Tod einer Kassenpatientin

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Tod einer Kassenpatientin
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Rainer Bartelt

Tod einer Kassenpatientin

Wenn die Medizin versagt

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Tod einer Kassenpatientin

Hundstage

Es begann im September

Zwischen Wischmopp und Handfeger

Der erste Besuch des MDK

Der Sturz

112 hat Diskussionsbedarf

Die Klinik gibt Entwarnung

Vom Paradies in die Hölle

Auch zuhause Albtraum ohne Ende

Was tun?

Plötzlich geht alles ganz schnell

Die Klinik versucht sich erneut an Gerda

Der Brief der Klinik

Feuer und Wasser

Ein Professor bekommt Post

Eine Gutachterin, wie vom Teufel gesandt

Vorweihnachtszeit im Heim

Die Klinik zeigt sich verhandlungsbereit

Die Hoffnung stirbt zuletzt

Noch einmal Aufregung vor dem Fest

Gerdas letztes Weihnachtsfest

Die Klinik ist an allem schuld

Die weihnachtliche Pechsträhne ist noch nicht zu Ende

Die Klinik wird juristisch

Machen sie sich keine Sorgen, alles wird gut!

Warten auf die Behandlung

Die zweite Blasenuntersuchung

Willkommene Ablenkung

Die Pforten der Hölle öffnen sich

Einmal hin und zurück in die Klinik

Hier ist keine Gerda!

Das Ende eines langen Tages

Die zweite Blasenentzündung

Der erste verständige Mensch in der Klinik

Der Umzug in die Psychiatrie

In einer anderen Welt

Die Klinik streitet (fast) alles ab

Hoffen und Bangen

Der Berg kreist und gebiert ein Mäuschen

Endlich: der Tag der Wahrheit

Die letzte Dienstreise

Mutti im Koma

Manic Monday – ein total verrückter Montag

Gerda zurück im Heim, Petra in der Klinik

Geisterstunde in der Klinik

Eine Nachtschwester im Stress

Willkommen in der Hölle

Gerdas Tod wird geplant

Das Ende

Nachruf: Medizin am Ende?

Impressum neobooks

Tod einer Kassenpatientin

Ein Tatsachenroman - frei nach einer wahren Begebenheit


Erst stirbt die Gesundheit, dann die Würde, dann der Mensch; die Erinnerung stirbt nie.

Dieses Buch ist gewidmet:

 meiner Mutter Gerda Erika Auguste Bartelt, geborene Kühl

 Frau Anja Rowarth* vom MDK, deren besonderes Engagement als Gutachterin dafür gesorgt hat, dass meine Mutter bereits in der Pflegestufe 1 verstarb

 Herrn Sascha Torwald* von der juristischen Stabsstelle der Klinik, dessen Kenntnisse von der menschlichen Natur nicht ausreichten, um zu erkennen, dass auch der Sterbefall ein Notfall ist

*Namen geändert

Hundstage

Herr Doktor, der Simulant auf Zimmer 7 ist heute Nacht gestorben.“ „Na sowas, jetzt übertreibt er aber wirklich!“

Die Luft steht still, draußen und im Haus. Das Thermometer zeigt Temperaturen über 30 Grad im Schatten an. Nur im Freibad gibt es noch Hoffnung auf Abkühlung.

Wenn ich an einem solchen Tag an meine Mutter zurückdenke, geboren 1920 und aufgewachsen als Gerda Kühl im damals deutschen, heute friedensbedingt zu Polen gehörenden Teil Pommerns, dann bin ich fast froh, dass ihr die mörderische Hitze dieses nicht enden wollenden Sommertags erspart bleibt. Vor Jahren, als es wochenlang schon einmal so heiß war, dass wir, um schlafen zu können, über unserem Bett einen Ventilator installieren mussten, hatte sie ihren ersten Zusammenbruch. Schon am Vortag – beim gemeinsamen Abendessen – war es in ihrer Dachgeschosswohnung, die für eine Person fast zu groß war, unerträglich heiß gewesen. Nach dem Essen wirkte meine Mutter auf mich ungewohnt wortkarg und unkonzentriert. Deshalb fuhr ich am nächsten Tag gleich nach der Arbeit zu ihr „um nach dem Rechten zu sehen“ und fand sie in ihrer Wohnung hilflos am Boden liegend. Die eilig herbeigerufenen Rettungssanitäter schauten sich das Trauerspiel eine Zeit lang an und stellten Fragen, deren Antworten für mich offensichtlich waren. Dann erst entschlossen sie sich, meine immer etwas zu körperlicher Fülle neigende Mutter drei steile Treppen hinunter zu tragen und in den vor dem Haus wartenden Krankenwagen zu verfrachten.

