die Gefahr durch radikal motivierten Terrorismus war nicht gebannt, es war nicht bei dem einen verheerenden Anschlag am Berliner Breitscheidplatz im Jahr 2016 geblieben. Nach dem Anschlagsversuch eines Einzeltäters auf eine voll besetzte Synagoge in Halle, bei dem nur durch Glück und offenbar den Beistand Gottes lediglich zwei Tote zu beklagen waren, hatte es vor zwei Jahren einen schrecklichen Brandanschlag auf ein jüdisches Kulturzentrum in Berlin gegeben, bei dem vier Kinder verbrannt waren. Zwei der Kinder waren Gastschüler aus Aschkelon in Israel. Der Aufschrei in der Kleinstadt am Meer unweit des Gazastreifens war groß, der Protest gegen die deutsche Justiz, die offenbar nicht gewillt oder in der Lage war, die wahren Hintergründe aufzuklären, immens. Wieder waren junge Israelis in Deutschland auf grausame Weise ums Leben gekommen. Die Älteren erinnerten sich noch an das Attentat des Schwarzen September während der Olympischen Spiele 1972. Die neue Regierung Israels hielt sich allerdings, von diplo­matischen Protestnoten abgesehen, zurück.

Entsetzlicherweise war der Jubel in einigen Problemvierteln im Ruhrgebiet und in Sachsen als Reaktion auf die Tat größer gewesen als die Protest- und Solidaritätsbekundungen. Zwar wurden zwei muslimische Jugendliche festgenommen, die auch vor Gericht gestanden, das Feuer gelegt und die Fluchttüren versperrt zu haben. Doch es war schnell klar, dass es dabei auch Anstifter und Hintermänner gegeben hatte, deren Identität im Dunkeln blieb, denn die beiden Jungs hatten sich schnell in Widersprüche verwickelt. Sie konnten gar nicht über das Wissen verfügen, wie man die Sicherheitseinrichtungen und die Brandmeldeanlage schachmatt setzt. Und auch ein Untersuchungsausschuss stocherte nur hilflos im Dunklen. Es schien geradezu, als wolle die Politik die Schuldigen gar nicht finden.

Nachdem die Weihnachtsmarkttradition nach der Pandemie gerade wiederbelebt worden war, wurde im vergangenen Dezember wieder ein Weihnachtsmarkt Ziel eines Anschlags radikaler Islamisten. In Düsseldorf. Obwohl die Stadt durch verschiedene Anschlagspläne, die im Vorfeld aufgedeckt worden waren, eigentlich hätte vorgewarnt sein müssen und einiges zur Sicherheit der Einwohner und Besucher getan hatte. Doch die Mörder kamen dieses Mal nicht mit einem heranrasenden Lkw. Auch nicht mit einem Sprengstoffgürtel oder automatischen Waffen. Nein, diese Radikalen, ausnahmslos Konvertiten mit nicht-orientalischem Erscheinungsbild und daher unauffällig, wurden freundlich von den schwerbewaffneten Polizisten, die den Weihnachtsmarkt bewachten, durchgewunken. Sie näherten sich zum blinkenden gelben Licht ihres städtischen Fahrzeugs und in orangefarbenen Overalls die Straße kehrend im Schritttempo ihren Opfern, die ahnungslos vor den Hütten am Schadowplatz um Glühwein anstanden – und zündeten dann an der engsten Stelle ihren unter dem Müll auf der Ladefläche verborgenen Sprengsatz. Kleine hatte später mit einem ehemaligen Kollegen der Westdeutschen Gazette gesprochen, der zum Zeitpunkt des Anschlags gerade Redaktionsdienst hatte. Der Knall ließ noch in den Redaktionsräumen an der Königsallee, fast einen Kilometer entfernt, die Fenster vibrieren. Viele der Ersthelfer litten seitdem durch das, was sie am Tatort sahen, unter Albträumen. Die Druckwelle konnte sich wegen der engen Straßen nicht ausbreiten, das Blut war bis in den dritten Stock gespritzt, während aus den Lautsprechern Bing Crosby mit Christmas in Killarney weiter erklang:

The door is always open, and the neighbors pay a call. And father John, before he is gone, will bless the house and all.

