Loe raamatut: «Bilingue»
Bilingue
Dieses Buch ist nach den aktuellen Rechtschreibregeln verfasst. Quellenzitate werden jedoch in originaler Schreibweise wiedergegeben. Hinzufügungen sind in [eckigen Klammern] eingeschlossen, Auslassungen mit […] gekennzeichnet.
Der Verlag Hier und Jetzt wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2016-2020 unterstützt.
Mit weiteren Beiträgen haben das Buchprojekt unterstützt:
Stadt Biel
Ville de Fribourg
Oertli-Stiftung
Verein O.S.K.A.R
Kultur Natur Deutschfreiburg
Lektorat:
Rachel Camina, Hier und Jetzt
Gestaltung und Satz:
Aude Lehmann, Zürich Simone Farner, Naima Schalcher, Zürich
Bildbearbeitung:
Benjamin Roffler, Hier und Jetzt
ISBN Druckausgabe 978-3-03919-460-5
ISBN E-Book 978-3-03919-939-6
E-Book-Herstellung und Auslieferung:
Brockhaus Commission, Kornwestheim
© 2019 Hier und Jetzt,
Verlag für Kultur und Geschichte GmbH, Baden, Schweiz
Inhalt
Vorwort
Einführung von Christophe Büchi
Schweiz, wie hast Du’s mit der Mehrsprachigkeit?
Alltagssprache
Das Bieler und das Freiburger Modell
Politik
«Biel/Bienne» vs. «Ville de Fribourg»
Sprachgeschichte
Zyklische Entwicklung und Kontinuität
Zweisprachige Beschilderung
Politikum in Freiburg, Selbstverständlichkeit in Biel
Beziehung der Sprachgemeinschaften
Reibungen vs. Verbesserungswille
Neuste Entwicklungen
Revolutionen in Freiburg und Spaltung in Biel
Bernjurassier und Welschbieler
Ihre besondere Stellung im Kanton Bern
Sprachliche Herausforderungen
Urs Schwaller und die Romandie-Diskussion
Nachwort
Anmerkungen
Vorwort
In der Schweiz gibt es zahlreiche mittelgrosse Städte, doch nur zwei sind zweisprachig: Biel und Freiburg. Biel zählt gut 56 000 Einwohner, ist die grösste zweisprachige Ortschaft in der Schweiz und landesweit bekannt für diese Besonderheit. Die Behörden streichen den Bilinguismus in den Auftritten Biels hervor und verkaufen ihn als Trumpf. «Willkommen in Biel/Bienne – grösste zweisprachige Stadt der Schweiz und Uhrenweltmetropole»: Das liest man als Erstes, wenn man die offizielle Webseite der zwischen 1225 und 1230 gegründeten Stadt am Jurasüdfuss aufruft.
Anders Freiburg: Obwohl die Zähringerstadt seit ihrer Gründung im Jahr 1157 stets zweisprachig war, ist ihr amtlicher Name nach wie vor «Ville de Fribourg». Denn die Freiburger Behörden haben bisher – anders als jene in Biel – Freiburg nicht formell zweisprachig erklärt. Zwar lebt man in der 42 000 Einwohner zählenden Stadt die Zweisprachigkeit durchaus und die Regierung bekennt sich seit ein paar Jahren zum zweisprachigen Charakter Freiburgs. Doch die Stadtregierung setzt auf eine «pragmatische Zweisprachigkeit», wie sie sagt. Dabei ist Freiburgs Bilinguismus laut dem Historiker Ernst Tremp eine europäische Besonderheit: Tremp sagt, der Kanton Freiburg sei das einzige Staatsgebilde in Europa, das auf eine seit Beginn zweisprachige Stadt zurückgehe.1
Weshalb ist der Stellenwert der Zweisprachigkeit in Biel und in Freiburg verschieden? Und wie wirkt sich dies in der Lokalpolitik aus? Wie unterscheidet sich das Sprachverhalten von Freiburgern und Bielern im Alltag, und wie zeigt sich die Verschiedenheit beispielsweise in Strassennamen und Beschriftungen des Bahnhofs? Dieses Buch geht diesen Fragen nach:
Welche Unterschiede existieren zwischen Freiburg und Biel und welche Gemeinsamkeiten gibt es?
