Krähentanz

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Krähentanz
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Table of Contents

  Prolog

  1. Sicheln und Kreuze

  2. Alte Freunde, neue Tänze

  3. Ein Sturm zieht auf

  4. Ketten in der Finsternis

  5. Die Regeln des Spiels

  6. Ein Fest des Blutes

  7. Heimwärts

  Epilog

Gottesauge II

Krähentanz

Philipp Schmidt

© 2015 Begedia Verlag

© 2015 Philipp Schmidt

Cover, Umschlagbild und Illustration – Birgit Gabrysiak

Korrektur und Satz – André Piotrowski

Lektorat und ebook-Bearbeitung – Begedia Verlag

ISBN – 978-3-95777-046-2

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Prolog

»Ich sehe … ich sehe …«

»Was siehst du?«, drängte der schnurrbärtige Mann, auf dessen garstigem Gesicht die Pockennarben in der Aufregung zu glühen schienen.

»Was siehst du?«, fragte er noch eindringlicher als zuvor.

Doch das Mädchen schwieg. Ihr kleiner, von zwei zu groß anmutenden Ketten fixierter Brustkorb hob und senkte sich schnell, dann wurde ihr Atem flacher und erstarb schließlich ganz.

Der Kaiser schüttelte verärgert den Kopf. »Ist sie tot?«

Die Köpfe der übrigen Anwesenden beugten sich vor. Ihre Blicke begutachteten den winzigen Körper. Nach der langwierigen Tortur, die er über sich hatte ergehen lassen müssen, lag er nun still und friedlich.

Der Aushorcher rüttelte an dem geschorenen Kopf des Mädchens. Diese ganze Sache mit der Kleinen war nicht der erste Versuch, und wenn auch dieser fehlschlüge, musste er befürchten, der Kaiser würde seine Enttäuschung an ihm auslassen.

Die zwei Zwillinge, äußerlich so ähnlich wie Mann und Frau einander nur sein konnten, tauschten ein gehässiges Grinsen aus. Sie freuten sich bereits auf die Strafe, welche den hässlichen Bischopos ereilen würde, zuckten aber gleich den anderen Vertrauten des Kaisers zusammen, als die Augen des Mädchens mit einem Mal zu flimmern begannen und der leichenblasse Mund unversehens Laute formte, die klangen, als würden diese aus weiter Ferne kommen.

»Feuer. Ich sehe … Flammen. Sie züngeln, lodern, tanzen an den Haaren eines Mannes … Nein, die Flammen sind seine Haare.«

»Weiter!«, verlangte der Bischopos, mühevoll Schreck und Erregung in seiner Stimme unterdrückend.

»Tanz mit mir, tanz mit mir«, murmelte das Mädchen. »Tanz mit mir, tanz mit mir«, flötete es unheimlich in einem fort, »dreh dich im Kreis.«

»Wer tanzt?«, unterbrach der Bischopos den entrückten Singsang.

Die Zwillinge deuteten eine festliche Geste an und lachten gehässig über den pikierten Gesichtsausdruck zweier Priester, die mit ihrem Bischopos bangten, bis der Kaiser, der neugierig auf das Kind starrte, sie mit einem Zischlaut zum Schweigen brachte.

»Wer ist der Tänzer?«, wiederholte er die Frage in der ganzen Macht seiner Autorität.

Die gefesselten Hände des Mädchens verkrampften sich, ihr Geist drohte zu entfliehen. Einer der Priester reagierte schnell, fuhr der Kleinen mit einem feuchten Tuch über die Stirn und wischte dann damit die Schweißperlen an Hals und Armen ab.

»Sie sind zu zweit«, murmelte das Kind unter Qualen, »sie haben einen Pakt geschlossen.«

Die Worte wurden noch leiser. Bischopos, Kaiser und Priester berührten mit ihren Ohren jetzt fast die bläulich angelaufenen Lippen, um sie zu verstehen.

»Krähe und Spielmann im Feuer vereint«, es war kaum mehr als ein Flüstern, »Schlange und Schwinge nicht Feind, sondern Freund …«

»Die Schlange!«, rief der jüngere der beiden Priester aus. »Sie sieht den Teufel!« Der Kaiser stieß ihn weg, dass er hinfiel.

