Loe raamatut: «Die letzte gute Tat», lehekülg 2

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Der Brief

Das bekannte Metallgeräusch des Briefkastendeckels holte ihn aus seinem lethargischen Zustand. Es war kurz nach halb 12. Um diese Zeit kam die Post. Nicht, dass ihn diese in der jetzigen Situation besonders interessiert hätte, aber der Weg zum Briefkasten brachte etwas Abwechslung und es entsprach auch seinem Pflichtbewusstsein, Post nicht länger liegen zu lassen als notwendig.

Er nahm einen dünnen Modekatalog für Thea und einen unfrankierten Brief aus dem Kasten.

„Den Brief hat nicht der Postbote gebracht, der muss schon vorher drin gelegen haben“, machte sich Behrens klar.

Er öffnete den Umschlag und fand ein DIN-A4-Blatt, auf dem zu lesen war:

Hallo Max, jetzt keine Panik, schön vernünftig bleiben und nichts Unüberlegtes tun, so wie es deine Art ist. Deiner Freundin Thea geht es gut und so soll es auch bleiben. Du gehst jetzt zur Bank, hebst 10.000 Euro ab und kommst damit wieder nach Hause. Ich rufe dich um 13 Uhr an.

Wenn du jetzt telefonierst oder irgendjemandem von der Sache erzählst, gibt es kein Wiedersehen mit deiner „Schönen“. Wir beobachten dich.

Behrens hielt den Text, der auf einem PC geschrieben worden war, wie versteinert in seinen Händen. Er las ihn ein zweites und drittes Mal.

Er schaute auf seine Uhr. Es war viertel vor 12. Wollte er den Anweisungen folgen, musste er sich sofort auf den Weg machen. „Heute ist Donnerstag, da schließt die Bank in der Mittagszeit von 12.30 bis 14 Uhr. Es braucht keine Überlegung, was jetzt zu tun ist“, sagte er sich. „Es geht schließlich um das Leben meiner Verlobten. Erst einmal das Geld holen und dann hören, wie es weitergehen soll.“

Behrens war als nicht besonders großzügig bekannt und so kam ihm auch in den Sinn, es könne sich um einen Scherz handeln. Nach wenigen Sekunden verwarf er diesen Gedanken und akzeptierte, sich von dem Geld trennen zu müssen.

Er stieg wieder auf das ungeliebte Fahrrad und machte sich auf den Weg zur Bank. Für einen Moment überlegte er, ob er nicht zumindest dem Filialleiter, mit dem er zwar nicht befreundet war, aber schon einmal Tennis gespielt hatte, den Grund der Geldabhebung nennen sollte.

Der Filialleiter erschien Behrens, trotz der nur kurzen Begegnung auf dem Tennisplatz, vertrauenswürdig und er war sicher, dass dieser nicht in die Angelegenheit verwickelt war. Es könnte zudem von Vorteil sein, war seine Überlegung, gerade wenn es zum Äußersten kommen würde, einen Zeugen an seiner Seite zu wissen.

Als er die Schalterhalle der Bank betrat, saß der Filialleiter in seinem gläsernen Büro. Behrens ging darauf zu, gestikulierte und sein Tennispartner gab Zeichen zum Hereinkommen.

In diesem Augenblick verwarf Behrens den Gedanken, seinem Gegenüber etwas von dem Brief zu erzählen, sondern bat um die Auszahlung der geforderten Summe. Dabei brabbelte er ungefragt etwas von einem möglichen Schnäppchen-Autokauf am Wochenende und verließ mit dem Geld die Bankfiliale.

Als er wieder zu Hause ankam, war es zehn Minuten vor 13 Uhr. Er ging in den ersten Stock an seinen Schreibtisch, holte das Diktiergerät aus der Schublade und kehrte an den Esstisch zurück.

Der Anruf kam erst eine halbe Stunde später.

„Hallo Max, ich weiß, du magst keine Unpünktlichkeit, aber wir mussten sicher sein, dass du alles so machst, wie es in dem Brief steht. Ist doch so oder hast du etwa deinem Filialleiter einen Hinweis gegeben?“, wollte der Anrufer wissen.

„Nein, das habe ich nicht. Wie geht es Thea? Ich möchte mit ihr sprechen, sonst lege ich gleich auf“, drohte Behrens.

„Ho, ho, ho, was sind denn das für Worte. Willst wohl einen auf stark machen vor deiner Thea? Das steht dir nicht und jetzt komm wieder runter!“, höhnte der Anrufer.

„Also, folgender Plan: Du legst den Umschlag mit dem Geld in deinen Briefkasten und fährst dann mit dem Bus um 16 Uhr 12 zum Hauptbahnhof Rostock. Dann setzt du dich in das Bahnhofsrestaurant und bleibst dort, bis wir dich anrufen. Wenn alles glatt gelaufen ist, kannst du deine Verlobte noch am selben Abend in die Arme nehmen, und der ganze Spuk ist für euch vorbei“, versprach der Anrufer.

