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Impressum

Copyright: © 2015 Piedro Vargas Koana

Verlag: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

ISBN 978-3-7375-5557-9

Umfang: ca. 320 Seiten im Buchformat Diogenes-Verlag

Über die Autorin

A. G. hat in ihren autobiografischen Aufzeichnungen die für sie wichtigste Lebensepoche beschrieben. Als Schriftstellerin hat sie einiges veröffentlicht, das nicht zu dieser Liebesgeschichte voller Erotik, Philosophie und Meditationserfahrungen passt und daher nach Meinung anderer ihre berufliche Existenz stören könnte. Diese Einschätzung ermöglicht es ihr also eigentlich nicht, eine solch erotische Lebenserfahrung wiederzugeben.

Sie hat diese Veröffentlichung dennoch gewagt, weil sie der Stimme ihres Herzens gefolgt ist und ein Plädoyer für die Liebe abgeben möchte. Einer Erfahrung nachspürend, in der zwei Menschen eins geworden sind: mit allen Höhen und Tiefen, mit zerstörerischen Schmerzen und unvorstellbarer Lust, mit der sanften Zärtlichkeit und eruptiven Wildheit eines unglaublichen Liebhabers, den eigentlich nur ein Romancier erfinden kann. Gleichzeitig ist es eine Geschichte, die zwischen Ängsten und Abgründen spielt und die Entwicklung, Werdung und das Wachstum von Persönlichkeit aufzeigt.

Für diese Geschichte hat sie ein Pseudonym gewählt. Und noch ein weitere Änderung: Sie hat ihre Geschichte nicht aus ihrer eigenen Perspektive erzählt, sondern ganz bewusst die Augen, Gefühle und Sinne ihres Liebhabers Piedro gewählt. Dafür dienen ihr die Hunderte von Briefen, die er ihr zu Beginn und während ihrer Liebesbeziehung geschrieben hat. Das allein reichte aber nicht, ihn und seine Gefühle authentisch wiederzugeben. Auch Empathie ist nicht hinreichend. Es bedarf schon der Liebe.

Bernhard Storz (Lektor)

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Über die Autorin

Lebenssinn

Prolog

Brasilien - Deutschland

Endlich hast du sie gefunden!

Tagebuch des Wartens

Der Tod fällt über mich her

Die Wiedergeburt

Liebe, Verzweiflung, Vergangenheit

Lebenssinn

„Reife Liebe folgt dem Prinzip: Ich werde geliebt, weil ich liebe.“

Erich Fromm, Die Kunst des Liebens.

Leben.

Was heißt Leben?

Ich habe mir das Leben nicht ausgesucht. Auch das Sterben werde ich mir nicht aussuchen können. Weder den Zeitpunkt, noch das Wie. Es sei denn...

Bis dahin habe ich nur eine Möglichkeit: zu leben!

Prolog

„Beim Sex ist man wieder im Urwald. Man ist wieder im Sumpf. Beim Sex geht es darum, dass die Dominanz wechselt.“

Philip Roth, Das sterbende Tier.

Immer wieder muss ich an diesen Moment denken. Hätte es hier noch eine Möglichkeit der Umkehr gegeben?

„Du zitterst ja?!“

Ich stehe in der geöffneten Tür zu ihrer Wohnung, bin bewegungslos, sprachlos. Meine einzige Regung ist dieses Zittern, das ich nie zuvor gespürt habe. Sie fasst mich an der Hand und zieht mich in den Flur. Offensichtlich ist es meine Schwäche, die sie weich werden lässt. Die Holzdielen knarren unter meinen Schritten, während ich ihr folge. Es riecht nach Räucherstäbchen und orientalischen Gewürzen. Und frischem Holz.

Sie führt mich in ihr Wohnzimmer. Als ich sie die letzten Male besuchte, hatten wir nur ein einziges Mal Sex miteinander gehabt. Schmerzlich erinnere ich mich dieses Moments. Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich impotent gewesen war.

Völlig passiv lasse ich mich auf die Polster sinken. Ich spüre mich nicht. Mein Körper besteht aus weichem Plastik und fällt in sich zusammen wie Milchschaum, der von Kaffeetropfen durchdrungen wird. Ihre Augen bewirken dies, die sonst so hell schimmern. Aber der Raum ist dunkel. Ich kann keinen Unterschied zwischen Iris und Pupille erkennen. Mein Zittern verstärkt sich.