Die Stadt Freiburg ist Hauptstadt des zweisprachigen Kantons Freiburg. Spricht man über die Zweisprachigkeit Freiburgs, ist es deshalb sinnvoll, einen Blick über die Stadtgrenzen hinaus auf die neusten Entwicklungen der Zweisprachigkeit im ganzen Kanton zu werfen. Beispielsweise ist in diesem Buch die Rede vom Fusionsverfahren, in dem sich die Stadt Freiburg befindet. Es könnte sein, dass bei einer Fusion Freiburgs mit Agglomerationsgemeinden die Kantonshauptstadt noch stärker französisch geprägt wird. Es ist aber auch möglich, dass genau diese allfällige Fusion der Stadt die offizielle Zweisprachigkeit einbringt.
Wie die Stadt Freiburg für den Kanton Freiburg, so hat auch die Stadt Biel eine grosse Bedeutung für die Zweisprachigkeit des Kantons Bern: Biel mit seinen rund 26 000 Welschbielern ist die Ortschaft mit den meisten französischsprachigen Einwohnern im Kanton. Der Kanton Bern gewährt dem französischsprachigen Berner Jura und den Welschbielern besondere Rechte. Darauf und auf die Folgen für den Kanton Bern, die sich aus dem in der Schwebe befindenden Abgang Moutiers zum Kanton Jura ergeben würden, fokussiert dieses Buch ebenfalls.
Eine Herausforderung ist die Zweisprachigkeit nicht nur in den Kantonen Bern und Freiburg selbst, auch Auswärtige tun sich oft schwer mit der Besonderheit Freiburgs und Biels. Schreibe ich nun «Freiburg-Gottéron» oder «Fribourg-Gottéron»?, fragen sich beispielsweise Deutschschweizer Journalisten. Darf ich «Neuenstadt» schreiben oder sollte ich den Namen «La Neuveville» für das Bielerseestädtchen verwenden? Sind Freiburger Romands oder nicht? Diesen und weiteren Fragen widmet sich das Schlusskapitel.
Als Deutschfreiburger bin ich mit der Zweisprachigkeit aufgewachsen. Sie war selbstverständlich und war es doch nicht ganz, denn als Deutschsprachiger gehört man in Freiburg zur Minderheit. Als ich als Journalist der Nachrichtenagentur SDA (heute: Keystone-SDA) häufig mit respektive in Biel zu tun hatte, nahm ich wahr, wie unterschiedlich in den beiden Städten mit dem Thema umgegangen wird. Es reizte mich, genauer hinzusehen, den Ursachen und Auswirkungen vertiefter nachzugehen. So ist dieses Buch entstanden.
Mein Anspruch ist es nicht, einen umfassenden Überblick zu allen Aspekten von Biels und Freiburgs Zweisprachigkeit zu liefern. Beispielsweise listet dieses Buch nicht auf, wie viele Initiativen es in den beiden Städten – und in den Kantonen Freiburg und Bern – schon zur Förderung der Zweisprachigkeit in den Schulen gegeben hat. Ich hebe vielmehr gewisse aussagekräftige Aspekte hervor, zum Beispiel eben den alltäglichen Sprachgebrauch in Biel und in Freiburg und die unterschiedliche Beschilderung von Strassen und Plätzen.
Dieses Buch stützt sich auf zahlreiche Gespräche mit Bewohnerinnen und Bewohnern Biels und Freiburgs, die beiden Stadtpräsidenten inklusive. Weitere Quellen sind eigene Erlebnisse, zahlreiche Publikationen über die beiden Städte und ihren Bilinguismus sowie mein eigenes umfangreiches Archiv zum Thema.
Mein Ziel ist es, den Leserinnen und Lesern die beiden Städte Biel und Freiburg mit ihrer faszinierenden Besonderheit, der Zweisprachigkeit, näherzubringen. Das Buch soll auch aufzeigen, welche Stellung die zwei Städte innerhalb ihrer Kantone haben. Wer sich für Sprache, Sprachpolitik und Sprachgeschichte interessiert, soll auf seine Kosten kommen. Das Buch selbst ist in einer Sprache geschrieben, die für alle gut verständlich sein soll.
