Loe raamatut: «Umdrehen und Weggehen», lehekülg 2

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DER ZWANG DES ZWANGLOSEN ZWANGS

Der „zwanglose Zwang“ erzeugte eine neue Art von Zwang: Das Vernünftige ist nichts, wozu sich so oder so Stellung nehmen ließe. Zwei mal zwei ist vier, und davon können wir uns ebenso wenig abwenden wie davon, dass Antisemitismus oder Homophobie Einstellungen sind, welche aus einer irrationalen Quelle erwachsen, die mehr Schaden anrichtet, als dass sie auf Dauer dem berechtigten Schutz irgendeiner Gruppe oder Kultur dienen würde. Wer den herrschaftsfreien Diskurs favorisiert, unterliegt der Herrschaft des besseren Arguments, das er, wenn es ihm nicht in den Kram seines Glaubens oder seiner Lebensführung passt, auch nicht einfach zwanglos hinter sich lassen kann.

Es gibt keine zwanglose Abwendung von – exemplarisch gesprochen – mathematischen oder ethischen Wahrheiten, immer vorausgesetzt, man hat einmal begriffen, dass es sich insofern um Wahrheiten handelt, als für sie die besten bekannten Argumente sprechen. Der rationale Diskurs „verflüssigt“ nicht nur eingeschliffene Vorurteile und Fehlhaltungen, er bezieht seine Kraft vielmehr aus dem, was man vor dem Tribunal der Vernunft und damit vor sich selbst als einem wahrheitsstrebigen Wesen nicht einfach „hinter sich lassen“ kann.

Menschen, die sich gegen die Einschränkung, nach ihrer eigenen Fasson zu leben, innerlich zur Wehr setzen, werden daher auch leicht gegen das sogenannte „Vernünftige“ aufbegehren. Da indessen das Vernünftige den unübersteigbaren Maßstab setzt, zumindest im Rahmen der aufgeklärten Kultur des Westens, wird unser Freiheitswille uns in eine unausgesprochene Distanz zum „zwanglosen Zwang“ des Diskurses setzen. Und ebenjene Distanz, weil im Kern unvernünftig und sogar unmoralisch, muss unausgesprochen bleiben.

So entsteht ein reaktives Syndrom, das unter der Oberfläche des Common Sense und der Political Correctness wirkt: eine ihrerseits zwanghafte Form des Aufbegehrens gegen alles, was durch die Vernunft, ob alltäglich, wissenschaftlich oder ethisch, gedeckt wird. Das sogenannte Subversive, vom Dadaistischen oder Aggressiven vieler Kunstproduktionen bis hinein in die chronische Querdenkerei, mobilisierte, getarnt als Aufstand gegen das „Man“, gegen den gedankenlosen, dumpfen Mainstream, in der Tiefe den Widerstand gegen die Gravitationskraft der rationalen Diskurswelt. Diese ist – utopisch gesprochen – darauf ausgelegt, mittels des „zwanglosen Zwangs“ der besseren und besten Argumente aus der zerstrittenen Menschheit eine Überzeugungsgemeinschaft werden zu lassen.

Im Kontext der Lebenskunst bleibt aber die Frage, ob es die eine Vernunft überhaupt gibt, wenn wir über das bloß Logische – „die Sonne kann nicht zugleich scheinen und nicht scheinen“, „zwei mal zwei ist gleich vier“ – hinausgehen. Gewiss, es gibt, aus Gründen des religiösen Glaubens, eine Anbindung an das Irrationale. Sie hat das Abendland nicht zuletzt mitgeprägt. Das Credo quia absurdum, demzufolge man gerade deshalb an heilige Dinge glaubt, weil sie absurd, unmöglich oder sogar widersprüchlich sind, schleudert den Gläubigen aus allen menschlichen und mitmenschlichen Bezügen. Es gilt nur, was geoffenbart wurde, und sei es der Auftrag zum Glaubenskrieg, der keine Rücksicht kennen darf.