„Was ist, Piedro?“, fragt sie völlig überflüssigerweise. Nichts ist, würde ich ihr gern entgegenbrüllen. Ich leide nur unter unserer Trennung. Ich bin auf Entzug. Du bist mein Rauschgift! Du hast meine Seele vergiftet, meinen Körper. Meine Nerven liegen so blank, dass selbst ein Luftzug mich zum Erbeben bringt. Deshalb zittere ich permanent.

Doch ich sage nichts. Weil ich nichts sagen kann. Ich fühle eine Lähmung. Überall. Vor allem in meinem Kopf.

Langsam beginnt sie, mein Hemd aufzuknöpfen. Ich lasse es geschehen, weil ich nicht weiß, ob ich noch lebe oder schon in einem anderen Zwischenbereich angekommen bin. Sie sitzt mir so nahe, dass ich ihren besonderen Duft wahrnehmen kann. Herbstgetreide auf einem Feld voller Sonnenschein, braun, mit hellen Pilzdüften. Tief atme ich ein, während sie meine Kleider entfernt.

Mein Penis scheint der einzige Körperteil zu sein, in dem Leben pulsiert. Er will sich von mir lösen, drängt zu ihr hin. Ich habe keine Kontrolle über ihn. Bin ich deshalb so erstarrt, weil sich dort alle Energie gesammelt hat? Wenn ich überhaupt noch einen Funken Verstand besitze, so entscheide ich, dass ich nichts mehr denken, tun oder beeinflussen werde. Wozu noch leben, wenn ich eine letzte Erwartung auf göttlichen Sex haben kann? Nagisa Ôshima, der geniale japanische Regisseur, kommt mir in den Sinn. Bin ich seine Leib gewordene Phantasie? Im Reich der Sinne. Auch in seinem Film wurde eine verzehrende Leidenschaft gezeigt, die zwei Menschen in ihren Bann zog. Der Film beruht bekanntlich auf einer wahren Begebenheit. Zwei Menschen werden aus ihren Umlaufbahnen gezogen und gehen eine neue tödliche Vereinigung ein. Ihre gegenseitige Anziehung und sexuelle Energie ist so stark, dass sie aus ihrem Leben herausgerissen und in die dunkle Energie eines schwarzen Lochs hineingezogen werden. Kichizō verlässt seine Familie, um sich ganz seiner Geliebten namens Sada hinzugeben. Sie blenden ihr Leben aus und haben nur noch eins: Sex. Immer tiefer lassen sie sich in diesen Strudel hineintreiben, erkunden völlig neue Bereiche, entdecken vorsichtig und zögernd die Lust am Schmerz. Sie verlieren mehr und mehr die Kontrolle über sich. Die körpereigenen Opiate überschwemmen ihre Gehirne und treiben die sexuelle Erregung auf nie gekannte Höhen. Glitzernde Ekstasefunken betäuben sie so sehr, dass sie im letzten Geschlechtsakt schließlich – ich blende diesen Gedanken aus. Und wenn es jetzt doch geschehen würde, so hätte mein Leben einen Sinn gehabt.

Mein Kinn hebt sich wenige Zentimeter, um den Todesstoß zu empfangen, während Anja meinen Penis wie ein Schwert umfängt. Doch ihre Augen sind auf einmal milde geworden. Sie drückt mich auf die Kissen und senkt ihre Lippen über meinen eregierten Schwanz, saugt sich daran fest. Ein paradoxes Gefühl jagt durch meinen Körper. Was immer sie aus mir herauszieht und in sich aufnimmt, strömt in gewaltiger Form wieder zu mir zurück. Eine heiße Welle, die durch meinen Körper jagt, als ob Glasscherben in winzig kleine Teile zerbrechen, dort jede Zelle infizieren und schließlich explodieren wird. Ich schließe meine Augen und lasse geschehen, was nun kommen wird. Mit der letzten Wahrnehmung stelle ich fest, dass ich nicht mehr zittere, sondern alle Körperzellen synchron zu vibrieren scheinen und ich mich dem Höhepunkt nähere.