Freiburg ist eine Brückenstadt – im eigentlichen und im übertragenen Sinn. Einerseits weist die auf einem Plateau hoch über der Saane erbaute Zähringerstadt tatsächlich viele Brücken auf (im Bild die 2014 eingeweihte Poyabrücke). Andererseits schlagen Stadt und Kanton Freiburg Brücken von der Deutschschweiz in die Romandie und umgekehrt. (Bild: Charles Ellena)
Die Bieler Altstadt, die sich ziemlich weit vom Bahnhof entfernt am Fuss einer Jurafalte befindet, bleibt Biel-Besuchern, die sich nur im Stadtzentrum bewegen, verborgen. Aus der Vogelperspektive zeigt sich ihr Charme. Im Vordergrund die Stadtkirche, hinten rechts die Französische Kirche, dahinter der Bielersee mit der St. Petersinsel. (Bild: Matthias Käser/Bieler Tagblatt)
Einführung
Von Christophe Büchi
Schweiz, wie hast Du’s mit der Mehrsprachigkeit?
Ausländische Gäste, welche die Schweiz bereisen und sich für die Sprachensituation unseres Landes interessieren, sind oft überrascht. Wissend, dass sie in ein offiziell viersprachiges Land gekommen sind, meinen sie, dass auch die meisten Schweizerinnen und Schweizer viersprachig oder zumindest mehrsprachig sind. Sie erwarten, dass sie sich in der Schweiz ein lustiges Sprachengemisch anhören können und stellen dann überrascht fest, dass sich dieser viersprachige Staat aus vier weitgehend einsprachigen Sprachregionen zusammensetzt; dass die Mehrzahl der Bewohner dieses Landes, wie das auch in den umgebenden Staaten der Fall ist, im Alltag meist nur eine einzige Sprache spricht; und dass die Zahl der Schweizer, die sich fliessend in mehr als einer Landessprache ausdrücken kann, weit weniger gross ist, als dies in der Ferne oft angenommen wird.
Natürlich ist dieser Befund zu nuancieren. Er trifft vor allem für die Bewohnerinnen und Bewohner der beiden grössten Sprachregionen zu, also für die Deutschschweizer und die Romands. Tatsächlich wird in der Deutschschweiz an den meisten Orten fast durchwegs Deutsch – oder genauer: Schweizerdeutsch – gesprochen, in der französischen Schweiz fast durchwegs Französisch (die Dialekte wurden hier seit Beginn des 19. Jahrhunderts erfolgreich ausgejätet). Daneben hört man auf den Strassen und den Bauplätzen der Deutschschweiz und der Romandie eine Vielzahl von Immigrationssprachen, und in den Büros mehr und mehr auch Englisch.
Die anderen Landessprachen dagegen fristen eher ein Mauerblümchendasein. Italienisch hört man in der Deutschschweiz und in der französischen Schweiz immer weniger, nicht zuletzt deshalb, weil die Kinder und Grosskinder der italienischen Gastarbeiter längst Schweizerdeutsch oder Französisch sprechen, und weil die Einwanderer aus Italien, die in den 1960er-Jahren den fremdenfeindlichen Bewegungen als rotes Tuch dienten, längst von Menschen aus weit exotischeren Ländern abgelöst wurden. Die französische Sprache, die in der deutschen Schweiz einst als chic galt, ist dort im Rückzug, weil der weltweite Siegeszug des angloamerikanisch dominierten Way of Life zum Niedergang des Prestiges der französischen Kultur geführt hat.
Die Stellung der deutschen Kultur und Sprache in der welschen Schweiz schliesslich war – hélas! – schon immer eine prekäre, zwei Weltkriege und die nationalsozialistische Barbarei haben sie noch zusätzlich und dauerhaft beschädigt. Dass Deutschland und vor allem Swinging Berlin in den letzten Jahren bei der welschen Jugend im Schwange war, hat den historischen Niedergang nicht dauerhaft gebremst. Und die welschen Abwehrreaktionen gegen die Deutschschweizer Mehrheit sowie die alemannische Liebe zu den schweizerdeutschen Dialekten tragen das Ihre dazu bei, den meisten Romands allein schon die Idee auszutreiben, dass man Deutsch wirklich lernen könnte. Versuchen Sie, in der internationalen Stadt Genf eine Auskunft in deutscher Sprache zu bekommen: Sie können es ebenso gut auf Finnisch versuchen! Dass alle Genfer Schülerinnen und Schüler flächendeckend während der obligatorischen Schulzeit mehrere Jahre Deutschunterricht verabreicht bekommen, ändert überhaupt nichts daran, im Gegenteil. Wer sich nach den Gründen für die Unkenntnis erkundigt, bekommt von Romands oft die erbauende Auskunft: «Ich kann nicht Deutsch, ich habe es in der Schule gelernt». Damit ist auch schon alles gesagt. Arme Deutschlehrerinnen und Deutschlehrer. Sisyphus im Klassenzimmer …
Mit anderen Worten: In der französischen Schweiz ist Französisch im Alltag fast so beherrschend wie in Frankreich, in der Deutschschweiz ist Deutsch fast so dominant wie in Deutschland. Eine Ausnahme bilden allerdings die Agglomerationen Freiburg und Biel/Bienne, die an der «Sprachgrenze» – oder um es sympathischer zu sagen: entlang der deutsch-französischen «Kontaktzone» – gelegen sind. Hier durchmischen sich Deutsch und Französisch in einem gewissen Mass, allerdings auf sehr unterschiedliche Weise, wie der Autor der vorliegenden Darstellung im Detail nachweist. Aber selbst in diesen beiden Agglomerationen kann, so scheint mir, von einem flächendeckenden Bilinguismus nicht gesprochen werden. Und noch weniger ist dies an der Walliser Sprachkontaktzone um Sierre (Siders) der Fall, wo sich der Bilinguismus im Verlauf der Jahrzehnte eher noch zurückentwickelt hat.
