Loe raamatut: «FREMDE HEIMAT»

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Petra E. Jörns

Fremde Heimat

AndroSF 111

Petra E. Jörns

FREMDE HEIMAT

AndroSF 111

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© dieser Ausgabe: August 2020

p.machinery Michael Haitel

Titelbild: Crossvalley Smith †

Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda

Korrektorat & Lektorat: Michael Haitel

Herstellung: global:epropaganda

Verlag: p.machinery Michael Haitel

Norderweg 31, 25887 Winnert

www.pmachinery.de

für den Science Fiction Club Deutschland e. V., www.sfcd.eu

ISBN des Printbuches: 978 3 95765 196 9

ISBN dieses E-Books: 978 3 95765 892 0

Die Erde ist verloren. Syrakuse, die Marskolonie und Paradise – alle in der Hand der Irhog. Gebe Gott, dass Genevieve und Mutter nicht lange leiden mussten.

Persönliches Logbuch, Commander Jean-Pierre Delacroix, Sydney

1.

Nein, durchschoss es Alan. Das war nicht real. Das konnte nicht real sein. Gleich würde er aufwachen und feststellen, dass das alles nur ein Albtraum war.

»Die Afrika ruft uns.« Yaels Stimme schien von weit weg zu kommen, obwohl sie direkt neben ihm saß. Ihr Gesicht wirkte im roten Licht des Feindalarms wie eine Maske.

»Ich höre«, rief Commander Delacroix.

Ein Beben lief durch den Boden unter Alans Füßen.

»Treffer!«, bestätigte Jäggi von der Schadenskontrolle. »Offiziersmesse.«

Delacroix blieb ganz ruhig: »Feuer nach Belieben, Mister Fiorentino.«

»Aye, Sir«, antwortete Dean von der taktischen Konsole sofort.

Auf dem Displayausschnitt seines 3-D-Monitors konnte Alan den nächsten Fächer der Geschosse erkennen, die auf sie zurasten. Seine Finger tauchten in die Matrix hinein, zogen und stauchten sie. Das Displaybild änderte sich.

»Rückzug«, krächzte eine Stimme aus dem Interkom. »Verteidigen Sie die zivilen Schiffe.«

»Aye, Admiral Ousseni!«, erwiderte Delacroix.

Ousseni war der Oberkommandierende der Flotte. Vielleicht war ja doch noch nicht alles verloren! Alan wagte kaum, zu hoffen.

»Übermitteln Rückzugsvekt…« Die Stimme des Admirals ging in einem Rauschen unter.

Jemand wimmerte.

»Mister Nguyen!«, blaffte Delacroix.

Die Geschosse verfehlten sie, aber die nächsten folgten schon.

Ausweichen. Er musste den Geschossen ausweichen, mahnte sich Alan.

Seine Finger spielten mit der Matrix. Ein Wimpernschlag brachte ihn tiefer hinein, bewegte ihn vorwärts. Ohne dass er darüber nachdenken musste, schnippte er hier einen Vektor beiseite, holte dort einen heran. Sah Bilder, wo keine waren, ordnete neu an, ohne erklären zu können, woher er wusste, was richtig war.

»Mister Nguyen!« Delacroix' Stimme klang zornig.

Warum antwortete Nguyen nicht endlich, wunderte sich Alan. Er brauchte endlich diesen verdammten Rückzugsvektor, den Ousseni an Nguyens Konsole übermitteln wollte. Damit er mit seiner Hilfe den Kurs für die Sydney berechnen konnte, um der Flotte zu folgen.

»Die … die Afrika wurde getroffen.« Yaels Stimme.

Ganz nebenbei wich Alan einem Angriff aus. Das war knapp gewesen. Für einen Herzschlag schien die Zeit stillzustehen. Alan atmete aus, und die Matrix wich zurück.

Da zerbrach das Echo der Afrika auf dem Display und wurde zu einem Mückenschwarm aus Trümmern. Wie viele Menschen hatten sich an Bord des Trägerschiffes befunden? Zweitausend? Dreitausend?

Die Matrix geriet in Unordnung. Schweiß tropfte von Alans Kinn. Mit einem Wimpernschlag tauchte er wieder in die Matrix hinein, schob Vektoren von links nach rechts, tupfte den einen zusammen und zog einen anderen heraus.

»Die Australia …« Yael wieder. »… tot.«

Damit hatten sie noch ein Trägerschiff verloren.