»Was wollen sie? Wohin werden sie gehen?«, schrie er das Medium an. Seine Miene unter der goldenen Krone war rot vor Zorn, aber wenn man genau hinsah, und das tat das Mädchen mit seinem letzten Blick, war auch ein Hauch Unsicherheit darin zu lesen und noch etwas anderes … etwas, das weder zum Zorn noch zur Unsicherheit passen wollte … eine wissende Arglist. Ja, der Mann mit der Krone gaukelte dem Fiesling mit den Pockennarben etwas vor …

Den sterbenden Lippen gelang ein Lächeln.

»Sie kommen.«

1. Sicheln und Kreuze

Kraeh lehnte am Stamm eines Baumes, dessen Krone ihm notdürftigen Schutz vor dem prasselnden Regen bot. Er war nicht mehr der Ohm des kleinen Dorfes, das er ein für alle Mal hinter sich gelassen hatte, als er zu seiner eigenen Grabstätte aufgebrochen war. Aber der junge Krieger, von dem er erzählt hatte, war er auch nicht mehr – ganz und gar nicht. Seine Glieder schmerzten von dem kurzen Stück Weges, das er die letzten beiden Tage hinter sich gebracht hatte. Am schlimmsten machte ihm sein Rücken zu schaffen. Nach langem Versuchen, eine angenehme Position zu finden, hatte er sich zuletzt damit abfinden müssen, dass seine Wirbelsäule ihm keine Ruhe vor dem Schmerz gönnen wollte. Ein Ächzen entfuhr ihm, wie er Lidunggrimm, das Schwert, das ihm vor so vielen Jahren zum Geschenk gemacht wurde, aus seiner Scheide zog. Er hob die Klinge nahe vors Gesicht. Der blanke Stahl wirkte unverändert jung und selbstbewusst, strotze nur so von Kraft, Zuversicht und Tatendrang – ganz im Gegensatz zu ihm.

Er erinnerte sich an ihren letzten Kampf. Allein dem Schwert und einer guten Portion Glück war es zuzuschreiben, dass er ihn überlebt hatte. Wären die Grabschänder weniger überrascht gewesen und der letzte seiner Gegner nicht im rechten Moment auf dem glitschigen Moos ausgerutscht, hätte er dem jungen Mann kaum mehr etwas entgegenzusetzen gehabt. So war der Narr geradezu in seine Klinge gestolpert und dennoch hatte Kraeh die Kraft gefehlt, ihm einen schnellen Tod zu bereiten. Augenblicke, die ihm wie eine Ewigkeit vorgekommen waren, hatte es ihn gekostet, Lidunggrimm frei zu bekommen, um erneut zuzustechen und den Stahl in der Wunde umzudrehen, bis der Mann aufgehört hatte zu strampeln.

Möglicherweise wäre es das Beste gewesen, er hätte sich seinem Schicksal ergeben, hätte der Wahrheit ins Auge geblickt und seinen Platz auf dieser Welt dem Jüngeren geräumt. Doch halt, es gab kein Schicksal – nicht mehr. Er selbst hatte die Menschen mit einem einzigen Streich von den Nornen befreit. Wie dem auch sei, er war am Leben, die anderen hingegen nicht. Sollte das auch weiterhin so bleiben, musste er einen Weg aus dieser Wildnis finden. Er hatte Hunger und die kleine Stichwunde an seinem Oberschenkel, zum Glück die einzige, die er aus dem Kampf davongetragen hatte, wollte einfach nicht verheilen. Er senkte Lidunggrimm und schob seine verdreckte Tunika hoch. Der Dolchstoß hatte beim Herausziehen sein rechtes Beinkleid aufgeschnitten, sodass er nun direkt auf den kleinen Rinnsal Blutes sah, der zwischen den beiden runzligen Hautlappen hervorquoll. Früher hätte er sich darüber keine Sorgen gemacht. Nie hatte er Wundbrand erlitten. In seiner jetzigen Verfassung jedoch bot der Anblick durchaus Grund zur Beunruhigung.

Ein dicker Regentropfen fiel ihm auf die Stirn und er wurde sich hüstelnd seiner durchnässten Stiefel bewusst. Es war erst früher Nachmittag, aber die dunklen Wolken über ihm und seine Erschöpfung gaukelten ihm ein nächtliches Empfinden vor. Er war sich nicht sicher, noch eine Nacht im Freien zu überleben, also sammelte er die letzten Kraftreserven und zwang sich auf die Beine.