Etwas anders sieht es dagegen bei den «Hyper-Minoritären» aus, will sagen: bei den Bewohnerinnen und Bewohnern der italienischsprachigen und erst recht der rätoromanischen Schweiz. Hier ist die Anzahl der Personen, die regelmässig zwischen ihrer Muttersprache und einer anderen Landessprache «switchen» und auch mehrere Landessprachen wirklich beherrschen, bemerkenswert hoch; bei den Schweizer Sprachminderheiten zeigt es sich eben – wie in anderen Ländern auch –, dass es keine bessere Sprachlehrerin gibt als die pure Notwendigkeit.
Wenn die Mehrsprachigkeit ein Identifikationsmerkmal der Swissness darstellt, kann man mit Fug und Recht sagen, dass die Angehörigen der kleinen Sprachminderheiten die besten und eigentlich die einzigen typischen Schweizer sind. Übrigens trifft dies auch auf viele Menschen mit Migrationshintergrund zu, die oft von ihrer Biografie her zur Mehrsprachigkeit «verdammt» sind. Nur wer sesshaft ist, kann es sich leisten, einsprachig zu sein.
Viersprachiger Staat, weitgehend einsprachiger Alltag? Eine weitere Einschränkung dieses etwas plakativen Befunds ist angebracht. Natürlich gibt es in der Schweiz mehr als in offiziell einsprachigen Staaten eine ganze Reihe von staatlichen, parastaatlichen und privaten Organisationen, in denen mehrere Landessprachen gesprochen und geschrieben werden. Dies gilt in der Schweiz besonders für all jene nationalen – «eidgenössischen» – Institutionen, die an das in der Bundesverfassung festgeschriebene Prinzip der Viersprachigkeit gebunden sind. Allerdings ist es eine altbekannte Tatsache, dass die vier Landessprachen, von denen drei (Deutsch, Französisch und Italienisch) als vollberechtigte Amtssprachen und eine weitere (Rätoromanisch) als «fast vollberechtigte» Amtssprache anerkannt sind, zwar im Prinzip gleich sind, einige aber etwas gleicher als andere. Konkret: In der Bundesverwaltung, aber auch im Bundesparlament und in vielen anderen eidgenössischen Instanzen, wird eine Art temperierte Mehrsprachigkeit gepflegt, bei der Deutsch dominiert und Französisch zumindest respektiert wird. Italienisch als terza lingua spielt aber eine nur sehr untergeordnete Rolle, vom Rätoromanischen gar nicht zu sprechen. Die Eidgenossenschaft ist viersprachig in ihrem Prinzip. In der Realität ist Mutter Helvetia eher zweieinhalbsprachig.
