Loe raamatut: «Das Jahrhundert des Populismus», lehekülg 5

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4Eine Wirtschaftspolitik und -philosophie: der Nationalprotektionismus

Die Geschichte moderner Wirtschaften folgte einem langfristigen Trend: dem zur Ausdehnung des Handelsverkehrs auf inländischer wie auf internationaler Ebene. Die zunehmende Spezialisierung von Produktionstätigkeiten und die Kostenvorteile durch Massenproduktion begünstigten also die Ablösung der Wirtschaften von einem bestimmten Territorium und die Bildung eines Weltmarktes. Doch wurden die von dieser Tendenz in Richtung Freihandel erwarteten Vorteile immer wieder hinterfragt. Schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde der Optimismus eines Adam Smith oder David Ricardo wegen der Abstraktheit der ihm zugrunde liegenden Vorstellung vom Wohlstand der Nationen kritisiert. In Frankreich, Deutschland und den Vereinigten Staaten stießen deshalb Appelle zur Einführung eines gezielten Protektionismus bei den Regierungen auf offene Ohren, und zwar aus sozialen und politischen ebenso wie aus wirtschaftlichen Gründen. »In Sachen Industrie sind wir Bewahrer und Beschützer«, sagte beispielsweise ein Guizot, führender Vertreter des politischen Liberalismus im Frankreich dieser Tage.1 Er fürchtete in der Tat, dass der Freihandel, wie er sich ausdrückte, »Unruhe in die bestehende Ordnung bringt«, und verteidigte deshalb, mit seinen Freunden, die »nationale Arbeit« gegen die »kosmopolitische Konkurrenz«. In Deutschland veröffentlichte der Wirtschaftswissenschaftler Friedrich List 1841 sein Nationales System der Politischen Ökonomie, das die Zukunft seines Heimatlandes nachhaltig beeinflusste. Er schlug darin die Bildung eines Zollvereins vor, um die politische Einigung des Landes auf Grundlage einer wirtschaftlichen Schutzzone voranzutreiben. Seine Sichtweise hatte nichts Doktrinäres: Protektionismus war für ihn ein umstandsbedingtes Instrument zur »industriellen Erziehung der Nation«2. Das Gleiche galt für Amerika, das in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts seine ausländischen Importe drosselte, um den Aufschwung seiner verarbeitenden Industrie zu fördern.

Diese Besorgnisse und Vorbeugemaßnahmen bilden seit zwei Jahrhunderten die Grundlage für eine Art ständigen Wechsel zwischen Wellen des Protektionismus und des Freihandels auf nationaler Ebene. Sie stehen immer noch im Mittelpunkt der Debatten, wie die Kontroversen von 2019 über die europäischen Handelsabkommen mit Kanada und dem Mercosur bezeugen oder die wiederkehrenden Fragen, wie man der Unausgewogenheit der Handelsbeziehungen mit China begegnen solle. Doch in all diesen Fällen, vergangenen wie aktuellen, wurde die Frage des richtigen Maßes an Protektionismus zumeist aus pragmatischer Sicht behandelt. Was variierte, war allein die wahrgenommene Dringlichkeit der Frage oder die Art der zu berücksichtigenden Probleme (die ökologischen Kosten eines weltweiten Freihandels haben beispielsweise eine ganz neue Bedeutung angenommen). Die Verteidigung des Protektionismus, die im Zentrum der ökonomischen Betrachtungsweise vieler populistischer Bewegungen steht, ist hingegen von anderer Art. Sie hat eine viel umfassendere Dimension. Sie verweist zugleich auf eine Auffassung von Souveränität und politischem Willen, eine Philosophie der Gleichheit und ein Verständnis von Sicherheit.