Es ist, wie es immer war. Anja besitzt die Fähigkeit, mit mir eins zu werden. Ob ich meinen Atem kontrolliere oder schreie oder die Luft anzuhalten versuche, es ist völlig egal: Sie weiß immer genau, wie nah ich meinem Orgasmus bin. Während ich mich meinem Höhepunkt hingeben möchte, unterbricht sie ihr rhythmisches Saugen. Mit ihren Händen strafft sie meine Vorhaut so sehr, dass mein Schwanz den Härtegrad von Beton erreicht. In dieser Spannung hält sie ihn an der Wurzel fest und setzt sich mit ihrer Muschi darauf. Für sie nur eine ihrer besonderen Yoga-Übungen, die sie gelegentlich beim Sex einsetzt, eine Art Lotus-Stellung. Für mich gefühlt eine Minute lustvoller Qual, mindestens, bis sie mich endlich in sich aufgenommen hat. Wie auch immer sie es anstellt: Es fühlt sich an, als ob eine Faust meinen Penis umschließt und ein tonnenschweres Gewicht an ihm herunterdrückt. Dabei ist sie schlank und federleicht. Vermutlich setzt sie besondere Muskeln ein, um dieses Gefühl hervorzurufen. Für sie selbst oder für mich? Während es geschieht, bin ich nicht fähig zu denken oder irgendetwas wahrzunehmen. Hinterher sehe ich mit geschlossenen Augen nur das Bild, wie sich ein Schloss um einen Schlüssel biegt, bis er dort einrastet und seine feste Stellung gefunden hat.

Jetzt beginnt die nächste Phase der Erregung. Mal bewegt sie sich nicht oder kaum, mal tanzt sie auf der Spitze meines Kosmos, in dem sich alles befindet, was mich jetzt noch ausmacht. Die Eichel glüht und pulsiert wie ein Neutronenstern. Masse und Energie sind vereint. Mein Kopf ist leer. Die Nervenzellen meines Gehirns sind durch die Blutbahnen in die Spitze meines Körpers verschwunden, die sie mit ihrer Muschi massiert. Im Kopf ein schwarzes Loch, ein Nichts, eine Leere, das Schwerezentrum und die Gravitationskraft in der Eichel.

Heute entscheidet sie sich für die Bewegungslosigkeit. Sie sitzt auf mir und öffnet wieder die Augen. Was kann ich in ihnen lesen? Milde auf alle Fälle. Auch viele Fragen. Liebe?

Wie immer sie es macht, ich weiß es nicht. Sind es ihre gut trainierten Scheidenmuskeln? Oder sind es ihre magischen Augen? Meine Erregung steigt und steigt. Es ist, als ob ein Stausee vollläuft und der Druck auf die Mauern immer größer wird.

Ich halte es nicht mehr aus! Da wir beide scheinbar völlig bewegungslos geworden sind und die Erregung immer weiter gewachsen ist, regt sich eine andere Energie in mir. Ich will sie! Für immer! Mutter meiner Kinder. Sie hat ihren Kopf ganz leicht nach hinten gebogen. Ich nutze diesen Moment der fehlenden Kontrolle und winde mich hervor, sie an den Schultern fassend, zur Seite drehend. Schon liegt sie auf ihrem Rücken, und ich dringe erneut in sie ein. Ihr Stöhnen zeigt mir, dass sie es braucht, will. Langsam nehme ich ihren Rhythmus auf und bewege mich in ihr. Nun bestimme ich das Tempo und die Intensität. Ich lausche ihrem Atem. Sie ist entspannt, gespannt. Einige ihre Muskeln drängen sich mir entgegen, andere suchen Halt an der Unterlage. Ein Bogen, in dem mein Pfeil sich bewegt. Meine Erregung steigt weiter. Kann ich den Abschuss noch verhindern?

 

Wie gern würde ich diesen Moment so hinauszögern, dass sich Millisekunden zur Unendlichkeit ausdehnen. Aber ich habe keine Kontrolle mehr. Oder doch? Was teilt mir ihr Atem mit? Er geht stoßweise und wird lauter. Wer hat die Kontrolle? Sie oder ich? Ich weiß es nicht. Ich bewege mich so, dass wir gemeinsam durch das Universum unserer Lust dahinfliegen.