Die Feststellung, dass die Schweiz zwar ein offiziell viersprachiger Staat ist, die meisten Schweizerinnen und Schweizer aber im besten Fall zwei Landessprachen regelmässig verwenden, soll nun aber nicht bedeuten, dass sich die Bewohnerinnen und Bewohner dieses Landes nicht um Mehrsprachigkeit bemühen würden. Gerade die jungen Schweizerinnen und Schweizer, ob «AOC» oder mit Migrationshintergrund, reisen viel. Sie sprechen im Durchschnitt besser Englisch als ihre Eltern und Grosseltern, und immer häufiger beherrschen sie Spanisch, Russisch, Chinesisch und Japanisch. Studien haben gezeigt, dass viele Bewohnerinnen und Bewohner unseres Landes regelmässig mehrere Sprachen benutzen. Nur: Es sind eben nicht unbedingt unsere Landessprachen. Die Globalisierung führt zu einer sprachlichen Vielfalt, wobei immer mehr Sprachen unsere nationalen Landessprachen konkurrenzieren. Natürlich unternehmen die öffentlichen Schulen nach wie vor grosse Anstrengungen, um den Schülerinnen und Schülern die Kenntnis einer zweiten Landessprache und wenn möglich sogar einer dritten zu vermitteln. Aber der Erfolg dieser Anstrengungen ist ein beschränkter. Denn sie reiben sich an der soziologischen Tatsache, dass immer mehr Menschen sich weniger für die nationalen Sprachnachbarn interessieren als für die ferneren Kulturen dieser Welt.
Soll man dies bedauern? Ja und nein. Natürlich wäre es ein Jammer, wenn immer weniger Schweizerinnen und Schweizer sich für die anderen Sprachregionen des Landes interessieren würden. Aber gleichzeitig ist es auch gut, dass die Fenster zur Welt weit aufgemacht werden, auch in sprachlicher Hinsicht. Und selbst die viel beklagte Tendenz, sogar im Kontakt zwischen Schweizern verschiedener Sprache auf Englisch auszuweichen, muss ja nicht gleich das Ende einläuten. A tout prendre ist es besser, die Schweizer verständigen sich in Englisch als überhaupt nicht.
Aber damit es nicht so weit kommt, dass sich die viersprachige Schweiz nur noch dank einer fünften Sprache verständigen kann, sollte man sich in den an der Nahtstelle zwischen Deutschschweiz und Romandie gelegenen Agglomerationen Freiburg und Biel umsehen, wo Deutsch und Französisch in meist friedlicher Koexistenz zusammenwohnen. Diese Agglomerationen sind Labors, die zeigen, wie Schweizer Mehrsprachigkeit auch in Zukunft funktionieren könnte. Deshalb kommt das vorliegende Buch gerade zur rechten Zeit.
Alltagssprache
Das Bieler und das Freiburger Modell
In Biel ist es üblich, dass man auf der Strasse oder in einem Restaurant in der Muttersprache des Gegenübers angesprochen wird. Meistens passt man sich sprachlich an. Nicht so in Freiburg: Dort ist Französisch Trumpf. In den Läden geht das Personal davon aus, dass auch Deutschsprachige Französisch verstehen und sprechen.
April 2018 in Biel, in einem Warenhaus: «Bonjour», sagt die Verkäuferin zum Kunden. Dieser antwortet in Schweizerdeutsch, er suche einen Schreibblock. Die Verkäuferin antwortet in Hochdeutsch, Papeterieartikel befänden sich etwas weiter hinten im Laden, ungefähr dort, bei den weissen Regalen. Sie zeigt mit dem Finger in jene Richtung. Der Kunde geht hin, wählt einen Schreibblock und zahlt an der Kasse.
September 2018 in Freiburg, ebenfalls in einem Warenhaus: Ein Kunde fragt im Sensler Dialekt – das Senslerdeutsche ist die in und um Freiburg geläufige Variante des Schweizerdeutschen und hat seinen Namen vom Sensebezirk, der früher grösstenteils zur Stadt Freiburg gehörte – eine junge Verkäuferin, ob sie Deutsch verstehe. Die Frau schaut den Kunden entgeistert an und antwortet nicht. Sie hat offensichtlich nichts verstanden. Der Kunde nimmt einen zweiten Anlauf und formuliert sein Anliegen in Französisch, er suche ein Hemd mit kurzen Ärmeln. Ob es das zu dieser Jahreszeit noch gebe?
Diese kleinen Szenen sind auf den ersten Blick unbedeutende Ereignisse im Alltag der beiden Städte Biel und Freiburg. Doch sie sind für das Verhältnis von Deutsch und Französisch aussagekräftig. Sie zeigen nämlich auf, dass in Biel allgemein akzeptiert wird, dass es zwei Sprachen gibt, und dass es für die Kundin, den Kunden grundsätzlich möglich ist, in einem Laden in ihrer Muttersprache zu sprechen. In Freiburg hingegen wird vorausgesetzt, dass Deutschsprachige Französisch sprechen und fähig sind, ihren Wunsch in der Sprache Molières auszudrücken. Schafft der deutschsprachige Kunde das nicht, steht er vor einem Problem.