Auf meine Weisung hin fuhren sie mit ihr in die Notaufnahme der Klinik, obwohl Gerda auf keinen Fall wieder dorthin wollte. Nur einmal vorher war sie dort gewesen, aber das hatte ihr gereicht: „Ich muss mich jetzt einmal gründlich untersuchen lassen, fahr' mich bitte ins Krankenhaus!“, war damals ihre Mission gewesen. Mir blieb nichts anderes übrig, als ihren Wunsch wortgetreu auszuführen. Es versteht sich von selbst, dass in der Klinik niemand begeistert war über diese „eingebildete Kranke“, die zwischen Schlaganfall-Patienten und anderen schweren Erkrankungen die Aufmerksamkeit der Notärzte aus subjektiver wie auch aus objektiver Sicht vollkommen unnötig in Anspruch nahm.

Da man bei ihr medizinisch nichts Ernstes finden konnte, fing man an, ihren Geisteszustand gründlicher zu untersuchen. Und das war es, was Gerda sofort so übel nahm, dass sie auf keinen Fall mehr einen Fuß in diese Klinik setzen wollte. (Auch wenn sie anschließend jedem, der sie danach fragte, stolz erzählte, man habe ihr damals „einen für ihr Lebensalter außergewöhnlich guten Allgemeinzustand“ bescheinigt.)

So machte ich nach ihrem Hitzeschlag erst einmal ein großes Geheimnis aus der Tatsache, dass ich sie genau wieder in dieselbe von ihr geächtete Klinik hatte verfrachten lassen. Der Grund: Für mich gab es in dieser Stadt einfach keine andere medizinische Instanz. Schon als ich Anfang der siebziger Jahre aus einer kleinen in diese mittelgroße Universitätsstadt gekommen war, hatte ich von meiner Studentenbude aus den Fortschritt der Bauarbeiten beobachten können. Hatte aus der Ferne mit ansehen können, wie winzig klein erscheinende Lastkraftwagen nach und nach riesige Berge aus Sand auftürmten, die dann von anderen ebenso klein erscheinenden LKWs emsig wieder abgetragen wurden. Wie das Gebäude Stockwerk für Stockwerk Gestalt annahm und höher und höher wuchs. Später führte ich gern meine privaten und im Allgemeinen überhaupt nicht kranken Gäste voller Stolz durch diesen riesigen Klinikneubau. Konzipiert für 20.000 Patienten, ausgestattet mit zwei zehngeschossigen Bettenhäusern und Arbeitsplatz für mehr als 5000 Vollzeitbeschäftigte beeindruckt dieses Haus mich auch heute noch durch seine zukunftsweisende Architektur und schiere Größe: Schon das über mehrere Stockwerke gehende lichtdurchflutete Atrium ist einfach atemberaubend. Ebenso beeindruckend die außen liegenden hohen Flure, deren meterhohe Glasfenster einen freien Blick auf die gigantischen, Hochhäusern gleichen Bettenhäuser gewähren. Alles in allem ein Ehrfurcht einflößender Bau, gleichzeitig das Versprechen größtmöglicher medizinischer Effizienz.

 

Gerda war schon drei volle Tage in diesem kleinstadtgleichen Krankenhauskomplex, als sie endlich zu fragen wagte: „Sag' mal mein Jung‘, wo bin ich hier eigentlich? Ich bin doch nicht etwa wieder in der Klinik?“ Naturgemäß zögerte ich zuerst etwas mit der Antwort. Dann aber nahm sie meine wahrheitsgemäße Aussage zu meiner großen Erleichterung besser auf als erwartet: Im Gegensatz zu ihrem ersten Besuch in der Klinik war meine Mutter dieses Mal ein ernst zu nehmender medizinischer Fall. Also war sie auch entsprechend behandelt worden und niemand hatte dieses Mal Ihren Geisteszustand in Frage gestellt. Sie war sogar erleichtert, dass ich ihren Verdacht, sie sei wieder in der Klinik und nicht in irgendeinem anderen Krankenhaus gelandet, positiv bestätigen konnte. Denn das gab ihr die Gelegenheit, mit den Ärzten, Helfern und Helferinnen in der Klinik ihren Frieden zu schließen. Als sie nach einer Woche bei deutlich kühlerer Witterung geheilt in ihre Wohnung entlassen wurde, gab es Blumen für die Schwestern und eine großzügige Spende in die Kaffeekasse. „Alle waren hier so nett zu mir!“, sagte sie zum Abschied.