Es war wirklich kein Deutschland, das einem derzeit Freude bereitete, dachte Kleine. Wenigstens hatte Bundeskanzler Magilsky nicht den Fehler seiner Vorgängerin Merkel wiederholt, er blieb ganz ein Mann des Volkes – und der Kameras, Blitzlichter und der Schlagzeilen der darauffolgenden Tage. Innerhalb einer Woche hatte es am Anschlagsort in Düsseldorf eine Gedenkfeier mit Kabinettsmitgliedern, dem Ministerpräsidenten, beiden Innenministern und den Angehörigen der Opfer gegeben. Magilsky hatte dabei Vätern, Müttern, Ehemännern und -frauen sowie plötzlich zu Waisen gewordenen Kindern mit ernster Miene beide Hände gedrückt. In Kommentaren der Tageszeitungen wurden Vergleiche mit dem Warschauer Kniefall Willy Brandts gezogen, wenn auch die Opposition machtlos gefaucht hatte, der Bundeskanzler würde die Leiden der Hinterbliebenen zu seinen Zwecken instrumentalisieren. Aber bei den Bürgern kamen die Bilder an.

Kleine ging in die Küche und goss sich heißes Wasser in einen Becher mit Instantkaffee. Wenn er jetzt schon wach war, konnte er ebenso gut etwas Musik hören und dem neuen Tag auf dem Sofa im Wohnzimmer entgegendämmern. Er öffnete kurz das Wohnzimmerfenster und ließ einen Schwall kühle Nachtluft ins Zimmer. Die meisten Straßenlaternen im Dorf wurden um Mitternacht vom Stromnetz genommen, die Nacht draußen war stockdunkel wie in einem Gebrüder-Grimm-Märchen. Er wählte eine Platte von Antonio Carlos Jobim und setzte vorsichtig die Nadel auf den Tonträger. Er versuchte, noch den ersten Bossa Nova-Klängen zu lauschen, doch bereits nach wenigen weiteren Akkorden war er weggeschlummert, während der Kaffeebecher lautlos vor sich hin dampfte.

Kapitel 5

Einen noch mehr an Spionageromane erinnernden Treffpunkt hätten sie sich nicht aussuchen können, dachte der jüngere Mann. Ein Parkplatz an einem Waldrand. Ein großes Hinweisschild zeigte eine Karte mit einem Muster bunter Wanderwege.Nach Süden hin verschwanden weite Felder im dichten Dunst des frühen Morgens. Die Umrisse einer Viehtränke waren neben einem Zaun gerade noch auszumachen. Sie warteten nun schon geraume Zeit. Er blickte verstohlen auf seine Armbanduhr. Schon fast eine Dreiviertelstunde! Da sie den Motor des Autos, in dem sie warteten, ausgeschaltet hatten, kroch langsam die Kälte ins Fahrzeuginnere. Auf der Zufahrt zum Parkplatz regte sich etwas. Es schien wie waberndes Licht, aus dem ein Scheinwerferpaar herauswuchs. Na endlich! Der junge Mann musterte mit einem kurzen Seitenblick die Frau auf dem Beifahrersitz rechts von ihm, doch die starrte mit einem entrückten Blick geradeaus. Sie scheint noch nicht einmal zu bemerken, dass unser Besuch anrückt. Nicht zum ersten Mal an diesem Morgen fragte sich der Mann, was er da eigentlich machte. Das andere Auto, ein neuer BMW in einer in diesem Morgenlicht unmöglich festzulegenden Farbe, beschrieb einen Halbkreis und kam dann etwa 20 Meter vor ihrem Fahrzeug zum Stehen. Ein Mann stieg aus, Managertyp, hoch aufgeschossen, kurze Haare, Anzug und Kurzmantel. Er ging um seinen Luxusschlitten herum, fischte eine Zigarette aus einem Metalletui, etwas, das der junge Mann nur aus alten Filmen kannte, und zündete sich die Zigarette an. Doch bereits nachdem er nur zwei, drei Mal mit sichtbarem Genuss den Rauch inhaliert hatte, warf er die Zigarette zu Boden und trat sie mit dem linken Fuß, dem linken, aus. Das Signal: Es war alles in Ordnung, sie wurden nicht überwacht. Die Frau neben ihm öffnete bereits die Wagentür und stieg aus. Sie und der Manager schienen sich zu kennen, sie traten aufeinander zu und umarmten sich kurz. Auch der junge Mann stieg aus. Die Worte wurden nur geflüstert, die Information, wegen der sie so früh an diesem gottverlassenen Ort sein mussten, schien bereits ausgetauscht. Er hörte nur „… sehr zufrieden … absolut unvermeidlich … abwarten!“ Ohne weitere Worte wandte sich die Frau um und stieg wieder ein. Der junge Mann folgte ihr mit seinem Blick, schaute dann nochmals den Älteren an, doch nichts deutete darauf hin, dass noch weitere Worte gewechselt werden sollten. Also folgte er der Frau, setzte sich hinters Steuer und ließ den Motor an. Was tat die Wärme der Heizgebläse gut!