Wie die Verständigung in den zweisprachigen Städten Biel und Freiburg genau funktioniert, analysierte ein Team von Linguisten rund um die Professoren Bernard Py (Neuenburg) und Iwar Werlen (Bern) in den Nullerjahren dieses Jahrhunderts mithilfe von angehenden Sprachwissenschaftlern.
Im Auftrag der Linguisten führten die Studierenden zuerst in Biel siebzig Gespräche durch. Sie fragten beispielsweise Passanten nach dem Weg oder liessen sich von Verkäuferinnen und Verkäufern zu einem Produkt beraten. Alle Gespräche wurden aufgezeichnet, fünfzig wurden ausgewertet. Die meisten Gespräche wurden in Französisch initiiert, denn man wollte wissen, wie im mehrheitlich deutschsprachigen Biel auf die Minderheitensprache reagiert wird und ob sie gegenüber dem Deutschen benachteiligt ist.
Wie im 2010 erschienenen Werk «Leben und Reden in Biel/Bienne»2 nachzulesen ist, bestätigten die Untersuchungen ein Verhalten, das in den 1980er-Jahren bereits der Sprachwissenschaftler Gottfried Kolde beobachtet und das er als «Bieler Modell» bezeichnet hatte. Gemeint ist, dass in Biel in der Regel jene Person die Sprache festlegt, die das Gespräch eröffnet: Unabhängig davon, welche Erstsprache die zweite am Gespräch beteiligte Person spricht, das Gespräch wird in der initiierten Sprache fortgesetzt.
Auf ihre Fragen auf Bieler Strassen und in Geschäften erhielten die Studierenden in 46 von 50 Fällen eine Antwort in jener Sprache, in der sie gefragt hatten. In 32 dieser 46 Fälle passte sich der oder die Befragte ans Französische an, in 11 Fällen an das Schweizerdeutsche und in 3 Fällen ans Hochdeutsche. Nur in 4 Fällen erfolgte also keine Anpassung. 20 Gespräche wurden nicht näher untersucht, weil sie zwischen Gleichsprachigen erfolgten: Die Studierenden stiessen auf Passanten oder Verkaufspersonal gleicher Muttersprache.
Die Sprachwissenschaftlerin und Philosophin Sarah-Jane Conrad schreibt zu diesem Resultat im erwähnten Werk, mit ihrer aktiven Verwendung beider Sprachen gestünden alle erwähnten 46 Personen ihrem Gegenüber immer auch das Recht auf die eigene Sprache oder gar auf Einsprachigkeit zu. «Denn mit der eigenen Anpassung zeigen sie, dass sie weder erwarten noch fordern, dass ihr Gesprächspartner die Partnersprache kennt.» Indem anderen das Recht auf Einsprachigkeit eingeräumt werde, untermauere man die prinzipielle Gleichbehandlung beider Sprachen zusätzlich und verankere sie beide wirksam und emblematisch im öffentlichen Raum.
Bei den Gesprächen in Bieler Läden galt als Initialsprache jene, welche die beziehungsweise der Studierende verwendete, also nicht jene, in der sie oder er von der Verkäuferin beziehungsweise dem Verkäufer angesprochen wurde: Eine Studentin betrat beispielsweise einen Laden und wurde von einem Verkäufer mit «Grüessech wou» begrüsst. Reagierte sie mit «Bonjour», quittierte dies der Verkäufer mit «Bonjour» – und weiter ging das Gespräch in Französisch.
Zwei Bielerinnen üben in einem «Sprachtandem» ihr Deutsch respektive Französisch mit der Hilfe des Gegenübers, das die fremde Sprache als Muttersprache spricht. So lernen beide. (Bild: Adrian Streun/Bieler Tagblatt)
Conrad folgert, das Bieler Modell setze voraus, dass Personen, die in Biel eine Dienstleistung anbieten, zweisprachig sein müssten: «Nur dann können sie sich wie beschrieben sprachlich anpassen.» Perfekte Sprachkenntnisse würden aber nicht vorausgesetzt. Es herrsche Toleranz und Pragmatismus.