Behrens, unterwürfig: „Sie nennen mich Max, wie sonst nur meine Freunde. Kennen wir uns? Wie darf ich Sie ansprechen?“

Der Anrufer zögerte einen Moment: „Na gut, weil du nett gefragt hast und uns hoffentlich keine Schwierigkeiten machen wirst. Du kannst Joe zu mir sagen. Und noch etwas: Bleib weiterhin so cool wie einst bei Manouch!“

Joe legte auf. Behrens drückte die Wiederholungstaste, ohne Erfolg. Er hätte ihn gerne noch gefragt, was er damit meinte: „So cool wie einst bei Manouch.“

Diesen Namen hatte er schon seit Jahren nicht mehr gehört und doch waren ihm die Ereignisse, die er eng mit dem Namen verband, sofort wieder gegenwärtig.

Der Tod des Vaters

August 2013

Behrens sah sich auf der Beerdigung seines Vaters umgeben von den Freunden und Vereinskollegen sowie einigen Nachbarn. Eine Einladung seitens Behrens’ Mutter zum Leichenschmaus gab es nicht und so verließen fast alle Trauergäste nach ihrer Beileidsbekundung das Friedhofsgelände.

Lediglich Norbert Kollakowski, Mitte 50, den alle im Schützenverein nur „Kolla“ nannten, blieb, um Frau und Sohn des Verstorbenen anzusprechen.

„Frau Behrens, Sie wissen sicher, dass sich Ihr Mann und ich schon lange kannten und wir mehr als nur Vereinskameraden waren. Ich bin zwar nicht besonders wohlhabend, aber wenn ich Ihnen sonst irgendwie helfen kann, lassen Sie es mich bitte wissen. Ihr Mann war immer klüger als ich und mein bester Freund, der mich mehr als nur einmal vor einer Dummheit bewahrt hat. Ich schulde ihm sehr viel.“

„Ich weiß, wer Sie sind. Mein Mann hat öfters von Ihnen gesprochen. Auch er empfand Sie als Freund. Ich danke Ihnen für Ihr Angebot, doch im Augenblick bedarf es keiner weiteren Hilfe und außerdem habe ich meinen Sohn Florian, der mir zur Seite steht“, entgegnete die Witwe.

Kolla wandte sich Behrens zu.

„Florian, wir kennen uns ja vom Fußball. Mein Angebot gilt natürlich auch für dich. Gib mir Bescheid, wenn ich irgendetwas für dich tun kann!“

Behrens war mit seinem Vater und ihm zweimal ins Olympiastadion zu Hertha BSC gegangen. Bei der Gelegenheit erzählte sein Vater ihm, dass Kolla von einfacher Natur wäre und einer der Menschen, die nie mehr besitzen würden, als sie gerade in der Tasche trugen.

„Doch ein treuer Kamerad, der für seine Freunde jede Last und Schuld auf sich nimmt, um zu helfen und anerkannt zu werden. Bei ihm liegen Dummheit und Stärke dicht beieinander. Ein eindimensionaler Mensch.“ Das waren die Worte seines Vaters, die Behrens im Gedächtnis geblieben waren.

„Ich kann mich noch gut an unsere Treffen beim Fußball erinnern, Herr Kollakowski. Wenn etwas Zeit vergangen ist, wird es sicher eine Gelegenheit geben, bei der wir auf Ihr Angebot zurückkommen“, bedankte sich auch Behrens für die angebotene Hilfe. „Sie waren nicht nur der Freund meines Vaters, sondern sind auch unser Freund“, versicherte er Kolla und wandte sich wieder seiner Mutter zu.

Er teilte ihr mit, dass er sich von der Arbeit freigeben lassen werde, um in den nächsten Tagen an ihrer Seite sein zu können.

Behrens arbeitete offiziell als Buchhalter in einer kleinen Reifenfirma. Tatsächlich war er, wie man so sagt, der Mann für alle Fälle. Er kümmerte sich um den Einkauf der Ware, stand gelegentlich hinter dem Verkaufstresen oder wurde, wenn gebraucht, vom Junior-Chef zum Auslieferungsfahrer „umfunktioniert“. Sein Gehalt war bescheiden, so wie er auch.

Nach drei Wochen, in denen Behrens nicht zur Arbeit gegangen war, machte ihm seine Mutter den Vorschlag, eine Auszeit zu nehmen und mit dem Geld, das ihm der Vater vererbt hatte, eine Weile zu ihrem älteren Bruder nach Calpe in Spanien zu gehen.