Es begann im September

Spätsommer 2012: Im Gegensatz zur heutigen Affenhitze war der Tag, an dem die Schwierigkeiten für uns begannen, angenehm warm und sonnig. Der Herbst war noch in weiter Ferne. Wir, meine Frau Petra und ich, waren gerade von unserem Ostseeurlaub zurückgekehrt, hatten Gerda unsere Urlaubsbilder gezeigt und waren auf dem besten Wege, wieder vollkommen der üblichen Alltagsroutine zu verfallen. Nach der Arbeit war ich wie auch zuvor mindestens einmal in der Woche bei meiner Mutter zum Abendessen eingeladen. Gerda kochte gern und freute sich ebenso sehr auf meine Gesellschaft wie auf das gemeinsame Essen. Heute gab es mein Leibgericht: panierte und in Butter gebratene Hähnchenteile, so frisch und lecker, wie sie kein anderer Mensch als meine Mutter zubereiten konnte. Dass dieses Mal Vorsuppe und Nachspeise fehlten, was bei meiner Mutter sonst nie vorgekommen war, fiel mir zunächst gar nicht auf. Ich freute mich zu sehr über das gute Hauptgericht.

Dann passierte es. Gerda senkte den Kopf und schaute auf ihren Teller. Angesichts ihrer ehrfürchtigen Haltung erwartete ich ein Tischgebet. Stattdessen sagte sie plötzlich – nicht sehr laut, dafür aber umso bestimmter: „Das ist jetzt die Henkersmahlzeit!“ Ich ließ vom Essen ab und schaute sie verblüfft an. Petra und mir war es bisher immer so vorgekommen, als ob Gerda zu denjenigen vom Glück begünstigten Menschen fortgeschrittenen Alters zählte, an denen der Tod kein besonderes Interesse zu haben schien. Die vielleicht sogar ihre eigenen Kinder überleben würden. Zwar klagte sie seit einiger Zeit, dass sie zunehmend schlechter schlief, nach mancher Nacht auch mal über Übelkeit und Erbrechen. Doch ihre über siebzig Quadratmeter große Wohnung versorgte sie fast vollkommen allein mit nur wenig Hilfe von unserer Seite. Ihre Lebensmittel bestellte meine Mutter von ihrem eigenen Telefax-Gerät aus bei einem großen Lebensmittelhändler, sodass wir ihr außer unserer regelmäßigen Gesellschaft beim Essen und beim Bauernrommé wenig zu bieten hatten. Es war ihr wichtig und sie war stolz darauf, es bis ins 93-zigste Lebensjahr geschafft zu haben, ohne „den Kindern“, sollte heißen: ohne Petra, meiner ohnehin weit entfernt lebenden Schwester Eva und mir „zur Last zu fallen“.

An dem besagten Septembertag bestand allerdings kein Zweifel mehr, dass sie ihre Aussage absolut ernst gemeint hatte. Denn sie legte noch nach: Nachdem sie schon einmal kurz den Gedanken geäußert hatte, ins Pflegeheim zu wollen, dann aber wieder davon abließ, meinte sie nun, jetzt wäre es wohl wirklich an der Zeit, diesen für sie sicher nicht einfachen Schritt aus der Selbstständigkeit in eine fast vollständige Abhängigkeit von Anderen in die Tat umzusetzen. Schade nur, dass sie selbst ebenso wie wir überhaupt keinen Plan hatte, was nun konkret zu tun war. Denn weder Petra noch mir war klar, wie wir den Wunsch meiner Mutter realisieren sollten und konnten. Da unsere Ehe kinderlos geblieben war, verfügten wir über keinerlei praktische Erfahrung, wie es war, für nahe Angehörige zu sorgen. Denn auch um Petras Eltern und um meinen schon vor vielen Jahren verstorbenen Vater hatten sich andere gekümmert: Meinen Vater hatte meine Mutter bis zum Ende selbst versorgt, und auch Petras Eltern waren nicht in unserer Obhut gestorben.