Mit Pragmatismus ist etwa auch gemeint, dass es laut den Befragten in Biel gang und gäbe ist, mitten in einem Satz die Sprache zu wechseln, wenn jemand dazukommt, von dem man weiss, dass er oder sie Deutsch oder Französisch nicht beherrscht. «Sich bielerisch zu verhalten, heisst demnach nicht nur, sich im Gespräch mit Unbekannten diesen sprachlich anzupassen und so die Kommunikation überhaupt einmal zu ermöglichen», schreibt Conrad. Es gehe auch darum, im Alltag jene Sprache zu wählen, in der man ein Gespräch möglichst problemlos führen könne. Die Sprachwahl werde nur in den seltensten Fällen ausdrücklich thematisiert.
Die Linguistin spricht auch von einem «Bieler Sozialvertrag», der wie folgt lautet: «Jede Sprachgruppe akzeptiert und toleriert auf individueller wie kollektiver Basis die andere Sprachgruppe und macht für sich selber den gleichen Anspruch geltend.» Der Bieler Sozialvertrag besage also nicht, welche Sprache jemand zu sprechen habe, sondern mit welcher Haltung die Sprache gesprochen werden solle und wie sich die Beteiligten zu begegnen hätten: geprägt von gegenseitigem Respekt, gegenseitiger Akzeptanz und Toleranz. «Diese drei Aspekte bilden den Kernpunkt der Bieler Kommunikation», so Conrad.
Der Welschbieler Journalist Jean-Philippe Rutz sagt, er beginne in Biel ein Gespräch, etwa wenn er im Restaurant etwas bestelle, grundsätzlich in Französisch. Schliesslich gelte es zu demonstrieren, dass Biel auch französischsprachig sei und dass Französischsprachige das Recht hätten, in ihrer Sprache bedient zu werden. Wenn sich erweise, dass das Gegenüber das Französische nicht beherrsche, sei er aber überhaupt nicht irritiert und wechsle ohne Umschweife auf Hoch- oder Schweizerdeutsch. Meistens wird Rutz, in Biel aufgewachsen, auf Französisch bedient.
Ich habe 2018 in Biel getestet, ob das Bieler Modell auch wirklich zur Anwendung kommt: Neun Mal betrat ich ein Geschäft oder eine Gaststätte und sprach jene Sprache, welcher sich die Verkäuferin oder der Kellner nicht bediente. In einem Warenhaus wurde ich mit «Grüessech, bonjour» begrüsst. Ich wählte nach der zweisprachigen Begrüssung Deutsch, was wir in der weiteren Unterhaltung fortführten. Resultat: In acht von neun Fällen passten sich die Gesprächspartnerinnen und -partner meiner Initialsprache an.
Nicht in meiner Sprache wurde ich einzig in einem Kiosk am Guisan-Platz bedient. Obwohl ich auf Französisch gesagt hatte, ich wolle diese Packung Kaugummi kaufen, sagte die Verkäuferin: «Drüsächzg» – das mache 3.60 Franken. Auch als ich mit einem Zögern eine zweite Aussage provozierte, wiederholte sie «Drüsächzg». Vielleicht missachtete sie das Bieler Modell, weil sie gerade in ein intensives Gespräch mit der deutschsprachigen Kollegin involviert war, als ich den Kiosk betrat. Und passte sich mir, dem Kunden, deshalb nicht an.
In Anlehnung an den Begriff «Bieler Modell» kann man von einem «Schweizer Modell» sprechen. Dies dann, wenn beispielsweise ein Italienischsprachiger auf einen Deutschsprachigen trifft, beide die andere Sprache mindestens passiv beherrschen und deshalb jeder in seiner Sprache sprechen kann. Auch dieser Begriff ist in der Linguistik eingeführt; ihn hat laut Conrad ebenfalls der Sprachwissenschaftler Gottfried Kolde in den 1980er-Jahren geprägt. Dieses Modell wird in den Eidgenössischen Räten verwendet oder in Sitzungen von überregionalen Unternehmen, die mehrsprachige Angestellte beschäftigen. Conrad sagt, das Schweizer Modell komme in Biel durchaus auch zur Anwendung. Sie zitiert etwa eine Informantin, die ihr berichtete, in ihrem Büro rede sie Deutsch, die Kollegin Französisch.