Emde staunte nicht schlecht. Er hätte mit einem Aufschrei der Medien gerechnet, mit Presseanfragen an die Staatsanwaltschaft und einem verunsicherten Unternehmen, das um Rat fragte, was man denn nun bekannt geben dürfe. Stattdessen herrschte eine große Ruhe, es klingelten weder Mobiltelefone, noch riss ein Assistent alle paar Minuten die Türe mit einer neuen Wasserstandsmeldung auf. Als er das Gebäude der Polizeidirektion Waldeck an der Korbacher Pommernstraße betrat, war lediglich ein Anruf mit Rückrufbitte für ihn eingegangen. Wie schon öfters und eigentlich von der Dienststellenleitung nicht gerne gesehen, hatte er auf einem Parkplatz einige Gehminuten entfernt geparkt und seinen Dienstparkplatz verschmäht. Über den freute sich wie immer eine Kollegin, die jeden Morgen aus Frankenberg kam. Wer schon morgens lange im Auto sitzt, sollte dann nicht auch noch lange Wege zu Fuß laufen müssen. Sein Wagen stand, für schnelle Ermittlungen immer noch gut zu erreichen, gegenüber der Korbacher Stadthalle. „Hier“, einer der Assistenten reichte ihm einen Zettel, „ziemlich kompliziert, der Herr. Möchten wissen, welche Ergebnisse wir vorweisen können. Und natürlich alles erfahren, noch bevor es die Presse erfährt.“ Kleine las den Namen. Johannes Döhrenbach. Pressesprecher von Prospersoil. Er stöhnte innerlich und schüttelte den Kopf. Was konnte das für eine Art Pressesprecher sein, der ernsthaft davon ausging, dass die Polizei sofort Ermittlungsergebnisse an Dritte weitergab? Denn das und nichts anderes wollte dieser Typ doch. Von seinem Schreibtisch aus wählte er die Nummer, während er seinen Computer hochfuhr, doch der Anschluss war besetzt. Offenbar kam das Interesse am Tod Lieberknechts doch langsam in Fahrt. Und die Ermittlungen auch, dachte Emde, nachdem er die vier Leitz-Ordner bemerkte, die aufrecht auf seiner Schreibtischunterlage warteten. „Ist schlimmer als es aussieht“, machte ihm eine Stimme hinter ihm Mut. Frank Bangert, einer seiner Mitarbeiter, ein Experte für Wirtschaftsdelikte, saß hinter seinem Schreibtisch und faltete gerade eine Frankfurter Allgemeine zusammen. „Die Kollegen haben ziemlich viel zum Thema Einordnung von Prospersoil in den internationalen Markt, Steuersparmodelle, Offshore-Unternehmen und so etwas zusammengetragen.“ Bangert machte eine Kunstpause. Emde ahnte, dass damit bereits alles gesagt war und somit an ihn die Anweisung ergangen war, sich die Details gefälligst selbst zusammenzulesen. Bangert fuhr fort. „Da könnte einem schon der Hals anschwellen, wenn man so liest, wie diese Herrschaften ihre Unternehmensgewinne aus dem einen Land in dem anderen Land versteuern, weil sie dort ihren Sitz haben und es dort eine nahezu unbegrenzte Steuerfreiheit gibt.“ Er füllte sich Kaffee aus einer Borussia-Dortmund-Thermoskanne nach. „Verdammt, Finanzminister in so einem Inselstaat möchte ich mal sein. Ich würde mir eine eigene Fantasieuniform schneidern lassen, blau wie das Meer ringsherum, damit das Metall meiner vielen Orden umso mehr blitzt. Mann, was hätte ich einen Dienstwagen. Und natürlich würde ich mit einer ganzen Kolonne von dunklen Limousinen unterwegs sein, und wenn ich zum Golfen will, müssen für mich die Straßen abgesperrt werden.“ Emde musste schmunzeln und dachte unwillkürlich an einen großartigen Roman, der genau so etwas zum Inhalt hatte und den Kleine ihm mal geliehen hatte. ‚Der Schneider von Panama‘, eine wunderbare Satire, aber mit einem bitterernsten Kern. Emde hatte sie zunächst eher mit Widerwillen gelesen und um seinem Freund einen Gefallen zu tun. Am Ende wollte er das Buch gar nicht mehr aus der Hand legen, was für Wahrheiten sich darin wiederfanden, du glaubst es gar nicht. Als dann einige Zeit später die Verfilmung ins Kino kam, waren sie extra nach Kassel gefahren, um sie zu sehen. Seitdem war auch Emde Fan des Autors John le Carré und von guten Politthrillern.