Das Rauschen des Interkoms füllte wieder die Brücke. Vage war darin Oussenis Stimme zu hören. »… Rückzug … alle Schiffe …«

Eine andere Stimme löste Admiral Ousseni plötzlich am Interkom ab. »Decken Rückzug. Heathcote Ende.« Heathcote kommandierte die Europa.

Alan konnte den Punkt in der Matrix identifizieren, der die Europa markierte. Die Matrix konfigurierte sich um. Neue Mückenschwärme kamen auf sie zu. Ohne nachzudenken, schob, tupfte und glättete er. Ausweichmanöver um Ausweichmanöver. Seine Hände schienen ohne sein Zutun zu arbeiten. Er wagte nicht zu blinzeln, aus Angst, den Faden zu verlieren.

Wie lange noch? Ein Fehler nur, egal wie winzig, und sie waren alle tot. Wann antwortete Nguyen endlich? Kapierte dieser Idiot nicht, dass sie alleine zurückbleiben würden, wenn die anderen Schiffe sprangen, ehe er mithilfe des Rückzugsvektors einen Sprungkurs berechnen konnte?

»Erde unter Beschuss.« Wieder Yael.

Ein Geschossfächer lief an ihnen vorbei. Noch einer. Keine Zeit zum Atmen.

»Wo bleibt der verdammte Rückzugsvektor?«, brüllte Commander Delacroix.

»Sir, ich weiß es nicht. Oh, mein Gott. Das ist New York. Nein.« Yael keuchte. »Paris. Moskau …«

Ein Schauer lief über Alans Rücken. Das war nicht real. Das musste ein Traum sein!

»Kanal zur Afrika«, fauchte Delacroix.

Yael antwortete prompt: »Kanal steht.«

Es rauschte. Ein Beben lief durch den Brückenboden.

»Komm ausgefallen«, krächzte Jäggi.

Alan verbiss sich einen Fluch. Verdammt, sie hatten den Sprungvektor immer noch nicht erhalten!

»Die Antarctica springt.« Yael.

Die Matrix auf Alans Monitor geriet in Unordnung. Ein Punkt im Display verschwand.

»Weg hier. Mister McBride, nehmen Sie den Sprungvektor der Antarctica!«

»Aye, Sir«, antwortete Alan.

Er schaffte das. Wenn jemand den Sprungvektor eines anderen Schiffes aus der Matrix herausfischen und berechnen konnte, dann er. Hatte er denn eine Wahl? Er musste ihn einfach finden. Sonst würden sie den Rest der Flotte nie wiedersehen.

Ein weiterer Punkt verschwand, verwässerte die Daten auf dem Monitor.

»Verdammt!«

Fast. Er war so nah dran gewesen.

Alan biss sich auf die Lippen. Weitere Punkte folgten dem ersten. Die Vektormatrix waberte. Die Sprungechos zerstörten jedes Bild, das im Chaos auftauchen wollte. Das war hoffnungslos.

»Zu viele Interferenzen«, antwortete er.

»Dann berechnen Sie einen Sprungvektor zu Delta-Neun!« Delacroix' Stimme war keine Emotion anzuhören.

»Aye, Sir.«

Neue Geschossfächer wanderten auf sie zu.

Ausweichmanöver. Noch eines. Alans Finger zupften ein Fenster auf, um den Sprungvektor zu legen.

»Mister McBride«, mahnte Delacroix.

»Washington, Rio de Janeiro, Boston …« Yael schluchzte. »Nein, oh nein.«

Boston.

Mutter …

Ein Traum, nur ein Traum.

»Mister McBride!«

Der Boden vibrierte einmal, zweimal.

»Mannschaftsdeck«, schrie Jäggi.

Die Matrix auf Alans Monitor verschwamm. Er wischte sich übers Gesicht und fühlte die Nässe. Tränen? Auf dem Monitor schälte sich der Sprungvektor aus dem Datenwust.

»Bereit.« Alans Stimme zitterte.

»Sprung.«

Alan stand im Schott zur Krankenstation.

»Raus hier«, herrschte Doktor Hayes ihn an. Die roten Locken hingen ihr ins Gesicht.

Jemand schrie. Von anderer Stelle ertönte ein Wimmern.

Das Neonlicht entblößte das Blut und den Ruß, zerfetzte Gliedmaßen und zerstörte Gesichter. Die Luft schmeckte nach Blut und Ozon.

In Alans Kehle würgte es. Er wollte hier weg.

»Ruhig, ruhig.« Marjas Stimme.