Aber sieht man von dieser Pathologie des lumen supranaturale, des übernatürlichen, von Gott gespendeten Lichts ab, dann wird man sensibel dafür bleiben, dass es im weiten Reich menschlicher – und irdischer – Vielfalt nicht bloß die eine Vernunft gibt. Es wäre wohl besser, von einer Allerleivernunft zu sprechen, welche der menschlichen Kondition besser angemessen ist. Gemeint ist eine kulturell flexible Vernünftigkeit, deren Kriterien keine haarscharfe Grenze zwischen dem transkulturell Rationalen oder Irrationalen festlegen. Auch wenn zum Beispiel die Einstein’sche Äquivalenz E = mc2 entsprechend dem Universalitätsanspruch der Naturwissenschaft ausnahmslos gilt (falls sie gilt), so werden weder die Tatsachen noch die Erlebnisse, noch die Gefühle des Alltags überall gleich interpretiert.

Darin liegt der Kern unserer Toleranz. Er liegt nicht darin, dass wir bereit sind, gewisse Formen des – aus unserem Blickwinkel betrachtet – Unvernünftigen zu dulden. Eine solche Haltung ist scheintolerant, weil ihr die Minderschätzung aller abweichenden Meinungen, gemessen an der jeweils eigenen, zugrunde liegt. Wahre Toleranz ist bereit einzugestehen, dass andere Kulturen, andere Lebenswelten auch mit teilweise anderen Kriterien arbeiten, was die Frage des Vernünftigen betrifft.

Der Glaube an Götter ist aus meinem Blickwinkel möglicherweise irrational, Ergebnis eines Aberglaubens, aber darf ich diese Überzeugung bruchlos verallgemeinern? Darf ich die westliche Apparatemedizin gegen die chinesische Heilkunde stellen? Woher nehme ich denn meine Gewissheit? Natürlich aus den festgefügten Konventionen und Regeln, die meine eigene Kultur grundieren. Wenn wir also auf den Diskurs unsere Hoffnung setzen, dann sollte es nicht jener herrische Diskurs sein, dem unsere Idee des Vernünftigen, das eine besondere Geschichte und Praxis hat, exklusiv zugrunde liegt. Nur so wird es möglich, sich friedfertig abzuwenden, ohne alle Andersvernünftigen in ihrer Selbstachtung zu beschädigen.

Und das trifft auch für den „anderen“ zu, der in mir selbst wohnt. Teil der Lebenskunst muss es sein, dass ich mich unter Umständen zwanglos von meinen eigenen Überzeugungen abzuwenden vermag – sofern es sich nicht um pure Logik oder Prinzipienethik handelt, die, wie das Prinzip der gleichen Würde aller Menschen, streng universal ist. Der Taufscheinchrist in mir mag sich zum Buddhismus hingezogen fühlen. Doch dafür, dass ich mich von da nach dorthin bewege, brauche ich mich keineswegs zu verachten, bloß weil ich nicht imstande bin, meine Bewegung „diskursiv“ einzuholen, sie rational zu „verflüssigen“ – im Sinne der autoritären Standards meiner Form des „Diskurses“, dem die lebenskluge Allerleivernunft stets das Einfallstor des Irrationalismus und insofern ein Gräuel ist. Trotz seiner unleugbaren, unabdingbaren Friedensfunktion generiert der „zwanglose Zwang“ doch auch ein Abwendungsverbot und erzeugt insofern, trotz aller Zwanglosigkeit, eben auch Zwang.