Der Hauptkommissar warf einen flüchtigen Blick auf die eingegangenen Mails und schlug den ersten Ordner auf. Die Unternehmensgründung von Prospersoil, aha. Er warf einen Blick hinüber zu Bangert, der seinerseits gerade das BVB-Plakat an der Wand anschmachtete, das er als in der Wolle gefärbter Fan in den Diensträumen aufhängen durfte. Stimmt, die Borussia hatte ja am zurückliegenden Wochenende in Bayern gewonnen. Ein glanzvoller Sieg, Fußball vom anderen Stern, großer Sport! Hatte er dem Erfolg eigentlich Referenz gezollt? „Bangert, weißt du, was der gravierende Unterschied zwischen uns und deinem Fantasiestaat ist?“ Der Gefragte erwachte aus seinen Titelträumen und blickte neugierig herüber. „Bei uns wirst du schlimmstenfalls abgewählt und musst dich in einer Elefantenrunde im Fernsehen am Wahlabend deinem Nachfolger stellen und geschlagen geben. Und alle finden es ganz okay, wenn du dabei vielleicht nicht mehr ganz nüchtern bist.“ Er machte eine kurze Pause. „In solchen Kleptokratien aber“, er liebte das Wort, Kleine hatte es ihm mal genannt und erklärt, was das ist, „endest du in einem Hinterhof, als Fischfutter oder dein toller Dienstwagen wird von Geschosssplittern durchsiebt. Samt dir. Das willst du nicht. Ich auch nicht, denn dann muss ich den ganzen Kram hier alleine machen.“ Er beschrieb mit seiner Hand einen Halbkreis über seinen Schreibtisch, Bangert schnitt eine Fratze. „Also. Bleib lieber bei deiner Borussia, denn Fußball spielen können die dort meistens auch nicht.“ Die Borussia allerdings manchmal auch nicht, seit Klopp, der Große, das Weite gesucht hatte, dachte Emde, aber das behielt er lieber für sich.

 

Eine Mail ging mit einem Glockenspielton ein: Der Autopsiebericht aus der Gerichtsmedizin, eigentlich bereits für gestern angekündigt. Anders als in Fernsehkrimis nahmen einzelne Bestandteile einer Autopsie mitunter eben doch einiges an Zeit in Anspruch, denn chemische Prozesse mussten überprüft und abgeglichen werden. Und anders als im Fernsehen waren Rechtsmedizinische Institute auch nicht immer so perfekt ausgestattet und hatten meist eine zeitraubende Wochenenddienstregelung. Die ‚Klienten‘ konnten sich ja nicht mehr über lange Wartezeiten beschweren. Emde klickte den Bericht auf und überflog flüchtig, was er beinahe schon erwartet hatte: Unmittelbar eingetretener Tod durch massive Einwirkung auf den Schädel bedingt durch das Eindringen eines Geschosses. Also endgültig doch kein Herzklabaster. Lieberknecht war vermutlich wirklich schon tot, bevor er rückwärts gegen die Holzlatten san. Bei ihrem Austritt aus dem Hinterkopf hatte die Kugel einen großen Teil des Okzipitallappens mitgenommen. Was auch immer das genau war, die Kollegen von der SpuSi durften ihn später mit Schwamm und Eimer von der Rückwand aufnehmen, bevor sie das Geschoss vorsichtig aus dem Holz kratzen und in die ballistische Untersuchung geben konnten, dachte Emde. Er blickte kurz durch die anderen Mails: Der Bericht der Ballistiker war noch nicht eingegangen. Der Autopsiebericht endete mit einem Fazit: Tod wurde vermutlich bewusst herbeigeführt. Emde seufzte und vertiefte sich in die weiteren Unterlagen.