Alan entdeckte ihre zierliche Gestalt neben einer der Behandlungsliegen. Sie beugte sich über einen Crewman, dessen Seite durchtränkt war von Blut. Das Zischen ihres Injektors beendete das Wimmern.

Hayes ließ Alan stehen und wandte sich einem Verletzten zu. Sein Gesicht war blutig verkohlt.

Wurde zu dem von Alans Mutter. »Alan …« Sie streckte die Hand nach ihm aus.

Mit einem Schrei stolperte er rückwärts. Stürzte. Fiel.

Schweißgebadet schreckte Alan hoch. Er keuchte. Dunkelheit umgab ihn, aus der sich langsam der Schein der Fotos schälte, die auf dem Klapptisch neben seiner Pritsche standen. Mit einem Ruck schwang er die Beine über den Rand des Betts und wischte sich mit zittrigen Fingern übers Gesicht.

Schon wieder dieser verfluchte Albtraum!

Sein Blick wanderte zu den Fotos. Mutter lachte ihn wie immer an, mit Händen voll Blumenerde, zerzausten langen Haaren und verdrecktem T-Shirt. Sie hatte ihren Garten so sehr geliebt, ihn und ihre Katzen und Vögel.

Alan griff nach dem Foto und ließ mit einem kurzen Druck auf die Rahmenecke die Bildsequenz ablaufen, die darauf gespeichert war. Mutter ließ die Erde fallen, wischte sich über die Stirn und lachte, als ihr klar wurde, dass nun eine Schmutzspur ihr Gesicht durchzog. Ein Mann tauchte neben ihr auf, ging in die Hocke und reichte ihr einen kleinen Baum. Sie sah erst auf den Baum, dann in das Gesicht des Mannes und lächelte ihn an.

Es war Alan.

Ein jüngerer Alan, in Jeans und Achselhemd, die die Härte seines Körpers entblößten, ohne die Uniform eines Junior Lieutenants der Erdflotte, mit zu langen Haaren, die in goldenen Strähnen in sein Gesicht hingen.

An dieser Stelle fror die Aufzeichnung ein und wechselte zum Anfangsbild.

Behutsam stellte Alan das Bild zurück auf den Klapptisch, ließ den Blick über die anderen wandern, die dort noch standen: das Hochzeitsbild seiner Schwester Mhaire mit Ed, ihrem Mann, und den Eltern; Mhaire mit Linda und Jeremy an Jeremys drittem Geburtstag. Die Torte mit den drei Kerzen war gerade noch im Vordergrund zu sehen und Jeremy blies die Backen auf, um sie auszupusten. Es gab kein Bild, das seinen Vater allein zeigte.

Sie waren tot.

Alle.

Die Crewmitglieder der Sydney waren die letzten Überlebenden.

Ein Traum. Das alles war nur ein Traum.

Tränen rannen über sein Gesicht und tropften von seinem Kinn auf den Boden. Es war kein Traum. Es war die Realität.

Er biss sich auf die Lippen, um den Schrei hinunterzuschlucken, der in seiner Kehle nach oben drängte. Schmeckte Blut und Tränen. Bemerkte nebenbei, dass der Schrecken abgenommen hatte innerhalb der drei Monate, seit die Erde gefallen war. Oder hatte er sich nur daran gewöhnt?

Und sie würden auch bald tot sein. Nur noch fünf oder sechs Wochen, dann würden sie nichts mehr zu essen haben. Und wenn sie den Hyperantrieb benutzten, würden sie schon vorher erfrieren oder ersticken.

Gott, es musste eine Lösung geben. Es musste einfach so sein. Wozu hatten sie das Massaker im Solsystem überlebt, wenn sie jetzt verhungern mussten? Wo war da der Sinn?

Und wenn es keinen Sinn gab? Wenn das alles nur ein gigantischer Scherz war, Zufall, Willkür? Was dann?

Nein. Das akzeptierte er nicht.

Also doch die Krail-on?

Alan griff nach dem Notepad, das neben den Fotos lag, aktivierte es und scrollte durch die Daten.

Zu kriegerisch, um Handelsbeziehungen aufzubauen, lautete die Kategorisierung der Erdregierung. Boldens Bericht sagte etwas anderes.

Bushido, so hätte Katsuko es genannt.

Katsuko …

Katsuko war tot.

Er sah ihr Gesicht, milchweiß und starr, umrahmt von einer Wolke schwarzer Haare in einem See aus Blut auf dem Bett in ihrer Kabine.