Ich spüre, dass ich mich bewege. Aber sie steuert meine Lust, wie immer sie es macht. Ein Gefühl, als ob mein Penis in Zeitlupe abgeschnitten wird, wie in der entscheidenden Szene im Film von Nagisa Ôshima. Sada trennt das Glied vom Körper ihres Geliebten und tötet Kichizō, dessen Seele sich mit ihrer ganz vereint. Anjas Schrei durchzuckt mich. Ihr Orgasmus hat meinen ausgelöst.

Noch nie habe ich Rauschgift genommen, aber Filme über Drogensüchtige und deren Zittern gesehen. Ein Schuss Heroin und die bebenden Körper wurden wieder ruhig. Ich habe wieder einen Schuss meiner Droge Anja in meinen Adern und weiß nun, warum es goldener Schuss heißt. Ein heißer Strom durchfließt mich, erfüllt mich und lähmt mich zugleich.

Ganz leise sagt sie: „Es war nicht richtig davonzulaufen. Es tut mir leid. Ich habe dir wehgetan.“ Nach einer kurzen Pause. „Du bist unglaublich. Ich kann machen, was ich will. Ich komme nicht von dir los. Es sei denn...“

Ich bin zu schwach, um etwas zu sagen oder zu fragen. Nicht einmal denken kann ich. Was will sie mir sagen?

„Ich komme allein deshalb nicht von dir los, weil du mich immer wieder findest, selbst dann, wenn ich dich zutiefst gequält habe.“

Noch immer schweige ich. Es gibt nichts zu kommentieren, nichts zu fragen. Ich lasse mich auf meinem goldenen Strom treiben.

Dann sagt sie ganz überraschend: „Also kann ich auch bei dir bleiben. Lass´ uns jetzt sofort wieder zur Hütte zurückfahren. Jetzt oder nie.“

Brasilien - Deutschland

„Und dann lernen die Körper die Sprache der Seele: Sex.“

Paulo Coelho, Elf Minuten.

1

Brasilien, 1991

Ich heiße Piedro. Die ersten Jahre meiner Kindheit waren schön. Wir lebten in einer Lehmhütte nahe der Stadt Recife. Meine Mutter war eine bildschöne Frau. Sie fuhr morgens mit dem Fahrrad zur Bushaltestelle und von dort mit dem Bus in die Stadt.

Während sie arbeitete, spielte ich am Strand. Ich war glücklich. Meistens war ich allein. Manchmal traf ich auf andere Kinder.

Meine Mama war oft traurig. Wir hatten nicht viel zu essen, weil wir arm waren. Das war nicht schlimm für mich. Aber Mama war unglücklich. Oft hielt sie meine Hand und sagte: Piedro, es wird alles gut. Es wird uns bald besser gehen. Ich verstand sie nicht. Es war doch alles gut! Ihre braunen Augen streichelten und trösteten mich. Ihnen vertraute ich.

Von ihrer Arbeit erzählte sie mir nichts. Sie sprach immer nur von ihrer Hoffnung, dass es uns irgendwann besser gehen würde. Es war ihr Mantra, an das sie fest glaubte. Oft war sie auch tagelang bei mir. Ich fand das besonders schön. In diesen Zeiten war sie immer besonders traurig. Irgendwann verstand ich den Zusammenhang. Sie hatte keine Arbeit! Aber sie gab nie auf und fand immer wieder eine neue Anstellung. Zuletzt in einem Hotel. Dort übernachteten reiche Geschäftsleute. Ein Deutscher verliebte sich in meine Mutter. Das war unser Glück, auf das sie gewartet und gehofft hatte.

Herrmann hielt sich wegen eines Ingenieur-Projektes in Brasilien auf. Als er in unser Leben trat, war ich vier Jahre alt. Er wurde zu meinem Vater. Das Projekt dauerte ebenfalls vier Jahre. Dann musste Herrmann für seine Firma nach Deutschland zurück und verließ uns. Meine Mutter war sehr traurig und weinte die halbe Nacht. Wir lebten nun nicht mehr in der alten Hütte zwischen der Mülldeponie und dem Gewerbegebiet, vom Rauschen des Meeres in den Schlaf gesungen. Fehlte ihr das Meer oder fehlte ihr Herrmann? Er hatte uns eine kleine Wohnung angemietet und auch mir seine Sprache beigebracht. Als meine Mama mit dem Weinen nicht aufhören konnte, sagte ich zu ihr merkwürdigerweise auf Deutsch: „Mama, er wird wiederkommen.“

