Loe raamatut: «Du bist, was du isst.»
Inhalt
Eva Barlösius Du bist, was du isst Eine Widerstandsnotiz gegen kulturelle und soziale Abwertungen
Die Autorin
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Eva Barlösius
Du bist, was du isst
Eine Widerstandsnotiz gegen kulturelle und soziale Abwertungen
»A: ›Obst und Gemüse ist teuer.‹
B: ›Ja, es ist teuer.‹
C: ›Ja, da kannst du besser ein Stück Fleisch kaufen, wie dass ich jetzt sage,
ich kaufe mal so eine richtig große Schale Obst und Gemüse.
Das kann ich mir nicht leisten, also wenigstens nicht in der Winterzeit.‹
C: ›Das sind ja Überlegungen, wenn du ein Stück Fleisch kaufst,
ne, für 2,99 im Angebot, wie viel Obst kriegst du dafür?‹
E: ›Weintrauben 2,99 das Kilo.‹
C: ›Ja, ja.‹
E: ›Himbeeren 1,49, das läppert sich dann so zusammen.‹
C: ›Ja genau, dann überlegt man schon, ne, was ist jetzt besser.‹«
Diese Gesprächssequenz stammt aus einer Gruppendiskussion mit Müttern, deren Kinder als zu dick klassifiziert werden.1 Die Mütter sehen sich überall und ständig mit der gesellschaftlichen Aufforderung konfrontiert, dafür Sorge zu tragen, dass sich ihre Kinder gesund ernähren und abnehmen. In der Kita, der Schule, beim Kinder- und Jugendarzt, in zahlreichen TV-Sendungen – allerorten und fortwährend wird ihnen mitgeteilt, dass sie ihrer elterlichen Verantwortung nicht nachkommen, wenn ihre Kinder dick bleiben oder gar noch weiter zunehmen. Diese Vorhaltung wie auch die Reaktion der Mütter darauf – das soll der Beitrag zeigen – sind von gesellschaftlichen Auseinandersetzungen um soziale Ungleichheiten geprägt. Damit soll keineswegs gesagt werden, dass es für die Kinder nicht besser wäre, wenn sie abnehmen würden. Vielmehr gilt es zu zeigen, dass die Art und Weise, wie die Aufforderung an die Mütter – und selbstverständlich auch an die Väter – herangetragen wird, von diesen als durch soziale Ungleichheiten bestimmt wahrgenommen wird und ihre Antworten darauf abgestimmt sind.
In der obigen Szene tauschen sich vier Mütter darüber aus, warum es aus ihrer Sicht für sie »besser« ist, ein Stück Fleisch statt Obst oder Gemüse zu kaufen. Sie bestätigen sich gegenseitig, dass es ökonomisch rationaler sei, 2,99 Euro für ein Kilo Fleisch denn für die gleiche Menge an Obst und Gemüse auszugeben. Indem sie die Richtigkeit dieser Sichtweise bekräftigen, stellen sie diese als gemeinsam geteilte dar, und zwar als eine, die durch ihre sozioökonomische Lage bedingt ist. Diese Lage nötige sie dazu, darauf achten, für ihr Geld »viel« zu erhalten, reichlich und sättigend einzukaufen.
Vordergründig argumentieren die Mütter mit zu knappen finanziellen Mitteln, die es ihnen nicht ermöglichen, solche Speisen auf den Tisch zu bringen, die als gesund gelten und mit denen das Versprechen verbunden ist, mit ihrem Genuss fit und schlank zu bleiben beziehungsweise zu werden. Aber diese sich anbietende Interpretation, die einzig die sozioökonomische Lage zur Begründung heranzieht, verkennt auf mehrfache Weise, welche verschiedenen Ausformungen sozialer Ungleichheit diesem Dialog zugrunde liegen. Warum stellen die Mütter dem Fleisch ausgerechnet Obst und Gemüse gegenüber? Mit der gleichen ökonomischen Rationalität hätten sie auch Brot, Pasta, Kartoffeln, Kuchen, Fertiggerichte oder Süßigkeiten nennen können. Warum argumentieren sie überhaupt ökonomisch? Bei genauerem Hinsehen überzeugt ihre ökonomische Rechtfertigung wenig, denn um Obst und Gemüse als zu teuer darzustellen, verweisen sie erstens auf teure Obstsorten und zweitens auf die Winterzeit, in der Weintrauben und Himbeeren von der Südhalbkugel importiert werden und deshalb besonders kostspielig sind. Vor allem aber: Warum rechtfertigen sie sich überhaupt dafür, was sie auf den Esstisch bringen?
Gegensatzpaare mit Auf- und Abwertungsmacht
Dass die Frauen Obst und Gemüse dem Fleisch gegenüberstellen, ist kein Zufall. Stehen doch pflanzliche Lebensmittel heutzutage für einen verantwortungsvollen, weil gesunden und ökologischen Essstil, währenddessen Fleischessen mit krank machend, Massentierhaltung, schlechten Arbeitsbedingungen und Klimaschädigung assoziiert ist. Obst und Gemüse setzen die Mütter vermutlich eher automatisch denn reflektiert dem Fleisch entgegen. Aber sie haben ein soziales Gespür dafür, dass und wie dieser Gegensatz von den anderen Gesprächsteilnehmerinnen verstanden und aufgegriffen wird. Sie sind sich gewiss, dass sie nicht bloß persönlich argumentieren, sondern zu einer gemeinsamen Erzählung beitragen, und dies erklärt, weshalb ihre Gesprächsbeiträge direkt ineinandergreifen. Die Gewissheit, mit der sie dies tun, speist sich daraus, dass sie für ihre Argumentation in der Alltagswirklichkeit etablierte gesellschaftliche Typisierungen zitieren.
Gesellschaftliche Typisierungen zeichnen sich nach Peter L. Berger und Thomas Luckmann dadurch aus, dass sie zu dem gehören, »was ›jedermann‹ in seinem alltäglichen, nicht- und vortheoretischen Leben ›weiß‹«.2 Die Gewissheit, mit der die Gesprächsteilnehmerinnen diese Typisierungen einführen, basiert nach Berger und Luckmann darauf, dass damit »Phänomene« benannt werden, die »wirklich sind und bestimmbare Eigenschaften« haben.3 Damit ist nun keineswegs eine irgendwie materiell geartete Wirklichkeit gemeint. Vielmehr referieren die Typisierungen auf die gesellschaftliche Wirklichkeit beziehungsweise wirken an ihrer Konstruktion mit, sodass die gesellschaftliche Wirklichkeit den Menschen als kohärentes »Gebilde von Typisierungen« entgegentritt.4 Mit Pierre Bourdieu kann man präzisieren: Die meisten Typisierungen operieren mit »Gegensatzpaaren« und bilden zusammen eine Ordnung »homologer Gegensätze«.5 Reinhart Koselleck spricht in ähnlicher Weise von »Oppositionsbestimmungen« beziehungsweise »Oppositionspaaren«.6 Obst und Gemüse versus Fleisch bilden ein solches Gegensatz- beziehungsweise Oppositionspaar. Um zu verstehen, welche gesellschaftlichen Gegensätze darin eingeschrieben sind, ist ein Blick in die Geschichte hilfreich, der hier allerdings nur kursorisch und damit illustrativ erfolgen kann.
Tasuta katkend on lõppenud.