Er hätte es wissen müssen. Er hätte sie retten können. Er …

Hör auf damit, mahnte er sich. Er konnte nichts mehr daran ändern. Sie war tot, genauso tot wie Vater und Mutter und Mhaire und Ed und Jeremy und all die anderen.

Tot, tot, tot.

Zitternd wischte er sich mit einer Hand über das Gesicht und starrte auf sein Notepad.

Katsuko …

Er glaubte, ihre Stimme zu hören. Sie lachte leise. Das hatte sie immer getan, wenn er sie nicht verstand. »Bushido. Du lebst danach und du kennst es nicht. Du bist ein seltsamer Mann, Alan McBride. Hat dir dein Shojo nie davon erzählt? Leben und Tod sind eins. Was unterscheidet das Leben vom Traum? Wichtig ist am Ende doch nur, wie du gelebt hast und wie du gestorben bist. Ist es da nicht gleichgültig, wann du stirbst?«

Sie hatte recht. Wichtig war nur, dass er alles versucht hatte, um die Crew der Sydney zu retten.

Also die Krail-on.

Ohne Rücksicht auf die Konsequenzen.

Der rote Alarm überraschte ihn auf dem Weg zur Brücke. Er spurtete durch die schmalen Gänge, die getränkt waren in rotes, blinkendes Licht. Der Alarm schrillte in seinen Ohren.

Pola saß am Steuer. Mit ihr als Pilot waren sie bei einem Angriff so gut wie tot.

»Aus dem Weg!«, schrie Alan.

Der Crewman im Gang versuchte, zur Seite zu springen, um ihm Platz zu machen.

Rücksichtslos stieß Alan ihn beiseite und rannte weiter. Vorbei an weiteren Mannschaftsmitgliedern, die sich an die Wand drückten, um ihm Platz zu machen.

Das Quäken des Alarms wurde unerträglich.

Schneller.

Der Zugang zur Brücke tauchte am Ende des Ganges auf. Eine Frau drückte sich an die Wand, als Alan an ihr vorbeihetzte. Nach Atem ringend und schweißnass stand er vor dem Schott, bis es sich endlich öffnete und den Blick auf die Brücke freigab.

Er stürzte hinein, auf die Pilotenkonsole zu, vor der Pola saß. Kommentarlos ließ er sich neben ihr in den Sitz des Co-Piloten fallen und schaltete mit einem Handgriff die Steuerung auf sein Pult um.

Der Monitor füllte sich mit Daten. Aber da waren keine Angreifer.

»Bericht«, fauchte Alan in Polas Richtung.

Das Quäken des Alarms brach ab. Die Stille danach war ohrenbetäubend.

»Bericht!« Das war Mabutos Stimme.

»Sir, wir …« Polas Blick irrte von Alan zu Mabuto, der die Brücke hatte.

Der zweite Offizier stand vor dem Kommandostuhl. In seinem ebenholzfarbenen Gesicht regte sich kein Muskel.

»Sir?«, wandte sich Alan an ihn.

Mabuto sah ihn an, als bemerke er erst jetzt, dass Alan auf der Brücke war. Bedächtig wandte er sich seiner Konsole zu. »Brücke an Commander. Mabuto spricht. Commander Delacroix auf die Brücke! Alphacode. Bestätige: Alphacode. Wir haben Kontakt. Eine Nachricht von der Antarctica

Träumte er etwa schon wieder?

Die Antarctica war vor der Sydney gesprungen. Sie konnte es geschafft haben. Himmel, das war zu schön, um wahr zu sein.

»Mister McBride, versuchen Sie den Ursprungsort des Signals zu ermitteln!«

Yael tippte einige Befehlssequenzen ein und ein Wust von Daten erschien auf Alans Monitor. Seine Finger krampften sich immer noch um das Notepad. Es fiel ihm schwer, die Finger zu lösen, damit er es in die Tasche stecken konnte.

Später, mahnte er sich. Aber sie hatten Kontakt zur Antarctica. Vielleicht brauchten sie die Krail-on gar nicht mehr. Warum freute er sich dann nicht?

Seine Finger glitten langsam aus seiner Tasche, während er die Zahlen auf dem Monitor überflog. Die Struktur, die ihnen zugrunde lag, sprang ihn nahezu an. Zwei Befehle und er hatte die Daten neu angeordnet.