Benebelt von Schmerz und Anstrengung schleppte er sich durch das Unterholz. Der Regen wurde gegen Abend schwächer und Kraeh spürte, wie die Verzweiflung sich von seinem leeren Magen aus immer weiter ausbreitete, bis sie seine Kehle erreichte und drohte ihm die Luft abzuschnüren. Bald würde er sich der Erschöpfung hingeben müssen, bald würde er fallen und nicht mehr in der Lage sein aufzustehen. Die Befürchtung bewahrheitete sich. Eine Wurzel, die er unter der Decke toten Laubes übersah, brachte ihn zum Straucheln. Er fiel der Länge nach hin, wirbelte dabei einige Blätter auf und blieb, das Gesicht im Matsch versenkt, liegen. Es schien ihm, als würde die Erde ihn zu sich rufen, und er hatte keinen Willen mehr, sich diesem Ruf zu widersetzen.

Die Zeit verstrich. Der Nieselregen auf seinem Rücken war wie eine Melodie – ein Lied, das ihn auf die andere Seite geleiten würde … Irgendwo vor ihm raschelte es. Er stützte sich auf die Ellbogen und hob den Kopf ein wenig an. Die Ursache des Geräuschs war schnell gefunden. Ein Fuchs war auf Kraehs Bewegung hin stehen geblieben, die Schnauze schnüffelnd nach oben gereckt. Es dauerte eine Weile bis er den Alten wahrnahm, da der Wind seinen Geruch seitlich verwehte. Als sich ihre Blicke schließlich trafen, schien der Räuber nicht sonderlich beeindruckt. Gemächlich tapste er in einem Bogen um den Gestürzten herum weiter. Kraeh sah ihm nach. Plötzlich erkannte er einen schmalen Lichtkegel, keine zwei Steinwürfe von ihm entfernt, der sich aus dem Dunkel der Nacht abhob. Ohne Zweifel ein Feuer. Das war es, was er gebraucht hatte: ein Ziel, für das sich das Weitermühen lohnte. Er kam auf die Beine. Sie waren verkrampft, taten aber ihren Dienst. Taumelnd erreichte er das Lagerfeuer, um das eine Handvoll Gestalten saß, deren Gesichter er nicht erkennen konnte, da sie in Anbetracht der Witterung unter Kapuzen verborgen waren. Seine Hand hob sich zum Gruß, doch die Stimme versagte ihm und er sackte in sich zusammen, ehe er ein Wort herausbrachte.

 

* * *

Das Erste, was er beim Aufwachen wahrnahm, war die Taubheit seines rechten Beines. Sie hatte den Schmerz abgelöst. Panisch richtete er sich auf und ließ sich sogleich wieder sinken, erleichtert durch die Tatsache, dass sein Bein noch war, wo es hingehörte.

»Ich habe die Wunde gereinigt«, ertönte eine Frauenstimme neben ihm.

Kraeh verrenkte sich den Kopf bei dem Unterfangen, seine Retterin in den Blick zu bekommen. Alles, was er sah, war ein wenig anmutendes Profil, aus dem eine zu lange Nase herausstach, flackernd beleuchtet von dem Schein eines Feuers. Dank murmelnd, ließ er seinen Nacken knacken, indem er das Gesicht dem verhangenen Himmel zuwandte.

Er gab sich den Anschein zu dösen, während er die Wärme des Feuers aufsog und dem Gespräch lauschte, das die fünf, in der Gegend offenkundig Fremden, führten. Es dreht sich um ihn. Die unansehnliche Frau, die sich ihm in seiner Ohnmacht angenommen hatte, bestand darauf, von ihrem bisherigen Plan abzurücken und ihn zumindest in ein unweit gelegenes Dorf zu schaffen, wo man sich um ihn kümmern könnte. Zunächst widersprach ihr nur einer der vier Männer. Sein Akzent verriet, dass er nicht aus den Rheinlanden stammte. Seine Stimme war tief und besonnen, doch lag unverkennbar auch eine Spur Beunruhigung darin.

»Heilige Isabel«, sagte der Mann gedämpft, »Ihr wisst, was Pater Derivell gesagt hat: ›Keine Umwege, keine überflüssige Rast, begebt euch auf schnellstem Wege nach Ulfenstein, wo man euch bereits erwartet.‹ Ihr dürft Euer Leben nicht leichtfertig aufs Spiel setzten«, fügte er noch mahnend hinzu.

»Und was schlagt Ihr vor, Arduhl? Den Greis sich selbst und damit dem sicheren Tod zu überlassen?«, gab Isabel vorwurfsvoll zurück. »Was für eine Heilige wäre ich, wenn ich das täte?«

»Aber die Firsen«, lenkte nun einer der anderen ein. »Niemand weiß, wo die Ungläubigen als Nächstes zuschlagen.«

So ging es noch eine Weile hin und her, aber die Frau hatte ihre Entscheidung gefällt und Arduhl und seinem Fürsprecher gelang es nicht, sie davon abzubringen.