Ich möchte allerdings vermeiden, dass das Ideal der einen Vernunft zugunsten der Freiheit, sich „umzudrehen und wegzugehen“, in Misskredit gerät. Das wäre eine Übersteuerung der lebenskünstlerischen Abwendungspraxis. Richtig verstanden, handelt es sich bei der einen Vernunft um ein Ideal, einen Horizont unseres Menschseins. Kant hätte von einem regulativen Prinzip gesprochen. Wir streben nach der Vernunft, so wie wir nach der Wahrheit streben. Unsere ideale Strebensrichtung darf uns jedoch nicht vergessen lassen, dass eine Voraussetzung der Zähmung menschlicher Bestialität gerade in der Anerkennung kultureller Vielfalt liegt. Diese beeinflusst nicht zuletzt auch unsere Methoden und Evidenzen, vernünftig zu sein. Dessen unbeschadet strebt jede Kultur danach, sich einer universellen Ratio zu befleißigen, deren Wahrheiten allgemeingültig sind – und so ist jeder humanen Zivilisation in ihrer Tiefe auch der Gedanke der einen Menschheit als Solidargemeinschaft nicht fremd, selbst wenn die Praxis der interkulturellen Konflikte, bis hin zu den großen Kriegen, eine andere Sichtweise nahezulegen scheint.

KAPITEL II

BEZIEHUNGSFALLEN

Es gibt einen Cartoon des französischen Zeichners und Karikaturisten Jean-Jacques Sempé, auf dem die Seitenansicht zweier Menschen, eines Mannes und einer Frau, zu sehen ist; beide sitzen einander in tiefen Fauteuils gegenüber. Die Szenerie wirkt zunächst friedlich, der Abstand zwischen den beiden ist so gewählt, dass der Betrachter den Eindruck gewinnt, keiner der beiden Sitzenden würde dem anderen zu nahe kommen. Und, wenn ich mich recht erinnere, ist im Hintergrund zwischen den Sitzenden ein Wandkamin zu sehen, in dem ein Feuerchen milde Wärme verbreitet.

Die Bilderfolge zeigt uns, wie sich die Gesichter und Körper des Paares – es handelt sich offenbar um ein Ehepaar – zu verändern beginnen. Ob die beiden Streit hatten, bleibt offen. Wenn ja, dann ist immerhin so viel sicher: Der Disput löste zwischen dem Paar eine ungeheuerliche Gefühlsaufwallung aus. Wenn nein, dann muss zwischen dem Paar eine Gefühlsanspannung geherrscht haben, die dadurch ausgelöst wurde, dass beide einander bequem gegenübersaßen und Augenkontakt hatten. Das reichte irgendwann, es war genug, endgültig genug!

Die Physiognomie der beiden unterliegt einem fast dämonischen Wandel, ihre Körper schnellen nach vorne, heraus aus den gut gepolsterten Fauteuils. Aus der friedlichen, wohlbetuchten, ein wenig spitznasigen Kleinbürgerlichkeit tritt plötzlich Fratzenhaftes hervor, mit weit vorgestreckten Schnauzen, die eine Reihe messerscharfer Zähne sichtbar machen. Man ist an Echsen, Saurier, Krokodile erinnert, aggressive Fresstiere, die aufeinander losstürzen, um einander zu verschlingen. Die Augen sind hasserfüllt, es ist ein Miniarmageddon der Zweierbeziehung.

Und nun die Pointe: Schon scheinen sich die beiden ineinander zu verbeißen, da kommt der Exzess des Hasses zum Stillstand. Die Gesichter nehmen wieder ihre normalen Züge an; die gerade noch zum Sprung aus dem Fauteuil bereiten Gestalten sinken in ihre entspannte Lage zurück. Und da ist es, das Ende der Bilderfolge, und es ist, als wäre nichts gewesen …

Was hier mit wenigen Strichen ausgedrückt wird, indem der Zeichner mit dem Entsetzen seinen Spaß treibt, ist das Elend der Beziehungsfessel. Die beiden, Mann und Frau, können nicht voneinander lassen. Sie kennen einander schon lange, und im Grunde sind sie einander überdrüssig. Die Liebe und Zuneigung der ersten Jahre ist längst verflogen, die Kinder – ich variiere jetzt frei – sind alle aus dem Haus, was bleibt ist eine Gemütlichkeit an der Oberfläche, unter der sich Langeweile, Verzweiflung und Wut angestaut haben. Es wäre das Beste, jeder ginge seiner Wege.