Besser. Aber das war eine bezugslose Hyperfunksendung. Wieso sagte der Zwei-O, sie hätten Kontakt? Das war Unfug. Das war nichts. Gar nichts. Nur ein Schrei ins All in der Hoffnung, dass ihn jemand hörte. Selbst wenn die Sydney mit größtmöglicher Geschwindigkeit an den Ursprungsort des Signals flog, konnte die Antarctica schon wieder ganz woanders sein, bis sie sie erreichten. Warum tat Admiral Nishimura das? Die Irhog konnten doch mithören. Warum verriet er sich ihnen? Was sollte das?

»Wir leben noch. Ihr seid nicht allein.« Das wollte er ihnen damit sagen. Der Sydney und all den anderen, die das Massaker überlebt hatten. Nishimura riskierte sein Schiff und all die Leben darauf, um ihnen das zu sagen.

Das war Irrsinn. Oder reine Verzweiflung. Aber Nishimura war der beste Stratege der Flotte. Es musste ein Sinn darin liegen, dieses Risiko einzugehen.

Keine Zeit dafür. Er musste sich auf die Daten konzentrieren. Ein paar Suchalgorithmen, ein paar Permutationen und er hatte den Ursprungsort des Signals. Mit ein paar Befehlen stülpte Alan eine Sprungmatrix darüber und ermittelte die Kursvektoren.

Der Rand des Pferdekopfnebels hinter dem Krail-on-Raum. Alan starrte auf sein Ergebnis.

Das ergab Sinn. Der Admiral hatte die gleiche Idee wie er gehabt. Der Nebel störte die Sensoren gewaltig und machte das Aufspüren selbst dann schwierig, wenn man wusste, wo man suchen musste, und die Krail-on waren gutes Kanonenfutter, um die Irhog von der kleineren Beute abzulenken. Dort konnte man die verbliebenen Schiffe sammeln und unterwegs Proviant und Energiereserven aufnehmen, um dann das weitere Vorgehen zu planen. Und jetzt rief Nishimura seine Schäfchen zusammen.

»Die Antarctica! Die Antarctica. Das ist unglaublich!« Dean packte Alan an den Schultern und schüttelte ihn. Außer Atem und mit erhitztem Gesicht hielt er inne. Seine Augen strahlten. »Ich könnte dich küssen!«

Sie waren unterwegs zum Besprechungsraum, wohin der Commander alle Offiziere gebeten hatte, um über das weitere Vorgehen zu beraten. Ein Crewman, der vor ihnen den Gang entlang eilte, warf einen Blick zurück, bevor er um eine Ecke verschwand.

»Lass das!« Mit einem Ruck befreite sich Alan aus Deans Griff. Ihre Schritte hallten auf dem Stahlblech des Bodens wider.

Dean deutete im Laufen einen Schlag gegen Alans Nieren an, doch Alan blockte ihn ab. »Ich sagte, lass das.«

»Was ist los mit dir? Freust du dich nicht? Wir sind gerettet. Die Antarctica ist ein Trägerschiff. Die haben jede Menge Platz an Bord, Lebensmittel, Medikamente, Energiereserven …«

»Träum weiter!« Alan blieb stehen. »Bist du so naiv oder tust du nur so?«

»Wie meinst du das?« Das Feuer in Deans dunklen Augen erlosch.

Er war ein Idiot! Dean konnte nichts für ihre Situation. Es war nicht fair, wenn er seine Wut an ihm ausließ. »Tut mir leid«, murmelte Alan und ging weiter.

Aber Dean verbaute ihm den Weg. »Wie meinst du das? Los! Wenn du mehr weißt als ich, dann erklär es mir!«

Deans Blick war nicht zu ertragen. Alan starrte an Dean vorbei den Gang entlang und dann auf den Stahlboden.

»Alan, ich bitte dich …«

»Du hast die Flüchtlinge vergessen. Die Trägerschiffe wurden vor dem Kampf im Solsystem damit beauftragt, so viele Menschen wie möglich aufzunehmen. Ich kenne die Daten. Die Antarctica war die Erste, die damals gesprungen ist. Wahrscheinlich konnte sie deshalb entkommen. Es würde mich nicht einmal wundern, wenn die Antarctica nicht allein ist.« Bestimmt hatte Nishimura schon ein paar Schäfchen eingesammelt.