Kraeh hing derweil seinen eigenen Gedanken nach. Die Firsen, so weit im Süden? Wenn der Arm der wilden Stämme mittlerweile so weit reichte, musste Brisak stark geschwächt sein. Ihm war natürlich bewusst, wie sehr sich die Verhältnisse in der Zeit seiner Abgeschiedenheit verändert haben konnten, doch der Gedanke zu Ende gedacht versetzte ihm einen Stich. Was war wohl aus Erkentrud, Sedain und Siebenstreich geworden? Saß Heikhe noch auf dem Thron? Falls ja, brauchte sie offensichtlich seine Hilfe. Er verbesserte sich sogleich: Sie bräuchte Hilfe, ja, jedoch nicht von einem Alten wie ihm, der nicht einmal alleine aus diesem Wald gefunden hätte. Mitten in seinen Überlegungen wurde er vom Schlaf übermannt.

* * *

Kraeh erwachte, noch bevor die letzte Wache, augenscheinlich der Fremdländer, die anderen weckte. Noch so ein Nachteil des Älterwerdens, ärgerte er sich im Stillen; man hatte eigentlich nichts zu tun, außer zu schlafen, und nicht einmal das wurde einem gewährt. Es war selten, dass er über das Morgengrauen hinaus durchschlafen konnte. Heute musste er sich eingestehen, während er aufstand und zum Wasserlassen einige Schritte vom Feuerplatz wegging, lag es wohl vor allem an seinem Magen, der sich anfühlte, als sei er auf die Größe einer Nuss geschrumpft. Zurück bei der Wolldecke, die man ihm in der Nacht offenbar übergeworfen hatte, meldete sich sein Bauch so laut zu Wort, dass der Mann, der ihn nicht aus den Augen gelassen hatte, ohne ein Wort einen halben Laib Brot und einen ledernen Wasserschlauch hinwarf.

Gierig gruben sich Kraehs Zähne in die harte Rinde. Er biss ein Stück mit seinen intakten Schneidezähnen heraus, das er dann im Mund hin und her bewegte, bis es vom Speichel vollgesogen von den wenigen verbliebenen Backenzähnen zu kauen war. Sein Hunger war enorm, doch da seine Essprozedur langwierig war, nutze er die Zeit, den Mann, von dem ihn nur das heruntergebrannte Feuer trennte, einer genaueren Musterung zu unterziehen. Seine Hand, die von ebenso hellbrauner Farbe wie sein ebenmäßiges Gesicht war, lag wie zufällig auf dem Griff eines Schwertes, das in einer gebogenen Scheide steckte. Er war gewiss nicht älter als dreißig Sommer, seine Haltung für die frühe Tageszeit auffällig aufrecht, die Wachsamkeit seiner dunklen Augen betont durch die dichten Augenbrauen, welche sich auf dem Nasenbein vereinten.

In das sich unangenehm ausdehnende Schweigen hinein fragte Kraeh ihn, zwischen zwei Schlucken aus dem Wasserschlauch, nach seiner Herkunft.

Sein Gegenüber schien zu überlegen, ob er überhaupt antworten solle, kam dann wohl aber zu dem Schluss, es könne nicht schaden, ein wenig mit dem Alten zu plaudern.

»Morak. Meine Geschwister und ich wuchsen in den Bergen von Morak auf.«

Irgendwo hatte Kraeh den Namen schon einmal gehört, war sich jedoch nicht sicher und fragte deshalb nach.

Er erfuhr in knappen Sätzen, dass es sich um ein Gebiet weit, weit im Süden handele. Eine Meerenge verbinde das kleine Reich mit dem Festland Eiderits, erklärte Arduhl in einer Weise, die nicht den geringsten Zweifel an seinem Unmut über diese geografische Lage ließ.

Da Kraeh ihn nicht beleidigen wollte, unterließ er es nachzufragen, ob dieser Landstrich nicht zu den Firsen gerechnet wurde. Er wäre auch gar nicht dazu gekommen, da Arduhl sich nun seinerseits nach Kraehs Person erkundigte.

»Du hast bisher nicht einmal deinen Namen genannt.« Die Stimme des Mannes machte keinen Hehl aus seinem Argwohn.

»Meine Eltern nannten mich Henfir«, log Kraeh und dachte dabei an seinen Freund, den Bogenschützen, der in der letzten Schlacht gegen Niedswar gefallen war.