Ich hatte lange gewartet, bis ich diesen Satz sagte. Denn ich war verwirrt. In der Nacht vorher passierte etwas, das ich damals nicht verstand. Ich war zu Bett gegangen und durch einen wilden Traum mitten in der Nacht aufgewacht. Früher hatte ich nachts oft ins Bett gemacht. Ich spürte wieder dieses Brennen im Unterleib. Schlaftrunken stand ich auf und ging ins Bad. Nachdem ich mich erleichtert hatte, schlich ich ins Kinderzimmer zurück. Durch die geöffnete Schlafzimmertür hörte ich Geräusche, die ich nicht kannte. Es war die Stimme von Mama. Weinte sie? Leise ging ich näher und sah durch den Spalt der Tür, wie sie nackt auf dem Bett lag. Ihre großen vollen Brüste schwangen auf ihrem Oberkörper hin und her, wie ein Karussell. Es sah lustig aus. Dann erblickte ich Herrmann, der auf ihr lag. Was ich sah, machte mich wütend. So oft hatte ich mit ihrem Busen spielen wollen, und sie hatte es mir verboten. Herrmann bewegte sich mit seinem Körper. Er war es, der ihre Brüste zum Kreisen brachte. Völlig erstarrt blieb ich vor der Tür stehen. Was machten die beiden? Warum durfte er etwas machen, was ich nicht machen durfte? Ich war ihr Sohn! Gespannt beobachtete ich weiter. Herrmann beugte sich herunter und saugte an ihren Brustwarzen. Mama hatte mir erklärt, dass ich das im ersten halben Jahr immer machen durfte. Ich trank ihre Milch. Aber Herrmann war doch kein Baby, sondern ein erwachsener Mann! Er nahm ihre Brustwarzen in seinen Mund und hielt sie mit seinen Lippen fest. Mama stöhnte jetzt noch lauter. Dann ließ Herrmann sie plötzlich los und bewegte sich auf einmal ganz schnell. Noch schneller. Er atmete schwer, als ob er einen steilen Berg hinauflaufen würde. Mama wurde noch lauter und schrie schließlich. Tat ihr Herrmann weh? Sollte ich reinlaufen und sie beschützen? Ihn von ihr stoßen? Bevor ich mich entscheiden konnte, bäumte sich Mama auf und schluchzte dann leise. Sie hielt Herrmann fest, der auf ihr zusammengesunken war, kraulte ihm die Haare am Hinterkopf und flüsterte etwas auf Portugiesisch. Das verstand ich nicht, obwohl ich die Worte klar hören konnte. Wieso Held? Wieso sollte er sie nicht verlassen? Da sich Mama wieder beruhigt hatte, schlich ich zurück in mein Bett und schlief verwirrt ein. Am nächsten Morgen hatte sich Herrmann beim Frühstück von uns beiden verabschiedet.

Mama blieb den ganzen Tag zu Hause, und ich durfte nicht in die Schule gehen. Sie war traurig und wurde im Laufe des Tages noch trauriger. Am Abend fing sie dann an zu weinen. Ich kämpfte mit mir. Schließlich sagte ich diesen Satz. Warum ich die deutsche Sprache wählte, weiß ich nicht.

Ich behielt Recht. Er holte uns beide nach Deutschland.

2

Deutschland, 2001

Ich sitze in der Brotfabrik, einer Kultstätte in Frankfurt und lausche den sphärischen Klängen eines Saxofons. Plötzlich erstarre ich. Drei Reihen vor mir sitzt meine Mutter, 26 Jahre jünger. Lange brünette Haare, im dunklen Konzertraum mystisch schillernd. Dieselben Haare! Ich kann es nicht fassen. Auch im Halbprofil sieht sie meiner Mutter zum Verwechseln ähnlich. Alte Erinnerungen kommen mir bildhaft in den Sinn. Die Lehmhütte an der Mülldeponie. Ich rieche plötzlich wieder das Meer, die Haare meiner Mutter, den Duft ihres Busens. Gestank, wenn der Wind schlecht stand. Feuchter, modriger Meeresgeruch an anderen Tagen. Die letzte Liebesnacht mit Herrmann kommt mir in den Sinn, die ich damals als achtjähriger Junge nicht verstehen konnte.