Geringere sprachliche Anpassung in Freiburg
Die Berner und Neuenburger Linguisten wollten in den Jahren 2000 bis 2004 eigentlich nur den Sprachgebrauch in Biel erforschen. Sie erhielten aber von etlichen Bieler Auskunftspersonen den Hinweis, in Freiburg unterscheide sich die Situation stark von jener in Biel. Das liess die Wissenschaftler aufhorchen und sie beschlossen, in der Saanestadt ebenfalls siebzig Gespräche durchzuführen. In Freiburg wurden die Interviews eher in Deutsch durchgeführt, um wie in Biel die Akzeptanz der Minderheitensprache zu testen.
Resultat: Erstens verweigerten in Freiburg mehr Personen das Gespräch als in Biel. Die Studierenden führten die Interviews jeweils mit einem versteckten Mikrofon durch – sowohl in Biel als auch in Freiburg –, waren aber aus rechtlichen Gründen gezwungen, unmittelbar nach dem Gespräch die Befragten darauf hinzuweisen und zu fragen, ob die Aufnahme verwendet werden dürfe.
Zweitens passten sich die Befragten in Freiburg nur in 22 der 70 durchgeführten Interviews der von den Studierenden gewählten Initialsprache an. Es kam somit in nur rund halb so vielen Gesprächen (in Freiburg 22; in Biel 46) zu einer Anpassung. Zahlreich waren die Situationen, in denen die Studierenden Deutsch sprachen, aber eine französische Antwort erhielten. «Nicht selten wurden unsere Mitarbeitenden auch direkt aufgefordert, ihre Kenntnisse des Französischen aktiv einzubringen und die Sprache zu wechseln. Die Anzahl Aufnahmen, in denen unsere Mitarbeitenden gebeten wurden, die Sprache zu wechseln, ist mit elf mehr als doppelt so hoch wie in Biel», schreibt Conrad.
Die Auswertung der Befragungen in Freiburg zeige, fährt Conrad fort, dass Französisch in Freiburg häufig unverzichtbar sei und französischsprachige Personen «ganz selbstverständlich davon ausgehen, dass die deutschsprachige Kundschaft oder ein deutschsprachiger Passant Französisch spricht oder dieses zumindest versteht». Anders als in Biel verweigere die französischsprachige Mehrheit in Freiburg somit der deutschsprachigen Minderheit das Recht auf Deutsch und folglich das Recht auf Einsprachigkeit – unabhängig davon, ob nun das Schweizer Modell verwendet oder der Kunde aufgefordert werde, die Sprache zu wechseln. «Hingegen fordert die französische Mehrheit dieses Recht für sich selber ein, wenn sie ein Deutsch redendes Gegenüber bittet, die Sprache zu wechseln. Die sprachlichen Rechte und Pflichten innerhalb der beiden Freiburger Sprachgruppen sind damit unterschiedlich verteilt.»
Die St. Michaelsgasse (Rue St-Michel) in Freiburg. In dieser Gasse, die zum Kollegium St. Michael und zur Universitäts- und Kantonsbibliothek führt, halten sich stets viele Schülerinnen und Schüler sowie Studentinnen und Studenten auf. Entsprechend zweisprachig ist das Ambiente. (Bild: Charles Ellena)
In Anlehnung an das Bieler und das Schweizer Modell könnte man also von einem «Freiburger Modell» sprechen: Nicht die Initialsprache der Kundin, des Kunden ist entscheidend für die Fortführung des Gesprächs, Umgangssprache ist prinzipiell die lokale Mehrheitssprache.
Auch in Freiburg habe ich die aus den frühen Nullerjahren dieses Jahrhunderts stammenden Forschungsergebnisse stichprobenartig überprüft. In zehn Läden respektive Restaurants sprach ich das Personal in Senslerdeutsch an. Das Resultat dieser Stichproben ist natürlich nicht repräsentativ, es stimmt aber ziemlich gut mit den Erkenntnissen der Neuenburger und Berner Linguisten überein: In mehreren Fällen reagierte das Personal gar nicht auf mein Deutsch und forderte das Geld in Französisch ein. Allerdings beklagte sich niemand über mein Deutsch und niemand forderte mich auf, Französisch zu reden. Es ist aber ganz klar, dass man es sich in Freiburg einfacher macht, wenn man von Beginn an Französisch spricht. Ein Verkaufsgespräch ist meist eine Situation, in der nicht viel Zeit vorhanden ist. Es muss rasch gehen. Also traute ich mich beispielsweise nicht, in einer Bäckerei, wo Punkt zwölf Uhr mittags alle ein Sandwich wollten, den Deutschtest zu machen. Ich verlangte mein Brot auf Französisch.