»Und du bist Soldat?«, hakte der Fremdling mit einem Seitenblick auf Kraehs Hüfte nach, an der Lidunggrimm hing. Unwillkürlich zog Kraeh seinen immer noch feuchten Mantel über die wertvolle Klinge. Die Geste schien das Misstrauen seines Gegenübers noch zu steigern.

»Ich war es zumindest.«

Die Miene Arduhls war lauernd, vermutlich, dachte Kraeh nun, hatte er das Gespräch nur deshalb begonnen, um auf diesen Punkt zu sprechen zu kommen. »Sage mir, Henfir, was sucht ein abgedankter Soldat alleine in diesem Wald? Und wie hast du dir eigentlich diese Wunde zugezogen?« Er deutete auf Kraehs Bein.

Schon flogen seine Gedanken. Er hatte sich gerade eine Geschichte zurechtgelegt, da erwachte gähnend Isabel. Und in offensichtlich beiderseitigem Einverständnis, von dem Kraeh nicht wusste, woher es rührte, ließen sie die Sache auf sich beruhen. Eines war ihm klar, er war nicht der Einzige, der etwas zu verbergen hatte. Musste er seine Identität überhaupt verheimlichen, fragte er sich, während er dabei zusah, wie die anderen den Lagerplatz räumten. Er konnte sich nicht einmal sicher sein, ob man sich seiner überhaupt erinnerte, und falls ja, ob es ihm zum Nachteil oder zum Vorteil gereichte, würde er sich mit seinem echten Namen vorstellen. Genau darin bestand die missliche Lage, er wusste generell zu wenig. Entschieden nahm er sich vor, das zu ändern.

* * *

Nachdem Isabel den Aufbruch angeordnet hatte und die kleine Truppe sich auf einem schmalen Trampelpfad befand, wählte Kraeh denjenigen mit der einfältigsten Miene aus, um mit diesem ein Gespräch zu beginnen. Der große, breitschultrige Mann kam eindeutig aus einer ländlichen Gegend. Seine Aussprache jeden Wortes, das mehr als drei Silben hatte, war holprig, sein Gemüt war jedoch ausgeglichen und seine schlichte Art gefiel Kraeh. Zuerst plauderten sie über das Wetter, das auch an diesem Tag nicht freundlicher werden wollte. Lubbo, so der Name des sanften Hünen, trug ein Kettenhemd und beklagte, es zeige schon Rostspuren, obwohl er es frisch erworben habe. Kraeh empfahl ihm, es so bald als möglich mit körniger Erde trocken zu reiben. Während sie so sprachen, ging Kraeh noch langsamer, als es seine alten Beine und die Wunde vorgaben. Sie waren ein gutes Stück zurückgefallen und außer Hörweite der anderen vier, als Kraeh sich beiläufig erkundigte, inwiefern ihre Führerin als Heilige zu gelten habe.

Lubbo erregte die Frage sichtlich, nicht wegen ihres Inhalts, sondern vielmehr deshalb, weil er dem Wunder die angemessene Plastik verleihen wollte und er sich seiner Ausdrucksschwäche allzu bewusst schien. Nach einer Weile des Nachdenkens, bei dem ihm mehr als einmal unwillkürlich ein Wortfetzen herausrutschte, gab er es auf. Wie könnte er, ein Bauernsohn, jemals das Wirken Gottes auf Erden gebührend darstellen? Genau das sagte er dann auch. Kraeh nickte, obwohl er keine Ahnung hatte, welchen Gott er meinte, und Lubbo begann zu erzählen. Es war die Geschichte einer Armenspeisung. Und so begeistert sie auch vorgetragen wurde, Kraeh fand sie langweilig, was nicht an Lubbo lag. Auch wenn ein Skalde sie begleitet von einer Laute vorgetragen hätte, wäre sie ihm schnöde erschienen. Kraeh hatte schon ganz andere Dinge gesehen, ließ sich jedoch nichts anmerken. Er gab sich neugierig und belohnte den Erzähler an geeigneten Stellen mit einem »Oho!« oder »Tatsächlich?«. Das Einzige, was Kraehs Aufmerksamkeit weckte und auch von Lubbo als Besonderheit hervorgehoben wurde, war, dass die Kirche, entgegen ihrer üblichen Bräuche, Isabel bereits zu Lebzeiten zur Heiligen erklärt hatte.