Die Rückkehr des politischen Willens

Aus protektionistischer Perspektive wird die Herrschaft des Freihandels und der ihn begleitenden Globalisierung nicht nur im Hinblick auf die wirtschaftliche und soziale Bilanz bewertet, die man aus ihnen ziehen könnte, ob im globalen Rahmen oder an spezifischen Punkten. Sie werden zunächst als Urheber einer Zerstörung des politischen Willens angeprangert. Denn sie gehen mit der Übertragung der Regierungsmacht auf anonyme Mechanismen einher und verabschieden so die Möglichkeit einer souveränen Bestimmung der Völker über ihr Schicksal. Sie entwerfen eine vermeintlich von »objektiven« Regeln regierte Welt, die bereits dem Gedanken an eine Alternative zur bestehenden Ordnung jede Grundlage entzieht.3 Diese Enteignung wird noch verschärft durch den Aufstieg unabhängiger Behörden, die sich überall in ihrem Gefolge ausbreiten. Für die europäischen Populismen erscheint die Europäische Union als Symbol und Labor dieser perversen Vereinnahmung der Volksmacht durch Expert*innenwissen und die unsichtbare Hand des Marktes. Sie veranschaulicht in ihren Augen auf exemplarische Weise die Einführung einer »Regierung durch Zahlen«, die an die Stelle der Ausübung des politischen Willens tritt.4

Diese Kritik bildete die Grundlage für den Erfolg des Brexit-Votums in Großbritannien von 2016, bei dem sich Boris Johnson und Nigel Farage als Vorkämpfer des »Can do« (Man kann es schaffen) durch Wiederherstellung einer aktiven (und wohltuenden) Souveränität des britischen Volkes über sein Schicksal präsentierten. Zwar befürworteten Johnson und Farage auch einen gewissen Liberalismus im Bereich des Außenhandels, doch blieb dieser ganz einer nationalistischen Sicht der Wirtschaft verpflichtet. In Frankreich wird Marine Le Pen nicht müde, auf der gleichen Basis die anonyme Macht des »göttlichen Marktes« zu kritisieren, und sieht in der Europäischen Union, der »Avantgarde der Globalisierung«, die exemplarische Illustration eines »Verzichtshorizonts«.5 Der Verantwortliche für das Wirtschaftsprogramm von Jean-Luc Mélenchon wiederum publizierte zur selben Zeit ein Werk mit dem sprechenden Titel Nous, on peut!6 und dem noch expliziteren Untertitel »Warum und wie ein Land gegenüber den Märkten, den Banken, den Krisen stets agieren kann, wie es will«. Dieses Plädoyer zugunsten des Nationalprotektionismus verstand sich somit klar und deutlich als Teil einer demokratischen Erneuerung, weit hinaus über die bloße Thematisierung der Frage unter wirtschaftspolitischen Aspekten. Es ist deshalb einer der Grundpfeiler der populistischen Sicht des politischen Willens.

Dieses demokratietheoretische Verständnis des Protektionismus ist in der populistischen Denkweise unmittelbar mit der Analyse der Immigration verknüpft. Deren Zunahme wird nämlich als ein Prozess beschrieben, der dem Land von den herrschenden Klassen, die nach billiger Arbeitskraft streben, aufgezwungen wird; ohne dass irgendeine demokratische Entscheidung ihn explizit gutgeheißen hätte.7 Es liegt also auf diesem Gebiet für die Populist*innen eine nicht akzeptable Umgehung des Volkswillens vor, als Produkt einer kapitalistischen Strategie, die zu einer Deklassierung und Schwächung der einheimischen Volksschichten geführt hat. Erweitert auf die Wiedererlangung der Kontrolle über die Migrationsströme wird das protektionistische Gebot somit auch als Teil einer Stärkung der Volkssouveränität betrachtet. Der politische Souveränitätsbegriff ist auch hier, in populistischer Sicht, absolut untrennbar vom Verständnis wirtschaftlicher und sozialer Fragen.