»Und du meinst, die Flüchtlinge …«

»Die Antarctica dürfte mit all den Flüchtlingen an Bord ihre Versorgungskapazitäten weit überschritten haben. Ich befürchte, dass sie schlimmer dastehen als wir. Nein, sie können eigentlich nur überlebt haben, wenn sie irgendwo Proviant und Energiereserven aufnehmen konnten. Da bin ich sicher.«

»Du meinst, sie haben die Krail-on kontaktiert? So, wie du es dem Commander vorschlagen wolltest?«

»Nein.« Alan schüttelte den Kopf. »Die Antarctica ist ein Trägerschiff. Sie hat wesentlich mehr Feuerkraft als die Sydney. Für sie dürfte es ein Leichtes gewesen sein, einen unserer Versorgungsstützpunkte von den Irhog zu erobern. Im Gegensatz zu uns. Wir können von Glück sagen, dass wir dem Hinterhalt bei Delta-Neun entkommen sind.« Die Worte schmeckten bitter.

»Und wo ist dann das Problem? Ich meine, wenn wir uns der Antarctica anschließen, können wir doch auch von ihrer Feuerkraft profitieren und von ihren Reserven. Du sagst doch selbst, dass sie Reserven haben müssen, weil sie sonst mit den Flüchtlingen an Bord schon längst am Ende wären.«

»Dean, der Ursprungsort des Signals lag jenseits des Pferdekopfnebels. Wenn wir dorthin fliegen, dann sind unsere Energiereserven am Ende. Dann ist es aus. Vorbei. Finito. Verstehst du?«

»Ja, aber dann haben wir doch die Antarctica …«

»Und wenn sie nicht mehr da ist? Glaubst du im Ernst, die warten auf uns, damit die Irhog kommen und sie eliminieren können?«

Deans Gesicht wurde starr. »Ich verstehe«, murmelte er.

»Es tut mir leid.« Wofür entschuldigte er sich? Etwa dafür, die Wahrheit gesagt zu haben?

»Dann sind wir trotzdem am Arsch«, sagte Dean bitter.

»Es gibt immer noch die andere Möglichkeit.«

»Die Krail-on?«

Alan nickte.

»… Rückzug … befehle allen … sich unter … sammeln … wiederhole … allen … Erdstreitkräften und zivilen … sammeln … Gegenschlag …«

Die ruhige Stimme schaffte es kaum, das Rauschen zu durchdringen. Aber sie gehörte unverkennbar Admiral Nishimura.

Alan erinnerte sich an ihn: ein untersetzter Japaner mit ergrauten Schläfen und kantigem Kinn. Genauso ruhig hatte Nishimuras Stimme geklungen, als dieser ihm im Auftrag der Prüfungskommission mitgeteilt hatte, dass er von der Akademie fliegen würde. Ob es Nishimura gewesen war, der sich damals für ihn eingesetzt hatte?

War das noch wichtig? Was war überhaupt noch wichtig angesichts dessen, dass fast hundert Prozent der Menschheit eliminiert worden waren? Wie viele Exemplare brauchte man eigentlich, damit eine Art überleben konnte? Ob fünfzig reichten? Mehr hatten sie nicht an Bord. Oder waren dafür mehrere Tausend nötig, wie an Bord der Antarctica?

Wie konnte da irgendein vernünftiger Mensch von Gegenschlag faseln? Mussten die Überlebenden nicht vielmehr alles tun, damit es keine weiteren Verluste gab? Sie konnten es sich nicht erlauben, auch nur einen einzigen Mann zu verlieren. Wenn das jemand begriff – dann war es Nishimura.

»Entgegen allen Gerüchten – die Nachricht ist nicht gefälscht«, begann Delacroix. Mit einem Knopfdruck fuhr er die transparente Kommandotafel vor seinem Ende des Besprechungstisches aus der Decke. Eine zweidimensionale Abbildung des bekannten Raums mit einigen Sprungvektoren erschien darauf. Es waren diejenigen, die Alan vor einer halben Stunde ermittelt hatte.

»Wir befinden uns hier, in der Nähe von Syrakuse.« Delacroix zeigte auf einen roten Punkt. Bevor die Irhog Syrakuse erobert hatten, war er blau gewesen. Das Gleiche galt für Epsilon 5, Paradise, den Mars und die Erde. »Die Antarctica muss sich dort, am Rande des Pferdekopfnebels befinden, hinter der Grenze des Krail-on-Raums. Wir würden drei bis vier Wochen brauchen, bis wir dort sind, je nachdem welche Sprungroute wir wählen. Aber selbst wenn wir der Antarctica eine Nachricht schicken, dass wir kommen, ist die Wahrscheinlichkeit, dass wir sie am Ursprungsort der eingegangenen Nachricht vorfinden, verschwindend gering. Denn wir können den Hyperfunk zwar auf den Ursprungsort ausrichten, aber wenn die Antarctica ihn wieder verlassen hat, kann es Wochen dauern, bis er sie erreicht. Ob die Antarctica dann zum Ursprungsort zurückkehren kann, bevor uns die Energiereserven ausgehen oder die Irhog uns finden, ist mehr als fraglich. Meinungen?« Delacroix blickte in die Runde.