»Normalerweise«, betonte Lubbo, wobei er hektisch eine kleine Spinne aus seinem schwarzen Haarschopf fingerte, deren Netz er, abgelenkt von seiner eigenen Geschichte, unabsichtlich zerstört hatte, »normalerweise, wird man nämlich nur zum Heiligen, wenn man schon tot ist. Sie ist also was ganz Besonderes.«

Aye, besonders hässlich, stimmte Kraeh ihm stumm zu. So kam er nicht weiter. Sein Gesprächspartner führte ebenjene Dinge nicht aus, die ihn interessierten, da er sie für selbstverständlich hielt. Direkt fragen konnte er aber auch nicht. Eine solche Unwissenheit hätte ihn verdächtig gemacht, zumal all seine Weggefährten dieser Kirche anzugehören schienen. Daher erdachte er sich einen neuen Köder. »Was hat es mit diesem Arduhl auf sich? Ist auch er ein Heiliger?«

Lubbo biss an. »Gott bewahre, nein! Er ist der Sohn eines Häretikers. Und auch er selbst ist ein Sihhila.« Seine rechte Hand machte ein Zeichen vor der Brust, das Kraeh von den Eingottgläubigen aus der alten Zeit kannte.

»Diese verdammten Sihhilas«, fluchte Kraeh ins Blaue. »Wieso gibt Isabel sich mit so einem ab?«

Der Zug war riskant gewesen und er atmete innerlich auf, als der Hüne zustimmend nickte. »Arduhl ist dem Kaiser als Geisel gegeben worden, damit der Friede an den südlichen Grenzen eingehalten wird.«

Kraeh bemerkte, dass der andere nun von Dingen sprach, die er selbst nicht so ganz verstand und die er irgendwann auf dem langen Weg aufgeschnappt haben musste, den sie, nach Arduhls sonnenverbrannter Hautfarbe und seinen vagen Andeutungen der letzten Nacht zu schließen, hinter sich hatten.

Eine Biegung des matschigen Pfades hatte die vier vor ihnen verschluckt. In das leise, aber allgegenwärtige Plätschern, welches der Regen erzeugte, sagte der Hüne, mehr, damit etwas gesprochen wurde, als in der Absicht, informativ zu sein: »Isabel hat sich an den Bischopos von Stienbrook gewendet und vor ihm beteuert, Arduhls Seele sei noch nicht verloren. Er zeige Reue, hat sie gesagt. Und nach einigem Flehen hat der Bischopos schließlich eingewilligt, dass Arduhl sich ihrem Bußgang anschließt. Nicht weit von hier im äußersten Zipfel des großen Reiches wurde nämlich ein Kloster gegründet. Genau der richtige Ort, sagt Isabel immer, um allein mit Gott ins Gespräch zu kommen.«

»Langsam«, bat Kraeh, dem vieles von dem Gesagten unklar blieb. »Stienbrook?«

»Ja, die Stadt aus Stein. Hast du nie von ihr gehört?«

Kraeh überging die Frage, allmählich gelang es ihm, sich einen Reim auf das Ganze zu machen.

»Und sie hat diesen Bischopos dazu überredet, Arduhl mitnehmen zu dürfen?«

Erst jetzt fiel Lubbo auf, etwas zu redselig gewesen zu sein. Er hatte Geheimnisse ausgeplaudert, von denen er vermutlich gar nicht hätte erfahren sollen, die aber bei der Dauer der langen Reise schlecht geheim zu halten gewesen sein mussten. Kraeh schmunzelte. Es sah ganz so aus, als wäre der misstrauische, dunkle Mann eine Liebesbeziehung mit der einflussreichsten Frau eingegangen, um möglichst weit weg von den Feinden seiner Sippe zu gelangen. Der Plan schien aufgegangen. Ob er dafür wohl die Schabracke ins Bett hatte begleiten müssen?

 

»Tja. Ich jedenfalls finde ihn ganz in Ordnung«, faselte der Hüne in die für ihn peinlich anwachsende Stille hinein und fühlte sich recht listig ob solch eines Überganges. »Für einen Sihhila, meine ich.«

Du alter Narr!, schalt sich Kraeh. Viel zu spät hatte er die Anwesenheit des Dritten bemerkt, der ihnen ohne Zweifel schon seit Längerem abseits des Pfades, verborgen hinter den Büschen, auf Schritt und Tritt gefolgt war.

Nun, da er bemerkt worden war, sagte Arduhl kalt: »Danke Lubbo, sehr freundlich von dir«, schlüpfte durch das rotbraune Laub und gesellte sich ohne ein weiteres Wort zu ihnen.