Eine Auffassung von Gerechtigkeit und Gleichheit

Es gibt zwei Arten, Gerechtigkeit und Gleichheit zu verstehen. Zum einen, indem man die relativen Positionen der Individuen berücksichtigt, das heißt in erster Linie der verschiedenen Kategorien von Ungleichheiten, die sie charakterisieren, ob unter dem Gesichtspunkt der Einkommen, der Vermögen oder der Chancen. Ziel wäre in diesem Fall, Differenzen, die eventuell zu rechtfertigen wären, von solchen zu unterscheiden, die durch steuer- und umverteilungspolitische Maßnahmen oder durch die Erhöhung des individuellen Humankapitals reduziert werden müssen. Das ist die geläufigste Art, das demokratische Gleichheitsgebot zu interpretieren. Es gibt aber noch eine andere, mindestens ebenso wichtige, die aber vielleicht weniger im Fokus der Aufmerksamkeit steht: nämlich Gleichheit als Qualität einer zwischenmenschlichen Beziehung zu betrachten (die Gleichheit zwischen Mann und Frau definiert sich somit durch die Tatsache, als Gleiche zusammenzuleben und nicht nur unter Verteilungsgesichtspunkten) sowie als Qualität einer menschlichen Gemeinschaft (die Tatsache, dass jeder anerkannt wird, dass eine Art Harmonie zwischen ihren Angehörigen existiert, dass sie ein aktives Gemeinwesen bilden).8 Diese beiden Dimensionen der Gleichheit sind untrennbar: Es ist keine Gemeinschaft von Bürger*innen möglich, wenn ihre Lebensbedingungen dafür sorgen, dass sie sich in vollkommen getrennten Welten bewegen. Vielmehr sind sie gleichzeitig mit Arten von Institutionen und spezifischen Politiken verbunden, die ihnen Konsistenz verleihen.

Die spezielle populistische Sicht dieses Gleichheitsgebots ist durch zwei wesentliche Merkmale gekennzeichnet. Sie fokussiert sich zunächst auf die Kluft zwischen dem 1% und den 99% in Sachen Verteilungsgleichheit und tendiert zugleich dazu, die übrigen Äußerungen von Ungleichheit innerhalb der Welt der 99%, die doch alles andere als homogen ist, in den Hintergrund zu rücken (und umgekehrt die Einheit des 1%-Universums vorauszusetzen). Des Weiteren legt sie den Hauptakzent auf die eigentlich zivile oder gesellschaftliche Dimension der Gleichheit, die von den herrschenden Herangehensweisen an diese Frage oft vernachlässigt wird. Aber sie tut dies auf eine spezielle Weise. Sie wertet nämlich die Begriffe der Identität und Homogenität auf, um die Beschaffenheit einer »guten Gesellschaft« zu beschreiben, die eine demokratische Nation bildet. Und auf diese Weise verknüpft sich die Sicht der Gleichheit mit dem nationalprotektionistischen Verständnis der Wirtschaft. Die protektionistische Vorstellung setzt nämlich voraus, dass es eine gut entwickelte Einheit gibt, die zu verteidigen wäre, eine Einheit, die sich eindeutig von dem unterscheidet, was ihr äußerlich wäre. Der Begriff der Gleichheit verschmilzt also in diesem Fall mit dem der Einbeziehung in ein homogenes Ganzes. In diesem Sinne verstanden, bildet die Zugehörigkeit zur Nation eine Form negativer Gleichheit, die eine als Distanzgemeinschaft definierte Gruppe erzeugt. Mit Ausländer*innen, in juristisch offenkundiger Weise, aber im weiteren Sinne mit allen Arten von Unerwünschten oder Feinden, die am Ende mit ihnen gleichgesetzt werden. Das Gefühl der Gleichheit speist sich in diesem Fall aus der ständigen Notwendigkeit, diese Distanz wiederzubeleben. Das trägt dazu bei, die »internen« Ungleichheiten zu relativieren und sie im Wesentlichen als Folge der Globalisierung zu betrachten, mit der Ausdehnung der Marktsphäre, der gesteigerten individuellen Mobilität, der Verschärfung der Konkurrenz und der liberalen Wertschätzung der sich daraus ergebenden Differenzen.

Es ist übrigens daran zu erinnern, das die Entwicklung vieler populistischer Bewegungen, besonders offensichtlich in Europa, oft mit dem Bekenntnis zu regionalen Separatismen einherging. Diese gründeten sich auf die Weigerung, eine Gemeinschaft im Sinne steuerlicher Umverteilung mit Bevölkerungsgruppen zu bilden, denen man unterstellte, sich aufgrund ihrer »nutznießerischen« Einstellung zum Wohlfahrtsstaat aus der gemeinsamen Welt entfernt zu haben. Die Lega in Italien9 oder der Vlaams Belang in Belgien10 sind diesbezüglich archetypische Beispiele.11 Eine der Stärken einer Bewegung wie der Lega von Matteo Salvini besteht darin, dass sie es verstanden hat, dieses regionalistische Gefühl durch seine »Nationalisierung« zu überwinden, durch die Übertragung der Ablehnung des Südens auf die Kritik an den europäischen Institutionen. Es ist nicht mehr »Roma Ladrona« (das diebische Rom), die Hauptstadt der alten Politik, oder die mit Subventionen überhäuften, »nutznießerischen« Regionen, die fortan seinen Zorn erregen, sondern die regulierungswütige Brüsseler Bürokratie, dieser heimtückische Apparat, der die Völker ihrer Souveränität beraubt. Diese antieuropäische Dimension ist inzwischen eines der wesentlichen Kennzeichen des Populismus auf diesem Kontinent geworden. Sie verleiht einem ansonsten ganz und gar traditionellen Nationalismus ein moderneres und annehmbareres Aussehen.