Aber genau diese Alternative scheint nicht möglich, man ist, aus welchen Gründen auch immer – Trägheit, Gewohnheit, Angst vor dem Alleinsein –, zusammengeschmiedet. Und so wird man weitermachen, immer wieder zwischen den Phasen des zivilisierten Umgangs miteinander in Episoden der Rage hineingetrieben. Da mag es schon als Erfolg gelten, dass keine Gewalttat gesetzt wird, am Ende einer einstigen Liebesbeziehung kein Mord steht, angesiedelt zwischen sadistischer Lust und unerträglichem Ekel.

Zweifellos gibt es menschliche Situationen, die so geartet sind, dass ein weiteres Miteinander kaum möglich scheint. Im Zentrum solcher Beziehungsmuster steht die berüchtigte Double-bind-Konstellation, die gerne durch das Gebot „Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass!“ ausgedrückt wird. Das ist ein sehr anschauliches Beispiel dafür, dass Menschen voneinander Dinge und Handlungen verlangen, die keiner der Partner angemessen bereitstellen kann.

Im Alltag finden wir komplexere, viel weniger durchschaubare, doch meist auch nicht derart zwingende Situationen. Das oben geschilderte Ehepaar – wir wollen annehmen, dass es sich um ein solches handelt – verkörpert eine Art Doppelbindungsdrama der zwar weniger eindeutigen, dafür aber umso auswegloseren Art. Sie sind einander noch immer verfallen, einander auf Gedeih und Verderb ausgeliefert, man könnte dies als eine Form der Liebesbeziehung analysieren. Allerdings ist es der Fall, dass an die Stelle jener gegenseitigen Anziehung, welche wir normalerweise „Liebe“ nennen, das Gegenteil getreten ist, ein, man möchte sagen, inniger Abscheu voreinander, von dem weder die Frau noch der Mann lassen können.

Aber da ist gewiss noch mehr im Spiel, wenn auch, wie Sempé die Situation darstellt, nicht gerade jene Inversion der Liebe, die uns im Drama Wer hat Angst vor Virginia Woolf von Edward Albee begegnet. Denn die Demütigungs- und Hassspiele, zu welchen die beiden Protagonisten jenes Stücks sich wechselseitig hochschaukeln, sind eine verzweifelte Art, einander zu suchen, indem man einander zerstört. Die Liebe von Mann und Frau, des glanzlosen Geschichtsprofessors George und seiner frustrierten Frau Martha, ist, wie sich nach der Eheschlacht am frühen Morgen unter großer Erschöpfung zeigt, derart geartet, dass keine Trennung infrage kommt.

Man wird weiterhin in der Hölle leben müssen, von der Sartre mit existenzialistischem Aplomb verkündete, es seien immer die „anderen“. L’enfer c’est les autres. Das kleinbürgerliche Beziehungsdrama, das uns Sempé erahnen lässt, spielt freilich schon jenseits einer immerhin untergründigen Liebeswelt. Eher sind enttäuschte Erwartungen, Müdigkeit und vor allem eine Alternativlosigkeit im Spiel, die ihren tieferen Grund in einer Gewöhnung an den anderen Menschen, auch in einer Vertrautheit mit den gemeinsamen Spielregeln, Ritualen, Ticks und Verhaltensweisen haben mag, die man ebenso verabscheut, wie man von ihnen nicht loskommt.