Wir waren also erst einmal vollkommen ohne Orientierung und ziemlich ratlos. Das einzige, was ich meiner Mutter sofort geben konnte, war eine Informationsbroschüre des örtlichen Sozialamts mit einschlägigen Telefonnummern. Ich bat Gerda, sich dort einen Termin für ein persönliches Beratungsgespräch in ihren eigenen vier Wänden geben zu lassen. Aber entweder war meine Mutter, das Amt oder beide gemeinsam überfordert, jedenfalls kam es nie zu diesem Gespräch.

Stattdessen fingen wir an, mit Freunden und Bekannten über Gerdas Wunsch nach Pflege und Betreuung zu diskutieren. Der entscheidende Hinweis für eine eigentlich ziemlich nahe liegende Lösung kam von Yvonne, unserer Nachbarin, die während des Urlaubs mehrmals nach Gerda geschaut hatte:

„Da gibt es doch dieses neue Pflegeheim im Gartenweg, das ist wohl ganz gut.“

Und weiter:

„Ich bin mal dagewesen und habe mir alles angeschaut, als es noch nicht vollständig eingerichtet und bezogen war. Ich kann natürlich nicht sagen, wie man dort heute so wohnt. Damals fand ich alles aber ausgesprochen freundlich und modern.“

„BINGO - das ist die ideale Lösung!“, dachte ich spontan. Das Heim, von dem Yvonne sprach, lag direkt neben meiner Arbeitsstelle. Nur eine einzige Häuserzeile trennte mein Büro von diesem Pflegeheim. Tag für Tag fuhr ich dran vorbei, wenn ich zur Arbeit wollte. Einfach genial – nur dass ich nicht von selbst auf diese einfache Lösung gekommen war, verblüffte mich: Hier würde ich Gerda ganz in meiner Nähe haben, hier würde ich mich noch besser um sie kümmern können als in ihrer jetzigen, fast am anderen Ende der Stadt gelegenen Wohnung. Nach ihrem Umzug würde ich sogar wieder häufiger auf das Auto verzichten und viel einfacher mit dem Fahrrad zur Arbeit fahren können, weil ich nicht mehr durch die ganze Stadt fahren müsste, um Gerda zu besuchen.

Um meine Mutter ebenfalls für diese Idee zu gewinnen, ging ich an den PC und ins Internet, rief Google-Maps auf, wählte die Satellitenansicht und druckte eine Großaufnahme vom Heim und dem fast unmittelbar daneben liegenden Bürogebäude aus, in dem ich arbeite. Genau wie ich war Gerda von Yvonnes Vorschlag sofort überzeugt: Sie selbst im Heim gut versorgt und „mein Jung‘“ gleich um die Ecke. Diese Vorstellung gefiel ihr ausnehmend gut. Dem Umzug ins Pflegeheim stand damit unsererseits nichts mehr im Wege. Nur leider, leider: Das Heim konnte uns zwar sofort häusliche Pflege anbieten – einschließlich Reinigungsdienst und Essen auf Rädern –, es gab aber kein freies Zimmer. Stattdessen eine lange Warteliste. Auch einige Zeit später, als ich erneut nachfragte, hatte Gerda auf dieser Warteliste noch mindestens sieben weitere Interessenten vor sich. Diskret erkundigte ich mich bei der Heimleitung nach der Anzahl der Pflegebetten und der typischen Verweildauer der Bewohner: Knapp über 100 Betten geteilt durch eine im Durchschnitt nur zweijährige Aufenthaltszeit ergaben grob geschätzt vier Todesfälle oder sonstige Abgänge pro Monat! Anders als Gerda, die natürlich enttäuscht war, dass sie nicht sofort aufgenommen wurde, und auch Petra und Yvonne, die sich und mich fragten, ob man nicht noch anderswo schauen sollte, sah ich gute Chancen, in einem noch ausreichenden Zeitrahmen die Zusage für einen Heimplatz zu bekommen. Spätestens im Februar musste Gerda aller Wahrscheinlichkeit nach in ihrem neuen Zuhause sein. Vor allen anderen Dingen war es mir ganz besonders wichtig, meine Mutter tagsüber möglichst nahe bei mir zu haben. Daher kam für mich kein anderes Heim in Betracht.