Racek, der Chief, meldete sich als Erster zu Wort. »Selbst wenn wir soviel Energie sparen, wie uns möglich ist, bleibt uns am Zielort nur eine Woche, bis die Reserven erschöpft sind. Verflucht wenig Zeit, um die Antarctica zu finden, wenn Sie mich fragen, Sir.«

Himmel, wie konnte er das so leidenschaftslos sagen, wunderte sich Alan.

»Wie ich schon wiederholt betonte –« White reckte sich bei den Worten, sodass ihr die schwarzen Haare ums Kinn strichen. »– sollten wir einen weiteren Versorgungsstützpunkt ansteuern. Es ist das Risiko wert. Wenn wir noch länger zögern, haben wir keine Chance. Sir.«

White, die Giftspritze, dachte selbst jetzt noch nur daran, sich zu profilieren.

Der Commander schien gewillt, dies zu ignorieren. Stattdessen sah er die Ärztin an.

Hayes seufzte. »Also wenn Sie mich fragen, ist es völlig gleichgültig, was wir tun. Die Hauptsache ist, dass wir etwas tun. Wenn wir weiterhin in diesem Zustand der Apathie verharren, werden weitere Selbstmorde nicht ausbleiben. Aber das habe ich Ihnen bereits vor einer Woche gesagt.« Sie strich über die Tischplatte. »Es tut mir leid, Sir.«

Warum hatte Hayes nicht an diese Entwicklung gedacht, bevor Katsuko …

Delacroix fixierte die Kommandotafel.

Bushido.

Alan zog sein Notepad aus der Tasche. Es war schwerer, als er es in Erinnerung hatte. Seine Finger strichen über das Display. Tat er das Richtige? Oder hatte er sich da in etwas verrannt?

»Wo ist Mister Mabuto?«

Alan sah auf. Tatsächlich, Mabutos Stuhl zu Delacroix’ Linken war unbesetzt.

»Doktor Hayes?«

»Sir.« Hayes steckte eine rote Locke in den schief sitzenden Knoten an ihrem Hinterkopf. »Ich glaube nicht, dass dies der Rahmen ist, um über Mister Mabutos … Probleme zu diskutieren. Wir haben bereits darüber gesprochen. Sie kennen meine Meinung dazu.«

»Bei allem Respekt. Sie wissen, dass ich sein Verhalten nicht länger dulden kann. Wenn Sie es ablehnen, Konsequenzen zu ziehen, dann werde ich es tun. Überlegen Sie, was besser für ihn ist.« Die Miene des Commanders wurde eisig.

»Ja, Sir«, erwiderte Hayes und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Noch irgendwelche Vorschläge?« Delacroix blickte zu den Plätzen am unteren Ende des Tisches, wo Dean, Alan und Nguyen saßen, bevor er ohne Umschweife fortfuhr. »Misses White, welchen Stützpunkt schlagen Sie vor?«

Jetzt oder nie.

Alan räusperte sich. »Sir, mit Verlaub. Aber ich hätte noch einen Vorschlag zu machen.« Das Notepad schien Tonnen zu wiegen.

White hob die Augenbrauen.

Der Commander musterte Alan, bevor er ihm zunickte. »Nur zu, Lieutenant.«

Mit einem Schnauben lehnte sich White zurück. Ihr rechter Zeigefinger klopfte mit der Schnelligkeit eines Sekundenzeigers auf den Tisch.

»Wir sollten die Krail-on um Hilfe bitten. Wenn wir den Kursvektor B nehmen, kreuzen wir ohnehin ihren Raum. Es wäre sicherlich aussichtsreicher, als einen Versorgungsstützpunkt aufzusuchen. Die Irhog kennen vermutlich alle Standorte. Entweder sind die Stützpunkte leer oder die Irhog warten dort auf uns.«

»Sir?« White wartete die Antwort des Commanders nicht ab. Sie fixierte Alan mit honigsüßem Lächeln, während ihr Finger zu klopfen vergaß. »Sicherlich erinnern Sie sich daran, dass der Erstkontakt scheiterte, Mister McBride. Was macht Sie so sicher, dass wir es besser können?«

»Weil ich glaube, dass Doktor Bolden nicht gescheitert ist. Er hat von einem ihrer Anführer eine Einladung erhalten, wurde aber zurückbeordert, weil ihm die Mittel gekürzt worden waren.«

»Oh! Dann machen Sie also die Erdregierung für Doktor Boldens Misserfolg verantwortlich.« Whites Finger fuhr fort zu tappen.