Die beiden können sich nicht einfach voreinander umdrehen und voneinander weggehen. Sie sind auf eine tragikomische Weise aufeinander eingeschworen. Ist das nun ein Ausdruck unserer westlichen, christlichen, ehemoralischen Kultur oder ein Ausdruck höchstpersönlicher Obsessionen? Wer könnte das genau sagen? Dass wir Sempés Cartoon sofort verstehen, ist gewiss ein Zeichen dafür, dass es sich dabei um keine „Ausreißersituation“ aus dem handelt, was wir als unseren Alltag kennen oder zu kennen glauben. Etwas Paradigmatisches haftet der Szenerie an. Wir müssen uns fragen, ob es denn wirklich Ausdruck einer Lebenskunst wäre, wenn die Beziehungen der Menschen im Privaten erst gar nicht jene Intensivebene erreichten, wo es dann nicht mehr möglich ist, sich vom anderen einfach abzuwenden. Die Antwort auf diese Frage ist keineswegs eindeutig, jedenfalls kein eindeutiges „Nein“.

In unserer Kultur wurden spätestens seit den 1960er-Jahren des vorigen Jahrhunderts Beziehungsformen sexueller und quasi ehelicher Art ausprobiert, die von vornherein auf keinen „Bund fürs Leben“ und die damit einhergehenden Verpflichtungen und emotionalen Belastungen ausgerichtet waren. Die Flower-Power-Bewegung der Hippies wollte genau dies: lockere, der traditionellen Vorstellung regelrecht entgegengesetzte Formen des Zusammenlebens, die es leicht machen sollten, sich – bei innerer Ermüdung und sonstigen Unverträglichkeiten – wieder informell und ohne hard feelings zu trennen.

Hier hätte als Motto tatsächlich gepasst: „Umdrehen und weggehen!“ Aber wie sich zeigte, war dieses Lebensmodell für den Alltag, der doch nicht zu ignorieren ist, ungeeignet. Wollte man, als Mittelloser und womöglich Drogensüchtiger, nicht auf der Straße oder in der Entzugsklinik landen, mit eigenen Kindern, die wegen Verwahrlosung in staatliche Obhut genommen wurden, dann musste man ein stabiles Modell des Zusammenlebens suchen – ein Familienmodell, das, wie man heute zu sagen pflegt, nachhaltig ist, das heißt lang währende Verpflichtungen miteinschließt.

Die dadurch entstehenden Konflikte, die bis zur Sempé-Dramatik reichen mochten, ließen sich für manche, die zu den Besserverdienenden zählten, durch psychologische „Interventionen“ abfedern. Viele dieser Interventionen, namentlich im Eheberatungsmodus, zielten darauf ab, die ineinander verbissenen Partner mit dem Gedanken anzufreunden, dass es auch möglich wäre, das Beziehungsgefüge, in dem man sich selbst und dem anderen immer mehr Schaden zufügte, zu lockern, ohne die aus der Beziehung entstandenen Verpflichtungen einfach ad acta zu legen. Mit anderen Worten: Bestenfalls erlernte man die Lebenskunst der Abwendung unter gesitteten bürgerlichen Gesetzesvorgaben.

Die Frage, ob diese Kunst nicht besser beherrscht werden und Teil unserer dominanten Kultur sein sollte, ist berechtigt. Wir leben unter Wohlstandsbedingungen, die es prinzipiell gestatten, ohne persönliche Katastrophen wieder „auseinanderzugehen“, wenn die persönlichen Umstände oder die partnerschaftliche „Chemie“ nicht weiter passen. Die Kunst des Loslassens besteht darin, sich umzudrehen und wegzugehen, schon bevor man sich nicht mehr „riechen“ kann, mit möglichst unbeschädigtem, aber belehrtem Blick auf neue Lebenshorizonte zu, ohne sich der Verpflichtungen zu entschlagen, die aus den bisherigen Lebensumständen folgen.