Zwischen Wischmopp und Handfeger

Viel Zeit zum Überlegen hatte ich ohnehin nicht, denn nun kamen vollkommen neue Aufgaben auf mich zu. Ich, der jetzt den Lebensmittelhändler ersetzen und für Gerda ab sofort auch alle anderen Dinge des täglichen Lebens besorgen musste, bekam plötzlich E-Mails folgender Art:

Hallo Frau Bartelt, nachfolgend wie besprochen die ‚Idealliste‘ unserer Hauswirtschaftskraft.

  Schrubber und Bodentuch + Eimer oder alternativ Wischmopp und Eimer

  Besen, Handfeger & Kehrblech, Staubsauger (+ vorrätige Wechselbeutel)

  2-fach Ausführung (wegen Waschwechsel) Mikrofasertücher in vier Farben (Küche, Möbel, Bad, Toilette)

  Kleiner Putzeimer und Abzieher f. Fenster

  Reiniger f. die verschiedenen Bereiche

  Müllbeutel und gelbe Säcke

  Leiter oder Tritt

Mit freundlichen Grüßen…“

Nun, diese „Frau Bartelt“, die alle nötigen Sachen für den zum Heim gehörenden Reinigungsservice besorgen musste, war ich selbst. Denn in erster Linie fühlte ich mich persönlich für meine Mutter verantwortlich, Petra, deren langer Arbeitstag oft bis 19 Uhr dauert, wollte ich mit Muttis Pflege nicht mehr als nötig belasten. Ich fand mich also an einem Samstagmorgen in der Putzmittel-Abteilung des nächstgelegenen Supermarktes wieder, unmittelbar nachdem ich Petra zur Arbeit gefahren hatte. „So muss sich eine Frau im Baumarkt fühlen!“, dachte ich. Ziemlich hilflos taperte ich von Regal zu Regal, bis ich endlich alles beisammen hatte, was auf der Einkaufsliste stand.

Am Ende kam ein schöner Geldbetrag zusammen, der in keinem gesunden Verhältnis zum Materialwert der im Einkaufswagen liegenden Putzwaren stand. Aber was zählte schon der schnöde Mammon, wenn es um nichts weniger als Mutters Zukunft ging? Und die 'fremde Macht' – der Pflegedienst – zufrieden gestellt werden musste? Also hieß es, nicht zu kleinlich zu sein. Gab es doch eine große Aufgabe zu bewältigen: Eine große und ziemlich zugestellte Wohnung musste wieder auf Vordermann gebracht werden, die seit Jahren in den Ecken nicht mehr richtig gefegt worden war. Zwar hatte Petra meiner Mutter immer wieder ihre Dienste angeboten, Mutti hatte aber stets mit dem Hinweis entrüstet abgelehnt, sie habe selbst gerade „gründlich“ sauber gemacht. Petra schaute einigermaßen ungläubig in die Ecken, aber Widerspruch wurde nicht geduldet. Ende der Diskussion.

Und so waren es keine „Wollmäuse“ mehr, die in den Zimmerecken ihre Jugend verbrachten, um anschließend unter und hinter den Schränken still und von Gerda unbemerkt umher zu wandern, sondern es waren „Wollkatzen“ oder in einzelnen Fällen sogar eher „Wollelefanten“, die einen traurigen Beleg für eine zunehmend verminderte Sehkraft meiner Mutter darstellten. Was mich aber am meisten verblüffte: Die vom Pflegeheim gestellte ambulante Reinigungsfachkraft fasste die in der Wohnung in reichlicher Anzahl vorhandenen Schmutznester keinesfalls als Ansporn auf, das Problem mit professioneller Energie anzugehen. Stattdessen beschwerte sie sich das eine über das andere Mal bei meiner Frau, wie dreckig doch die Wohnung sei, die sie sauber machen sollte. Das war eine Logik, die nicht so ganz in mein bisheriges intellektuelles Regelwerk passen wollte.