Als Kleine erwachte, war es draußen längst wieder hell. Sein Plattenspieler hatte den Tonarm nach Abspielen der ersten Seite wieder in die Ausgangsstellung zurückgefahren, der Plattenteller drehte sich aber noch und die Nadelbeleuchtung war eingeschaltet. Kaffee! Er trank einfach zu viel davon. Seine Mischung aus der vergangenen Nacht war längst ungenießbare Plörre geworden und erinnerte ihn mit ihrem grässlichen Aroma an endlose Redaktionstage, als er zigmal frischen Kaffee aus der kleinen Teeküche … warum hießen diese kleinen Kabinette eigentlich immer noch so, obwohl dort deutlich mehr Kaffee als Tee getrunken wurde? … geholt hatte, der dann erkaltete, ohne getrunken worden zu sein. Er rief sich den zurückliegenden Tag in Erinnerung. Lieberknecht war tot. Erschossen, Donnerwetter. Er konnte sich vorstellen, wie die Bewohner der Region mit dieser Nachricht umgehen würden. Viele hatten es sich sicherlich oftmals ausgemalt: Kommt schon, seid ehrlich zu euch, wie oft habt ihr gedacht, ihr entzündet ein Freudenfeuer, wenn der Typ den Arsch zukneift. Doch nun, nachdem es wirklich passiert ist, sitzen wahrscheinlich viele am Küchentisch und wissen nicht, was sie denken und vor allem, wie sie auf die Frage „Hast du’s schon gehört?“, reagieren sollen, die sie theoretisch in dem Augenblick ereilen kann, wenn sie vor die Tür treten. Er war doch schon so eine Art Heilsbringer für die Region, nicht? Schade eigentlich.

Kleine überprüfte die Termine des heutigen Tages. War heute nicht sogar die Ratssitzung? Tatsächlich, um 18 Uhr in der Dansenberghalle. Ursprünglich hatte sie im Festsaal der evangelischen Kirchengemeinde Adorf stattfinden sollen. Aus Platzmangel in den Amtsräumen der Gemeindeverwaltung wurden stets andere Räumlichkeiten genutzt, je nachdem, welche Tagesordnungspunkte besprochen wurden und mit welchem Interesse in der Bevölkerung gerechnet wurde. Heute wurde mit großem Interesse gerechnet. Kleine überflog die Tagesordnung, die auf der Webseite der Gemeinde eingefügt war. Tatsächlich hätte es heute einen weiteren Sachstandsbericht zur Reaktivierung der Grube Christiane geben sollen. Eine Expertin des Bergamts sollte Risiken, Möglichkeiten und Chancen ausloten und dem Rat vorstellen. Ob dieser Punkt wohl so stattfinden würde? Kleine griff zum Telefon.