Die Kehrseite dieser Lebenskunst, die sich heute in der Patchworkfamilienpraxis und mannigfachen rechtlichen Erleichterungen im Scheidungsprozess manifestiert, darf allerdings nicht ausgeblendet werden. Denn wie immer man aus diesen oder jenen Gründen zum westlichen Ideal der ein Leben lang währenden Kleinfamilie stehen mag (man mag es reaktionär und triebfeindlich nennen) – nirgendwo sonst lassen sich Intensitäten einer bestimmten intimen Prägart besser realisieren. Das betrifft die Entwicklung einer Innigkeit, die über Jahrzehnte hinwegreicht, einer sich daran anschließenden wechselseitigen Hilfsbereitschaft ohne Wenn und Aber. Es betrifft auch die Entfaltung der Erotik. Paare, die eine lebenslange Ehe als ihre natürliche Lebensform betrachten, werden verschiedene Formen des körperlichen Einander-Naheseins durchlaufen, welche in kurzfristigen Liebesepisoden kaum jemals jene Tiefe erreichen, von denen miteinander Altgewordene zu berichten wissen.

Alles, was zur Lebenskunst des Loslassens und der Abwendung hier gesagt wird, ist also keine Attacke gegen das Liebesideal, welches dem Modell der lebenslangen Beziehung zwischen Menschen zugrunde liegt. Dieses Ideal mag ein Ideal bleiben und es mag unter widrigen Bedingungen dort enden, wo Sempé es in seinem Cartoon aufnimmt. Trotzdem wäre sein Verlust gleichzusetzen mit dem Verlust unserer Humanität. Die wahre Liebe ist nichts, wovor man sich umdrehen und weggehen könnte.

Davon kündet selbst noch der romantische Liebestod, denn gerade er ist ja, in seiner opernhaften Ausgestaltung, ein Fanal ewig währender Treue samt dem unbezwingbaren Verlangen, keine wie immer geartete Trennung zu dulden. Die Tragik der jungen Liebenden ist zugleich ein Ort höchster Erfüllung, ein religiöser Ort, für den jede Abwendungsgeste eine Existenzkatastrophe bildet: so, als ob man sich vom Glanz Gottes abwenden wollte – um sich woraufhin zuzuwenden? Etwa sich selbst zu, narzisstisch hin zu seinem eigenen Bild, wie es die Engel taten, die sich mit dem bösen Willen der Egozentrizität vollgesogen hatten?

WO DIE LIEBE HINFÄLLT …

Julian Barnes’ kleiner Roman The Only Story (2018) beginnt etwa folgendermaßen: Würdest du lieber mehr lieben und dafür mehr leiden? Oder würdest du lieber weniger lieben und dafür weniger leiden? Und Barnes fügt gleich hinzu, dass dieser Alternative keine wirkliche Wahl zugrunde liegt. Wer könnte schon das Ausmaß seiner Liebe kontrollieren? Und wenn er es könnte, dann wäre es eben keine Liebe. Wie immer man diesen Zustand nennen würde – jedenfalls nicht Liebe …

Es gibt, das ist die Lehre, Zustände, in denen man sich befindet oder nicht befindet; und ob man sich in ihnen befindet oder nicht, hängt nicht von der eigenen Entscheidung ab. Das kann ganz und gar äußere Gründe haben. Man wird arretiert, in eine Zelle gesteckt, und es steht nicht in unserer Macht, uns „umzudrehen und wegzugehen“. Doch die Gründe, um die es sich handelt, können innere sein, und ich denke, es sind oft die inneren Gründe – unsere Stimmungen oder Gefühle –, von denen wir uns nicht einfach abwenden können.