 

Noch ein weiterer Grund führte dazu, dass der externe Reinigungsservice nicht sofort die gewünschte Wirkung entfaltete: Gerda fand es nämlich höchst spannend, was jetzt in ihrer Wohnung abging. Sie platzierte sich mit ihrem mit Rollen ausgestatteten Serviertischchen, das ihr als provisorische Gehhilfe diente, mitten am Ort des Geschehens und versuchte, den Arbeitseifer der vom Heim geschickten Reinigungskraft zu dirigieren und anzuspornen. Was auch umgehend Wirkung zeigte, wenn auch nicht die gewünschte: Sehr schnell wurden aus einer Reinigungskraft viele verschiedene Reinigungskräfte! Mit einem Mal kamen jede Woche immer wieder andere Frauen, die sich anschickten, die Wohnungsreinigung voranzutreiben. Bis schließlich eine gefunden wurde, deren Fell anscheinend dick genug war, um a) meine Mutter und b) die ganze Aufgabe nicht allzu ernst zu nehmen, dauerte es einige Zeit. Zu guter Letzt wurde en détail dann aber doch noch einiges auf den Pfad der Sauberkeit gebracht. Für mich, der später Gerdas leere Wohnung besenrein an den Nachmieter übergeben musste, blieb trotz alledem noch genug zu wischen übrig.

Der erste Besuch des MDK

Selbstverständlich war das Einkaufen der Reinigungshilfsmittel und aller anderen Dinge des täglichen Bedarfs, wie unter anderem Drogerieartikel, Getränke und Lebensmittel für Frühstück und Abendessen, nur ein Beispiel für die vielen anderen anfallenden Aufgaben, die mit Gerdas Pflege jetzt neu und zusätzlich auf Petra und mich zu kamen: Damit das Heim für Mittagessen und Sauberkeit sorgen konnte, mussten Vorgespräche geführt, Angebote geprüft, Verträge gemacht und Rechnungen bezahlt werden. Auch als kurz danach der ambulante Pflegedienst zum Einsatz kam und Gerda bei der Körperpflege, beim Anziehen und beim Essen half, gab es noch genug für uns zu tun: Neben dem Einkaufen auch das Besorgen und Beantworten der Post, das Erledigen der Bankgeschäfte, Terminabsprachen mit dem Hausarzt, Beschaffen von Medikamenten, sauberer Kleidung und vieles andere mehr.

Nachdem sich einige Mitarbeiter vor Ort in Gerdas Wohnung ein Bild von der allgemeinen Lage gemacht hatten, war das Pflegeheim sehr daran interessiert, meiner Mutter außer dem Essen auf Rädern und der wöchentlichen Wohnungsreinigung auch andere Hilfeleistungen anbieten zu können. Daher sorgte die Heimverwaltung selbst dafür, dass Gerda von den Medizinischen Diensten der Krankenkassen (MDK) ein Gutachtertermin angeboten wurde. Wir waren natürlich auch sehr daran interessiert, dass dieser Termin schnell zustande kam. Also widersprachen wir dem vorgeschlagenen Besuchstermin nicht, obwohl Petra am besagten Tag verhindert und ich selbst auf Dienstreise war, wir beide also Gerdas erster Begutachtung durch den MDK nicht beiwohnen konnten. Stattdessen wurde vereinbart, dass außer Gerda und dem Gutachter noch eine enge Freundin unserer Familie und eine erfahrene Mitarbeiterin der Heimverwaltung anwesend sein sollten.

Im Auftrag der Medizinischen Dienste rief ein „netter Herr“ kurz vor dem Termin bei Mutti an und meinte, er würde sich wohl etwas verspäten. Die entsprechend informierte Mitarbeiterin des Pflegeheims kam daraufhin natürlich auch etwas später zu Gerda, der Gutachter vom MDK war aber doch pünktlich da gewesen und inzwischen schon wieder weg. Was für den besagten netten Herrn den Vorteil hatte, dass – anders als vorgesehen – niemand vom Pflegeheim bei dem Gutachtertermin anwesend war. Mit dem MDK hatten also nur Gerda und unsere Freundin Nina am schön gedeckten Kaffeetisch gesessen und sich unterhalten.