»Misses White, bleiben Sie bei der Sache.« Delacroix hieb mit der flachen Hand auf den Tisch. »Sind Sie fertig, Mister McBride?«

»Nein, Sir.«

Dean schüttelte kaum wahrnehmbar den Kopf. Aber Alan ignorierte ihn geflissentlich.

»Wir haben eine Übersetzungsdatei an Bord und alle Daten, die Doktor Bolden damals gesammelt hat. Er gibt darin klare Anweisungen, wie bei einem Kontakt mit den Krail-on zu verfahren ist. Und er schlägt sogar Handelsgüter zum Aufbau einer Beziehung vor. Schokolade, Gewürze und die Daten von Rohstoffvorkommen. Alles Dinge, die wir entbehren können.«

»Sie wollen die Krail-on also mit Schokolade bestechen. Eine amüsante Vorstellung.« White lachte.

Miststück!

Alan sah die Erste Offizierin herausfordernd an. »Mit Verlaub, Ma’m. Aber es erscheint mir aussichtsreicher, als in einen Hinterhalt der Irhog zu stolpern.«

Augenblicklich schoss White in die Höhe. »Ihr Verhalten ist impertinent, Lieutenant. Ein Versorgungsstützpunkt …«

»Misses White!«, mahnte der Commander schneidend. Dann wandte er sich mit starrer Miene an Alan. »Geben Sie mir Ihre Daten, Mister McBride. Ich werde darüber nachdenken.«

Alans Hand lag auf dem Bedienpanel des Schotts, das zum Bereitschaftsraum des Commanders führte. Er zögerte.

Hatte er sich wirklich nichts zuschulden kommen lassen bei der Besprechung? Er sollte Vorschläge machen. Er hatte White nicht übergangen. Das konnte ihm niemand vorwerfen.

Der Commander würde ihm das sicherlich nicht unterstellen. White schon. Aber White konnte ihn ohnehin nicht leiden. Immerhin, das beruhte auf Gegenseitigkeit.

Oder wusste der Commander etwa, dass er alle Doppelschichten übernahm, anstatt Pola die Hälfte zu überlassen? Aber von wem sollte er davon erfahren haben? Mabuto hatte es bestimmt nicht bemerkt – der bemerkte ohnehin nichts mehr – und hätte White es herausbekommen, hätte sie sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen, Alan höchstselbst zur Schnecke zu machen.

»Denken Sie über meine Worte nach, Mister Mabuto. Das ist Ihre letzte Chance«, hörte Alan den Commander sagen.

Im selben Moment tauchte Mabuto in der sich öffnenden Tür auf. Er stierte an Alan vorbei ins Nichts und trat aus dem Raum, ohne von ihm Notiz zu nehmen.

Der Commander wurde nun in der offenen Tür sichtbar. »Ah, Mister McBride. Kommen Sie herein.«

Alan gehorchte, schloss das Schott hinter sich, strich die Haare aus seiner Stirn und nahm Haltung an. »Sir.«

»Setzen Sie sich, Mister McBride.« Der Commander zeigte auf einen Stuhl vor dem Tisch, hinter dem er saß und auf dem mittig platziert Alans Notepad lag.

Darum ging es also.

Alan gehorchte.

In der Ecke zischelte der Kaffeeautomat. Er war der einzige Gegenstand im Raum, der ihm eine persönliche Note verlieh. Alan glaubte, Kaffeeduft zu riechen.

»Ich habe mir die Daten angesehen, die Sie zusammengestellt haben. Gute Arbeit. Wie sind Sie darauf gekommen?«

»Ich habe einen Versorgungsstützpunkt gesucht, den die Irhog vielleicht nicht kennen …« Kein guter Anfang. Das klang, als wollte er White eine reinwürgen. »… und da stieß ich auf den Namen der Krail-on. Dann habe ich die Bordbibliothek durchsucht und bin auf Doktor Boldens Bericht gestoßen. Der Rest war einfach.«

€9,99

Žanrid ja sildid

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Objętość:
620 lk 1 illustratsioon
ISBN:
9783957658920
Kustija:
Õiguste omanik:
Bookwire
Allalaadimise formaat:
Tekst
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