Die Liebe ist ein solcher Grund. Wer eines Tages zu dem Menschen, den er angeblich liebt, zu sagen imstande ist (und entsprechend handelt): „Tschüss, adieu, das war’s, es war sehr schön, aber jetzt muss ich weiterziehen“, der hat in Wirklichkeit niemals geliebt. Zwar kann ich lieben, indem ich mich abwende, mich umdrehe und weggehe; aber dann ist mein Verhalten ein besonderer, besonders schmerzhafter und bisweilen besonders tugendhafter Ausdruck meiner Liebe. Das ist etwas ganz und gar anderes als wegzugehen, weil man gar nicht wirklich geliebt hat. Die Freiheit, welche der nur scheinbar Liebende hat, ist dem wahrhaft Liebenden verwehrt. Geht dieser weg, um das geliebte Wesen zu beschützen, so liegt darin keine Freiheit gegenüber der Liebe; sie ist es ja, die ihn schweren Herzens zum Handeln treibt.

Ähnliches gilt auch für moralische Verhältnisse. Wenn man an bestimmte Prinzipien, die einem bestimmte Pflichten auferlegen, bedingungslos glaubt, weil man von ihnen innerlich überzeugt ist – sei es aus anscheinend den besten Gründen oder weil man sich als Erbe einer Tradition und solcherart gebunden fühlt –, dann ist es im Rahmen der Eigenautonomie, der Willkürlichkeit des Handelns, zwar möglich, gegen jene Pflichten zu verstoßen. Man kann das Gute äußerlich hinter sich lassen, mit schlechtem Gewissen oder rebellischem Willen; aber solange man die Prinzipien, denen man fortan nicht mehr zu folgen gedenkt, als die Prinzipien, denen man folgen sollte, erkennt und anerkennt, existiert eine Bindung, die man nicht abzuschütteln vermag.

Man kann – um ein Beispiel zu geben – nicht vernünftig und ehrlich vor sich selbst sagen, dass man sich vom Prinzip der Nächstenliebe oder der ehelichen Treue oder der sozialen Gerechtigkeit „einfach“ abwendet, sich umdreht und weggeht, falls man zu wissen glaubt, dass man, vom moralischen Standpunkt aus gesehen, den richtigen Weg verlassen hat. Es ist zwar möglich, den für richtig gehaltenen oder als verpflichtend erkannten Weg zu verlassen, sei es aus Motiven des Trotzes oder des Protests gegen die „herrschende Ordnung“. Man mag als Desperado, Revolutionär oder Anarchist der Fuck-the-System-Regel folgen, ohne sich doch von der Moral entbinden zu können, welche dem System inhäriert, weil sie nämlich allen Systemen, soweit sie überhaupt menschlich – human, humanitär – sind, zumindest als kritische Richtlinie, der zu folgen wäre, innewohnt.

Wenn Menschen sich zusammentun, um ein gemeinsames Lebensprojekt in die Tat umzusetzen, dann folgen sie dabei einer Mischung aus mehr oder weniger „geheiligter“ Konvention („so macht man das eben“) oder einer ethischen Regel („so sollte man es machen“). Spätestens seit der Romantik wird es dann üblich, in der bloßen Vernunftehe einen Ursprung weitverbreiteten und andauernden Leids – Eheleids – zu erkennen. Sobald die Bildungsbedingungen und ökonomischen Verhältnisse die Geschlechter, nicht nur den Mann, auch die Frau, zur Selbstständigkeit befähigen, wird das Motiv der Liebe als Vorbedingung des „Bundes fürs Leben“ prägend.

Die Gefühlstiefenlagen der Menschen haben sich seit dem 19. Jahrhundert tiefgreifend verändert. Jene Liebessehnsüchte und Sexualismen, die noch die klassische psychoanalytische Schule herausragend beschrieb, sind zwar nicht weniger heftigen Emotionen gewichen; doch in einer Welt, in welcher eine größere Selbstbezogenheit (Narzissmus) und eine stärkere Ausrichtung auf die Vielfalt des Lebens (Karriere, Freizeit) den öffentlichen Ton angeben, wird auch das Liebesverlangen nicht mehr jene absolute, auf einen einzigen Partner bezogene Form annehmen, wie sie für das romantische Bürgertum typisch gewesen sein mochte. Die Egozentrizität der Beziehungen, ein spielerischeres Moment im sexuellen Umgang miteinander und das Bewusstsein, dass nichts im menschlichen Leben auf Dauer gestellt sein müsse, prägen fortan nicht nur die Intimsphäre, sondern die Kultur des ehelichen oder eheähnlichen Zusammenlebens insgesamt.