Der Protektionismus als Sicherheitsinstrument

Die Kontrolle einer Grenze, vor allem durch den Bau von Mauern oder Zäunen, ist ein wesentlicher Modus zur Bekräftigung einer Souveränität über ein Territorium. Sie ist auch unmittelbarer Ausdruck einer Sicherheitspolitik nach Art und Vorbild der antiken Wälle, die die Städte umgaben. Es besteht eine Kontinuität zwischen diesem physischen Protektionismus und politischen Strategien der inneren Sicherheit. Das Aufhalten von Ausländer*innen und Unerwünschten an den Grenzen hat somit teil an einer erweiterten Vision der Sicherheit als Fernhalten von Bevölkerungen, die als Gefährdung der nationalen Einheit gelten. Der Begriff der kulturellen Unsicherheit ergänzt diesen Ansatz, indem er zur Ablehnung von Ideologien auffordert, die als bedrohlich für die Identität des Volkes gelten (islamische Bevölkerungsgruppen vereinen beide Zuschreibungen). Unabhängigkeit heißt somit auch Verteidigung von Identität und Homogenität in allen Formen. Die verschiedenen Facetten des Nationalprotektionismus bilden somit ein wesentliches Moment der politischen Kultur des Populismus.

1Rede vom 1. April 1846 (in der Diskussion über den Handelsvertrag mit Belgien), in: François Guizot, Histoire parlementaire de France, Band 5, S.120.

2Friedrich List, Das nationale System der Politischen Ökonomie, S.70. List unterschied sich von Fichte, dessen Geschlossener Handelsstaat (1800) einen autarkiepolitischen Protektionismus befürwortete.

3Gemäß der berühmten Losung »There is no alternative« (TINA).

4Siehe dazu das typische Werk von Alain Supiot, La Gouvernance par les nombres. Nebenbei bemerkt ist die Frage der vergleichenden Vorteile einer Regierung nach festen Regeln und eines Vorrangs der politischen Entscheidung Gegenstand einer umfangreichen wirtschaftstheoretischen Literatur. Siehe den grundlegenden Artikel von Finn E. Kydland und Edward C. Prescott, »Rules Rather than Discretion: The Inconsistency of Optimal Plans«, Journal of Political Economy, Bd. 85, Nr. 3, 1977.

5Marine Le Pen, Pour que vive la France (Buchmanifest für die Präsidentschaftswahlen von 2012).

6Jacques Généreux, Nous, on peut! Manuel anticrise à l’usage du citoyen.

7»Die Unumkehrbarkeit der Aufnahme migrantischer Bevölkerungsgruppen«, bemerkt Marcel Gauchet in diesem Sinne, »weist jene interessante Besonderheit auf, dass sie sich der demokratischen Debatte und Entscheidung vollkommen entzogen hat« (La Démocratie contre elle-même, S.220). Gauchet spricht in diesem Zusammenhang auch vom »Verstoß gegen das populäre Souveränitätsempfinden« (ebd.) und betont ferner, dass »Fremdenhass kein Rassismus« sei, sondern dass es sich bei ihm um »ein Gefühl handelt, das sich im demokratischen Rahmen beherrschen lässt« (ebd., S.221–222).

8Ich verweise diesbezüglich auf meine Ausführungen in Die Gesellschaft der Gleichen.

9Die ja ursprünglich (1989), um daran zu erinnern, Liga Nord für die Unabhängigkeit Padaniens hieß.

10»Flämische Interessen«. Die Partei hat seit ihrer Gründung die höheren Ausgaben für den Wohlfahrtsstaat in der Wallonie angeprangert.