* * *

Am frühen Nachmittag riss die Wolkendecke auf. Kraeh blieb stehen und krempelte die Ärmel seiner Tunika hoch. Die Sonne auf der Haut tat gut, auch wenn sie kaum wärmte. Lubbo und Arduhl, Isabel und die beiden anderen, zu denen sie mittlerweile aufgeschlossen hatten, taten es ihm gleich. Sie beschlossen, eine Rast einzulegen. Wie sie so schweigend dasaßen und vesperten, kam Kraeh sich etwas erbärmlich vor. Er war der kleinen Reisegesellschaft der sprichwörtliche Klotz am Bein. Auch wenn Lubbo ihn kaum noch stützen musste, drosselte sein schwerer Gang doch die Geschwindigkeit des Vorankommens. Überhaupt unternahmen sie diesen Umweg bloß seinetwegen. Und wie hatte er für die Begleitung, die Versorgung seiner Wunde, den vollen Bauch und die warme Schlafstätte gedankt? Mit Aushorchung und Einmischung in Angelegenheiten, die ihn nichts angingen. Er konnte daher den Ärger in Arduhls Miene gut nachempfinden.

Am Abend erreichten sie eine Schlucht. Kraehs Blick folgte dem engen Weg, der sich gefährlich nahe am Rand nach unten ins Tal schlängelte, wo vor Urzeiten einmal ein Fluss geflossen sein musste. Von oben sah man, dass Steinrutsche den Pfad teilweise mit großen Anhäufungen von Geröll überdeckt hatten. Diese Wegstrecke war für ihn ohne Hilfestellung unmöglich zu bewältigen. Arduhl kam offenbar zum selben Schluss und pfiff mit einem abschätzigen Blick auf den Alten geräuschvoll durch die Zähne. Sie verschoben die Kletterei, welche in der Dunkelheit halsbrecherisch gewesen wäre, auf den nächsten Tag und richteten ihr Lager ein.

Als das Feuer prasselte, setzte Kraeh sich an den Abhang, von wo aus er der Sonne dabei zusah, wie sie langsam in einem prächtigen Farbenspiel hinter den hohen Bergen im Westen verschwand. Seine Gedanken spannten den Bogen zu jener Zeit, als er diese Schlucht, welche Rheinebene und Hochgebirge voneinander schied, das letzte Mal in die Gegenrichtung durchwandert hatte. Damals war der Weg noch befestigt gewesen. Er war vorangeritten, gefolgt von den Familien, welche sich entschieden hatten, mit ihm dem weltlichen Treiben zu entfliehen. Isabel kam zu ihm, um einen Blick auf die Wunde zu werfen. Trotz des heftigen Regens am Vormittag war sie zufrieden, die Verbände waren kaum aufgeweicht. Beinahe zärtlich schob sie sein Beinkleid wieder hoch und richtete ihre Augen gleich Kraeh auf die roten und violetten Schlieren, welche an den weit entfernten, schneebedeckten Gipfeln festzukleben schienen.

»Ich danke dir«, sagte Kraeh und meinte es ehrlich.

Sie schwieg.

Weiter unten im Tal wurden winzige Lichter entzündet. Ein helleres Glimmen, meinte der ehemalige Krieger, könnte Brisak sein, obwohl es durch den Dunst, der die Abenddämmerung um den Rhein so oft begleitete, verwischt wurde.

Kurz überlegte er, die hässliche Frau vor ihrem vermeintlichen Liebhaber zu warnen, entschied sich aber kurzerhand dagegen. Es war nicht seine Angelegenheit. Was wusste er schon von diesem Arduhl? Wollte er selbst überhaupt wieder am Leben teilnehmen? Zu welchem Zweck denn? Irgendwie schien es, als würde ihm schon wieder ein Weg aufgenötigt werden. Eine Stimme tief in seinem Inneren sagte ihm, dass er gebraucht werde. Der Ruf einer Eule weckte alte Erinnerungen. Lousana, die starke Kriegerin mit den fremdländischen Zügen, die seine Freundin gewesen war, kam ihm in den Sinn. Von ihrem Abbild in seinem Kopf war es nur noch ein kleiner Sprung zu jener Frau, der vor so langer Zeit die ganze Glut seines Herzens gehört hatte: Erkentrud. Weshalb um alles in der Welt war er damals von ihrer Seite gewichen? Sie war schön, hart und mächtig gewesen, alles, was ein junger Krieger sich nur wünschen konnte. Aber halt! Im Nachhinein verzerrte man die Dinge leicht zu Idealen, die so niemals der Wirklichkeit entsprochen haben. Die Königin der Druden wollte ihn mit Heikhe, seinem Mündel, verheiraten. Ihrer beider Leidenschaft füreinander war nach dem Krieg ebenso schnell erloschen, wie der Stein, den er gerade über die Klippe warf, in das Tal raste. Aber plötzlich wusste er, was zu tun war. Weshalb hatte er nicht schon früher daran gedacht? Das Becken tief unter Erkenheim! Es hatte ihn schon einmal aus dem Reich der Toten zurückgeholt. Sicher würde es ihm auch jetzt wieder helfen. Das war es! Sein Weg würde ihn nach Erkenheim führen.