Emde hatte an seinem Schreibtisch beinahe zeitgleich von der Ratssitzung erfahren, als das Telefon klingelte. Er schaute auf die Nummer im Display. Hier innerhalb des Kommissariats musste er vorsichtig sein, auch wenn immer mal wieder der eine oder andere Kollege etwas von seiner nützlichen Liaison mit dem Journalisten mitbekommen hatte. So meldete er sich auch mit einem halblauten „Was willst du?“ und lauschte Kleines Vorschlag, die Sitzung gemeinsam aufzusuchen. „Gut. Gute Idee. Sonst noch etwas?“ Kleine blickte verdutzt sein Handy an. Was für ein unwirscher Ton. Emde hatte offenbar Stress. Oder war im Büro. Oder beides traf zu, was ja auch mal vorkommen konnte. Er fasste sich kurz. „Wir sehen uns dann.“ Ein Klicken in der Leitung beendet das Gespräch. Emdes Blick wanderte zu der Thermoskanne seines Kollegen. Der Kaffee im Präsidium war eigentlich ungenießbar. So sehr, dass er schon öfters, sehr zur Freude seiner Frau, auf Tee ausgewichen war. Earl Grey, second flush. „Ist da noch etwas drin?“ Bangert schaute erstaunt rüber und nickte kaum merklich. Erleichtert und ohne seinen Wunsch weiter ausdefiniert zu haben, stand Emde auf und besorgte sich eine Tasse, angeschlagen und mit bereits angeklebtem Henkel: Die Polizei in Hessen – Dein neuer Arbeitgeber.

Die Szene war unwirklich. Fast wie in einem Film. Constanze Lieberknecht trat gefasst in den Raum, dessen Temperatur deutlich niedriger als die in den anderen Räumen des Instituts für Pathologie in Kassel war, das für die nordhessische Polizei bei Bedarf auch als Rechtsmedizin fungierte. Doch abgesehen vom Verhalten der Bankierswitwe erinnerte wenig in dem Raum an die entsprechend gleichen Szenen in Fernsehkrimis. Es gab keine Milchglasscheiben und kein diffuses Licht. Keine Reihe von Alutischen mit zugedeckten Körpern und auch keinen Gerichtsmediziner mit Kittel und Mundschutz, der nach einem kurzen Augenblick ein Tuch zurückschlug. Der Raum hatte eher etwas von der sterilen Freundlichkeit eines Krankenzimmers, war weniger ein angsteinflößender Operationssaal als ein Sterbezimmer, die Wände waren nicht gefliest, sondern verputzt, lediglich bis Knöchelhöhe reichte der rutschfeste Bodenbelag aus PVC, der in den Kanten für eine bessere Reinigung hochgewölbt war. Über der Tür hing ein Kruzifix. Das eigentliche Gemetzel hatte in einem anderen Raum stattgefunden.

Emde war etwas später als Constanze Lieberknecht an der Gerichtsmedizin angekommen und hatte im Vorbeifahren auf der Suche nach einem Parkplatz gesehen, wie sie aus der Beifahrertür eines roten Mercedes-Coupés stieg. Am Steuer saß ein deutlich jüngerer Mann, zweifellos Torben Wagner alias David Kline, der dem Beamten bereits vom Hörensagen bekannt war. Am Vortag hatten sie zwar das Foto im Bücherregal gesehen, aber neben der etwas älteren Witwe sah der Bursche wirklich aus wie ein Kind. Emde hatte noch abgewartet, bis auch der junge Fotograf einen Parkplatz gefunden, das Auto, das ohne jeden Zweifel auf den Namen Constanze Lieberknecht zugelassen war, mit äußerster Vorsicht eingeparkt hatte und der Witwe in die Gerichtsmedizin gefolgt war. In der Zwischenzeit hatte er den Pressesprecher von Prospersoil erreicht und mit ihm einen Gesprächstermin für den frühen Nachmittag ausgemacht. Emde musste dabei seine Worte etwas harscher wählen: Johannes Döhrenbach erwies sich als äußerst strebsam darin, seine Ziele zu erreichen. Die Grußfloskeln waren noch nicht richtig verklungen, da befand sich Döhrenbach bereits in einem Monolog über die Verpflichtungen der Behörden, Auskünfte zu erteilen. Informationsfreiheitsgesetz, er, der Beamte, wisse darüber sicher Bescheid. „Aber nicht mitten in Ermittlungen“, hatte Emde ihn gestoppt. Sie hatten sich bis auf Weiteres geeinigt, in hoffentlich fruchtbarer Weise zusammenzuarbeiten und das gemeinsame Gespräch miteinander zu suchen. Emde war dennoch ein heftiger Fluch über die Lippen gekommen, nachdem er aufgelegt hatte. Was für ein Arschloch! Auf gute Zusammenarbeit!