11Anzumerken ist, dass die Sozialwissenschaften wiederholt auf den Zusammenhang zwischen Homogenität der Bevölkerungsgruppen und Zustimmung zu Umverteilungsmaßnahmen hingewiesen haben. Siehe beispielsweise Robert Putnam, »E Pluribus Unum: Diversity and Community in the Twenty-first Century«, oder Alberto Alesina und Edward L. Glaeser, Fighting Poverty in US and Europe.

5Ein System der Leidenschaften und Emotionen

Die Leidenschaften wurden stets verdächtigt, bedrohliche Mächte zu sein, imstande, das Urteilsvermögen zu trüben, das Verhalten zu beeinträchtigen, die Beziehungen zu anderen zu stören oder eine Gruppe einzeln vernünftiger Menschen in eine unbeherrschbare, ja kriminelle Masse zu verwandeln. Man kennt die Unmengen an Literatur zu diesem Thema, von den großen klassischen Philosophen bis zu den zeitgenössischen Sozialpsychologen. Doch haben sich die Dinge seit Kurzem verändert. Zunächst in der Sprache. Der Begriff der »Leidenschaft«, der untrennbar mit dem Heraufbeschwören eines gewissen Exzesses verbunden schien, ist nach und nach dem neutraleren, mit einem Hauch von Geziertheit umgebenen Begriff des »Affekts« oder dem intimeren der »Emotion« gewichen. Sodann auf geistigem Gebiet: Die Frage der Emotionen wurde objektiviert, als eine von vielen Varianten menschlichen Handelns betrachtet. Man konnte folglich von einem affective turn oder emotional turn in den Sozialwissenschaften, vor allem der politischen Wissenschaft, sprechen.1

Die Faktoren dieser »Rückkehr der Emotionen«

Nietzsche war einer der Ersten, die vorschlugen, die Unterscheidung zwischen dem Sensiblen und dem Intelligiblen ins Wanken zu bringen und den üblichen Dualismus zu verwerfen. »Unter jedem Gedanken steckt ein Affekt«, verkündete er lapidar.2 Der traditionelle Gegensatz zwischen Leidenschaften und Vernunft oder zwischen Leidenschaften und Interessen3 ist inzwischen stark modifiziert worden. Im sozialwissenschaftlichen Bereich hat Norbert Elias die Elemente eines Soziologisches und Psychologisches und damit Emotionen und objektive Gründe im Bereich der sozialen Fakten vereinigenden Ansatzes entworfen.4 Er forderte diesbezüglich dazu auf, »in bezug auf den Menschen muß der Begriff der Natur umdefiniert werden«5, und betonte, dass Emotionen ebenfalls dem Lernen und der gesammelten Erfahrung entspringen, die zu natürlichen Veranlagungen hinzuträten. Die Kognitionswissenschaften haben inzwischen diese Intuitionen bestätigt.6 »In den Kognitionswissenschaften«, so Stanislas Dehaene exemplarisch, »macht man keinen Unterschied mehr zwischen Kognition und Emotion. Wir meinen, dass Emotionen spezifische Berechnungen sind, um Gefahren mitzuteilen oder auf Chancen zu verweisen, die dem Organismus nützlich sind und die den ganzen Körper aktivieren.«7 Die Historiker*innen ihrerseits betonen schon seit Langem die treibende Kraft von Emotionen und Leidenschaften in der Geschichte. Sie haben auch in jüngerer Zeit auf die ihnen zugrunde liegende »sensible Vernunft« verwiesen. Die vom Hunger getriebenen Aufständischen in manchen revolutionären Momenten wurden oft von ihrer gelebten Erfahrung geleitet, während die Regierenden in ihren Statistiken nichts erkennen konnten.8 Diese Neubewertung von Stellenwert und Natur der Emotionen im Urteilen und Handeln hat auch im Bereich der Verhaltensökonomie ihren Niederschlag gefunden. Daniel Kahneman, Nobelpreisträger für Wirtschaft, hat dementsprechend seine Arbeiten zusammengefasst und betont, dass es beim Menschen zwei Arten gebe, die Realität zu analysieren und zu reagieren, mit ihrer jeweiligen Eigenart und Nützlichkeit. Einerseits diejenige, die das Produkt eines »Systems 1« sei, sehr schnell, beruhend auf Eindrücken und Intuitionen, die nach dem Modus einer instinktiven und umfassenden Synthese gesammelter Informationen und Einschätzungen verfährt. Auf der anderen Seite diejenige, die der Funktionsweise eines »Systems 2« entspringt, das langsamer ist, Fakten systematisch analysiert und Argumente abwägt.9