Jetzt wendet sie den Kopf. Spürt sie, dass ich sie betrachte? Kribbelt ihr Hinterkopf von meinen bohrenden Blicken? Auch ihre Nase gleicht der meiner Mutter. Unglaublich. Ich werde unruhig. Es ist nicht die Musik, sondern eine andere Schwingung, die mich vibrieren lässt.

Die Band kündigt eine Pause an. Ich stehe auf und schaue aus den Augenwinkeln zu der Frau hinüber. Sie redet nun mit dem jungen Mann, der neben ihr saß. Ihr Freund? Wohl nicht. Es gibt keinen Körperkontakt und kein Lächeln. Beide gehen an die Bar. Ich folge mit einigen Schritten Abstand und beobachte sie. Nein, definitiv kein fester Freund. Sie bleiben auf Distanz.

Warum frage ich mich das? Noch etwas atemlos und verwirrt in meinen Gedanken spüre ich sofort, dass ich diese Frau begehre. Sie gleicht meiner Mutter sehr. Aber von vorne und aus der Nähe betrachtet gibt es doch deutliche Unterschiede. Die europäische Variante der brasilianischen Urform. Natürlich jünger, aber auch schlanker, sehniger, ernster. Magisch zieht mich diese Frau an.

Darf ich zu ihr hingehen? Ein Gespräch mit ihr beginnen, obwohl sie in Begleitung eines anderen Mannes ist? Mich neben beide an die Bar stellen und versuchen, mit beiden ins Gespräch zu kommen, um so an sie heranzukommen? Ihr kühler Blick streift mich in diesem Moment wie der Strahl eines Leuchtturms und hält mich auf Distanz. Nein, es wäre falsch, spüre ich sofort.

Nervös wähle ich ein Glas Wein, nachdem die Kellnerin hinter der Bar mich endlich angesehen und meine Bestellung aufgenommen hat. Das Gedränge ist groß. Jeder möchte in der Pause schnell ein Getränk ordern. Ich nippe an dem Riesling aus dem Rheingau, nehme den feinen säuerlichen Geschmack aber nicht wahr. Meine Gedanken suchen fieberhaft nach einer Möglichkeit, mit ihr in Kontakt zu kommen, ohne plump die erste und vielleicht einzige Möglichkeit zu versauen. Nichts fällt mir ein.

Die zweite Hälfte des Konzerts geht an mir vorbei. Die Töne erreichen mein Ohr, bleiben aber irgendwo stecken, weil meine Gedanken nach einem Weg suchen, den ich nicht finden kann. Sackgasse. Tonstörung. Blackout. Im Schlussapplaus löst sich die Schar der Konzertbesucher auf. Einige gehen erneut an die Bar, die Mehrheit wälzt sich die schmale Treppe hinab nach draußen. Auch die Frau und ihr Begleiter. Ich verliere sie im Gedränge.

Chance vertan. Ich atme tief durch und resigniere. Auf dem Weg zu meinem Auto sehe ich sie wieder. Sie und ihr Begleiter sind auf der anderen Straßenseite und verschwinden in einer Querstraße. Soll ich ihnen folgen? Schnell trete ich auf die Straße und höre ein lautes Quietschen. Das Auto habe ich nicht kommen sehen. Die Fahrerin hat schnell reagiert und schüttelt hinter der Windschutzscheibe ihren Kopf. Nichts ist passiert. Ich entschuldige mich mit einer Geste.

In der Seitenstraße sehe ich die beiden nicht mehr. Und wenn ich sie gesehen hätte? Was dann? Wie blöd von mir.

Wenig später steige ich in mein Auto und fahre die verwinkelten Straßen entlang. Die Nebenstraße mündet in die vierspurige Hauptstraße. Einige hundert Meter weiter schaltet die Ampel von gelb auf rot. Ich halte auf der rechten Spur. Links nähert sich ein Fahrzeug und bleibt neben mir stehen. Ich wende den Blick. Ein schmutzig grüner Polo. Der junge Mann sitzt auf dem Beifahrersitz, und sie fährt. Es ist eindeutig: Sie sind kein Paar, schießt es mir in den Sinn!

Meine dritte Chance! Werde ich mir diese auch noch entgehen lassen? Nein, entscheide ich. Soll ich sie verfolgen? Das wird vermutlich schiefgehen. Also lasse ich sie fahren, als die Ampel auf grün wechselt.

Ich notiere mir das Autokennzeichen.