* * *

Den nächsten Tag begannen sie mit dem Abstieg. Er erwies sich zum Glück als leichter, als Kraeh es am vorigen Abend befürchtet hatte. Teilweise standen die alten Stützstreben noch. Wo es ging, balancierten sie vorsichtig über morsche Balken, die beunruhigende Geräusche von sich gaben, ihr Gewicht aber trugen. An den Stellen, die von Steinlawinen überschüttet worden waren und meist Stege und Geländer mit sich in die Tiefe gerissen hatten, ging Arduhl voran, prüfte die möglichen Gefahren und gab dann den anderen den Weg frei. Isabel ließ sich ebenso wie Kraeh auf besonders tückischem Untergrund von Lubbo helfen. Wenn er gerade mal nicht auf seine Schritte achten musste, fragte Kraeh sich, wie die Tannen, die vereinzelt aus dem Hang wuchsen, es schafften, hier zu überleben. Zwischen all dem Granit machte es den Anschein, als hätten sie sich gerade so viel Erde an einem kleinen Vorsprung oder einer Felsenmulde mitgenommen, dass ihre Wurzeln Halt fanden.

Ein scharfer Wind blies ihnen in den Rücken und machte ihnen zusätzlich zu schaffen, schließlich jedoch erreichten sie zwar ausgelaugt, aber unversehrt eine schmale Holzbrücke am Fuß des Hanges, das letzte unversehrte Überbleibsel des alten Pfades. Allesamt atmeten sie auf, als sie hinter der Brücke anhielten und zurücksahen auf das, was sie geschafft hatten. Isabel sandte ein Dankesgebet gen Himmel.

»Es gibt noch eine andre Route«, fiel Kraeh ein, dem die ängstlichen Blicke Lubbos unangenehm waren. Er wollte nicht dafür verantwortlich sein, dass am Ende noch jemand abstürzte, wenn die Reisegesellschaft denselben Weg zurücknehmen sollte, nachdem sie ihn abgeliefert hatten. Dieser Weg barg ein zu großes Wagnis, viel zu groß, bloß um seine alte, stinkende Haut aus dem Wald zu schaffen.

Isabel wandte sich ihm zu.

»Es ist wahr. Sie führt dort«, er zeigte die Richtung mit dem Finger an, »an der Steilwand entlang. Wenn ihr dem Gebirgsverlauf drei Tage westlich folgt, gelangt ihr an einen Pass der wesentlich leichter zu besteigen ist.«

Arduhls Augen verengten sich. »Drei Tage? Und wenn wir dort ankommen, kannst du beschwören, dass weder Firsen noch Räuber auf uns warten und Wegzoll verlangen?«

Kraeh sagte nichts. Was hätte er auch dagegen halten sollen? Natürlich konnte er nichts dergleichen versprechen. Außerdem, war Arduhl nicht selbst ein Wilder? Aber das bedeutete natürlich nichts. Die Firsen waren untereinander zerstritten und kein Stamm erkannte die Grenzen des anderen an.

»Noch mehr kluge Einfälle, alter Mann? Oder können wir weitergehen?«, fragte Arduhl wütend.

»Er hat es nur gut gemeint«, wies Isabel ihn zurecht und sagte dann beschwichtigend zu Kraeh: »Wir werden über deinen Rat nachdenken, Henfir.«

Der dunkelhäutige Krieger schüttelte den Kopf und ging eilig voran. Kraeh trat an seine Seite, bemüht, mit ihm Schritt zu halten. »Sie ist zu leichtgläubig«, zischte Arduhl. Er erlaubte sich nur deshalb, seiner Respektlosigkeit Luft zu machen, da er wohl davon ausging, den greisen Unruhestifter bald für immer los zu sein.

»Du musst es ja wissen«, raunzte Kraeh zurück und verlangsamte seine Gangart, bis er wieder bei den anderen war.

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