Obwohl es also heute, vom psychologischen Standpunkt aus betrachtet, für die meisten Menschen leichter sein dürfte, aus einer Liebesbeziehung „wegzugehen“ oder „auszubrechen“, bleibt nach wie vor die Frage, ob dadurch die Ehe als typischer Ausdruck einer Liebesbeziehung obsolet wurde. Und die Antwort darauf lautet: „Ja und nein.“ Zwar definiert sich die Liebe nicht mehr in erster Linie über das Ehegelübde (sie tat es auch zu anderen Zeiten nicht, es war eine kurze Phase, worin ein viktorianischer Lebensstil mit einem romantischen Gefühlsideal verschmolz). Doch gilt nach wie vor die Ehe – mit der Voraussicht eines lebenslangen Bestandes unter dem Treuegelöbnis – weithin als die beste Option, um ein einigermaßen wohlbefindliches soziales Leben zu führen (jedenfalls unter dem Vorbehalt, dass die Existenz als „Single“, als alleinstehende Person, auf Dauer keine wünschbare Alternative bietet).

Wo die Liebe ins Zentrum der Beziehung rückt und dabei aber zu einer komplexen Beziehungsstruktur führt (gemeinsamer Haushalt, eigene Kinder), dort verfällt mit der Liebespassion auch leicht der institutionelle Rahmen. Einfach „umdrehen und weggehen“ ist in solchen Fällen kein Prozedere, um den Abwendungsschaden so gering wie möglich zu halten. Deshalb muss die liberale Gesellschaft Linderung schaffen, vor allem durch die Anerkennung menschlicher Notlagen, wie sie aus der „Übernähe“ des jeweils anderen folgen.

Rechtliche Regelungen müssen, um Schadensbegrenzung nach allen Seiten hin bemüht, oftmals für eine „Entdichtung“ des engen, allzu engen Beziehungsraumes im Privaten sorgen. Im Übrigen geht diese Problematik über die familiären Aspekte des Zusammenlebens weit hinaus. Man denke exemplarisch an die Verhaltensregeln in öffentlichen Verkehrsmitteln oder im Straßenverkehr, durch welche die erzwungene Nähe zum fremden Nächsten gleichsam neutralisiert wird. Man nimmt den anderen dann nicht mehr als Person, an der man Anstoß nehmen könnte, ungefiltert wahr, sondern vor allem als Funktionsträger – als Mitfahrgast oder als Teilnehmer am fließenden Verkehr.

Doch wie sich Liebe oder Abscheu als höchstpersönliche Momente der Geschlechterinnigkeit gestalten, ist nur zu einem geringeren Teil die Frage einer Lebenskunst der Zu- oder Abwendung. Gefühle sind kulturell formbar, aber in ihrem Kern gehören sie zur natürlichen Grundausstattung der Menschen als soziale Wesen. Zugleich drängen wir – und zwar gerade als soziale Wesen – darauf, die Liebesbeziehung in einer institutionellen Form zu binden und zu modellieren. Und dabei rückt eine Regel ins Zentrum; sie ließe sich als Regel der Abwendung von der Abwendung bezeichnen. Demnach besteht die Abwendungskultur des zeitgenössischen Liebens darin, langfristige Beziehungen zu ermöglichen, indem diese nicht institutionell versteinert werden. Plakativ gesagt: Im Bewusstsein, sich „umdrehen und weggehen“ zu können, liegt der paradoxe und oftmals doch wesentlichste Grund dafür, zusammenzubleiben – „trotz allem“.

Tasuta katkend on lõppenud.