Passend zu dieser gemütlichen Runde fiel das Gutachten von Kleinigkeiten abgesehen ausgesprochen positiv für meine Mutter aus: Zwar wurden „körperliche Schwäche, Urininkontinenz, arterieller Hypertonus (Bluthochdruck), deg. WS-Syndrom (Probleme mit der Wirbelsäule), Rundrücken“ festgestellt. Aber: „Es liegt keine demenzbedingte Fähigkeitsstörung, geistige Behinderung oder psychische Erkrankung vor… Versicherte ist zu allen Qualitäten orientiert und kann sich selbstständig beschäftigen… Tremor in den Händen (zittrige Hände), keine Paresen (Lähmungserscheinungen).“ Und weiter an verschiedenen Stellen des Gutachtens: „Appetit erhalten… Stuhlgang regelmäßig und täglich… Aus den festgestellten Auffälligkeiten resultiert kein regelmäßiger bzw. dauerhafter Beaufsichtigung- und Betreuungsbedarf… Begutachtungsergebnis: Pflegestufe 1.

Ausdrücklich erwähnt wurde in dem Gutachten, dass der gutachterlich festgestellte Hilfebedarf „mit den Angaben der Pflegeperson“ übereinstimme. Und genau da lag der Hund begraben: Für meine Mutter war der Besuch des Gutachters ein besonderes gesellschaftliches Event, bei dem sie noch einmal alle ihre Qualitäten als Gastgeberin ausspielen konnte – ein allerletztes Mal, wie sich dann leider herausstellen sollte. Obwohl meine Eltern nie ein eigenes Haus besessen hatten, sondern ihr ganzes Leben über in verschiedenen Wohnungen zur Miete gewohnt hatten, waren ihre Einladungen und Gesellschaften immer ein Ausdruck purer Lebensfreude gewesen. Bei solchen Gelegenheiten waren Gerda und mein Vater Fritz Wilhelm Ernst Bartelt stets perfekt gekleidet, der Tisch äußerst geschmackvoll und opulent gedeckt und die ganze Wohnung auf Hochglanz gebracht. Kurz und gut, von den Speisen und Getränken bis hin zum äußeren Anschein: Kein Gast vermisste irgendetwas, kein Gast ging unzufrieden nach Hause. Es wurde gelacht und diskutiert, gelegentlich auch gesungen und getanzt, und selbst wenn ich mich als Kind früh auf mein Zimmer zurückgezogen hatte, fand ich ruhigen und erholsamen Schlaf meist erst viel später, als mir lieb war.

Fast genau so war es auch am Tag des MDK-Besuchs: Meine Mutter hielt an perfekt gedeckter Kaffeetafel Hof, und wenn unsere gute Freundin nicht dabei gewesen wäre, wären so nebensächliche Themen wie Urininkonsistenz und Gerdas angeblich guter Appetit und täglicher Stuhlgang niemals zur Sprache gekommen. Stattdessen hätte sie noch mehr von ihrer bewegten Vergangenheit mit Flucht und Vertreibung und ihren späteren Erfolgen bei ehrenamtlichen Tätigkeiten, vornehmlich für die evangelische Kirche in ihrer damals neuen Heimat Schleswig-Holstein gesprochen. Auch ihr Buch („Bilder einer Kindheit“) und meine eigenen beruflichen Erfolge wären sicherlich ausführlich zur Sprache gekommen. Auffällig, ihr hervorragendes Gedächtnis, so war es dann auch im ersten MDK-Gutachten vermerkt.

Leider entsprach die Realität nur wenig dem schönen Schein während der gemütlichen Kaffeerunde: Anders als im Gutachten vermerkt, zeigte Gerda seit Beginn ihrer Hilfsbedürftigkeit deutliche Anzeichen einer schweren Depression, hatte ihren Appetit fast vollständig verloren, trank wegen ihrer Blasenprobleme viel zu wenig, konnte sich auch nicht mehr selbst beschäftigen, weder dem Radio- noch dem Fernsehprogramm folgen, sondern saß die meiste Zeit apathisch und bewegungslos in ihrem Wohnzimmerstuhl und litt demzufolge – entgegen der eindeutig falschen Aussage das Gutachtens – unter einer schweren Verstopfung, der auch mit Abführmitteln (sie nahm regelmäßig Dulcolax-Zäpfchen) nicht mehr beizukommen war. „Wann holt mich der Herrgott endlich zu sich?“, war immer öfter die Begrüßung, wenn ich zu ihr kam. Noch heute sehe ich mich abends in ihre nur spärlich erleuchte Wohnung kommen und meine Mutter regungslos am Tisch sitzen, schweigend ins leere Dunkel blickend, im Geist ihren Herrgott und Schöpfer um Erlösung anflehend – ein Schatten ihrer selbst.