Die »Rehabilitierung« der Emotionen entspricht auch unmittelbar der Tatsache, dass sie in einem Kontext des Komplexerwerdens und der Aufsplitterung des Sozialen erfolgt. Im vorherigen Zeitalter der Klassen und klar abgegrenzten sozialen Verhältnisse ermöglichten es allgemeine Kategorien und Statistiken, die Wirklichkeit zu verstehen, und strukturierte Ideologien bestimmten die Zukunftsaussichten. Das ist nicht mehr der Fall in einer Welt, in der die Idee des Fortschritts verblasst ist und in der die Ungewissheit regiert; in der auch persönliche Entschlüsse und situative Variablen entscheidend sind für den Verlauf des individuellen Lebens. Die Berücksichtigung der Singularität ist somit wesentlich geworden. Philippe Braud, der Akademiker, der in Frankreich eine Pionierrolle bei der Einbeziehung der Emotionen in die Analyse politischer Verhaltensweisen gespielt hat, hat diesen Punkt nachdrücklich hervorgehoben.10 Unter den führenden Politiker*innen ist Jean-Luc Mélenchon einer der wenigen, die dieses Phänomen richtig erkannt und gleichzeitig dazu aufgefordert haben, den Emotionen den ihnen gebührenden Platz im politischen Ausdruck zu geben. »Die Affekte sind in die Politik zurückgekehrt«, betonte er. »Jahrelang sagte man ›wir‹: ›das Volk‹, ›die Arbeiterklasse‹, ›die Partei‹, ›die Massen‹. Jetzt sagt man lieber ›ich‹. Ich glaube, dass ich ein kleines Stück dazu beigetragen habe.«11 In diesem Kontext ist die Analyse der populistischen Emotionen und Leidenschaften anzusiedeln.

Diese Emotionen sind von unterschiedlicher Art und haben spezifische politische Auswirkungen. Man kann zwischen positionsbezogenen Emotionen (das Gefühl, vernachlässigt, verachtet zu werden), verstandesbezogenen Emotionen (Wiederherstellung einer Lesbarkeit der Welt zum Beispiel durch eine verschwörungstheoretische Sicht oder den Rückgriff auf fake news) und handlungsbezogenen Emotionen (der Degagismus) unterscheiden. Die populistischen Bewegungen sind klug genug, die Rolle, die diese verschiedenen Gefühlskategorien spielen, intuitiv oder explizit zu erfassen. Bezeichnenderweise haben Ernesto Laclau und Chantal Mouffe auf diesem Punkt insistiert. Laclau hat die Bedeutung dessen bekräftigt, was er »leere Signifikanten« nennt, das heißt verschwommene Bilder mit starker Mobilisierungskraft: Der Verweis auf das »1%«, »die Kaste« oder die »Brüsseler Bürokraten« ruft zum Beispiel spontane Reaktionen hervor. Diese spielen in seinen Augen eine wesentliche Rolle bei der Entstehung der »populistischen Vernunft«. Mouffe hat ebenfalls dazu aufgefordert, »gemeinsame Affekte« zu beachten, da diese im Zentrum der Herausbildung von Identifikationsformen stünden, in denen die Unterscheidung zwischen »ihnen« und »uns« sinnfällig zum Ausdruck komme. »Die Linke«, meinte sie, »ist zu rationalistisch, um das zu verstehen; für sie genügen Argumente und korrekte Zahlen. Was die Leute aber zum Handeln treibt, sind die Affekte.«12 Unter Bezug auf Freud macht sie sich den Gedanken zu eigen, dass »die Masse ihren Zusammenhalt aus der Macht des Eros bezieht«.13 In Spanien sprachen Podemos-Aktivist*innen ihrerseits über die entscheidende Rolle, die den »affektiven Kräften« einzuräumen sei.14 Darin liegt eine hohe Originalität der populistischen Bewegungen, die man nicht rein negativ bewerten sollte.

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