Ihr Bruder Ferdinand, den dort alle nur Nando nannten, hatte bereits seit vielen Jahren ein Restaurant mit Namen „La comadreja“ gepachtet, welches er selbst betrieb. Auf demselben Grundstück befand sich ein kleines Haus, in dem er auch wohnte. Behrens’ Familie hatte dort schon mehrfach Urlaub gemacht.

Ferdinand war nur vier Jahre älter als Behrens’ Mutter, doch sah man ihm sein Alter, im Gegensatz zu seiner Schwester, deutlich an. Seine Haut war von der Sonne gegerbt, die vormals blonden Haare hatten sich in Weiß verwandelt und mit 172 Zentimeter Größe waren 95 Kilo erkennbar zu viel.

Behrens kannte seinen Onkel nicht nur durch seine Urlaube in Spanien, sondern auch von dessen Besuchen in Deutschland. Ferdinand war Anhänger von Eintracht Frankfurt und hatte ihn schon mehrfach zum Spiel in die Commerzbank-Arena eingeladen. Sie wohnten in einem Vier-Sterne-Hotel im Stadtteil Bockenheim. Ferdinand kam drei bis vier Mal im Jahr, immer wenn die Eintracht ein Sonntags- oder Montagsspiel hatte, und blieb in der Regel bis Dienstagmorgen. Sonntag und Montag waren auch die Ruhetage in seinem Restaurant.

Ferdinand stimmte dem Besuch seines Neffen zu, genauso wie der Junior-Chef dem Wunsch von Behrens, das Arbeitsverhältnis sofort zu beenden.

Calpe

September 2013

Behrens wurde von seinem Onkel am Flughafen Alicante abgeholt und herzlich begrüßt.

„Mein lieber Florian, schön, dass du da bist, auch wenn die Umstände alles andere als erfreulich sind. Es muss eine schwere Zeit für dich sein. Dein Vater war wirklich ein Pfundskerl, den jeder mochte. Jetzt versuch erst einmal, eine Weile abzuschalten, später schauen wir dann weiter! Du wohnst bei mir im Haus. Bleib so lange du willst!

Leider konnte ich nicht zur Beerdigung kommen, ein paar Herren im weißen Kittel hatten etwas dagegen. Wie geht es meiner Schwester?“

„Mama ist eine starke Frau. Sie hat mir gesagt, dass du im Krankenhaus warst. Ist es etwas Ernsthaftes, wenn ich fragen darf?“

„Was soll ich mich beklagen, vom Gastwirt erwarten die Leute, dass er auch trinkt, wozu er eingeladen wird. Ein paar Jahre wird meine Leber noch aushalten müssen“, witzelte Ferdinand.

Behrens befolgte den Rat seines Onkels und versuchte, das schreckliche Ereignis hinter sich zu lassen. Selbst mit seiner Mutter telefonierte er nicht mehr täglich.

Er besuchte bekannte Orte, bummelte durch die schöne Altstadt, bestieg zur Hälfte den „Penon de Ifach“, das Wahrzeichen des Ortes, und landete schließlich im Hafen, wo er den Fischern zusah, wie sie ihren Tagesfang in Kisten von Bord in die große Auktionshalle brachten. Dort warteten bereits die Händler mit ihren Kühlwagen, um das Meeresgetier in die umliegenden Restaurants oder ins Landesinnere zu bringen.

Obwohl Behrens Mitleid mit den sich noch bewegenden Krabbeltieren hatte, bewunderte er die Arbeit der Fischer, die, anders als er, von kräftiger Statur waren und gebräunte Haut besaßen.

Nach einigen Tagen kam bei ihm Langeweile auf und er fragte seinen Onkel, ob er im Restaurant mithelfen könne. Ferdinand nahm die Hilfe gerne an und beorderte Behrens zunächst in die Küche zum Spülen. Nicht immer gab es dort genügend zu tun, dann servierte er den Gästen das Essen an den Tisch.

„La comadreja“ war ein in die Jahre gekommenes Gasthaus mit überwiegend spanischen Spezialitäten. Auf der Speisenkarte konnte man Gazpacho, Paella und Patatas Bravas finden, aber auch Wiener Schnitzel mit Pommes. Das Restaurant lag außerhalb des Zentrums direkt an der Landesstraße 332. Kein typisches Touristenlokal, eher ein Treffpunkt für Einheimische und Menschen, die ihr Heimatland verlassen hatten, um ihre letzten Jahre ohne spürbaren Winter zu verleben.

Manouch

Ein solcher Mensch war Manouch, die mit bürgerlichem Namen Greta Berger hieß. Eine ältere Juwelierswitwe aus der Schweiz, die schon viele Jahre im Rollstuhl saß. Trotz der Decken auf ihren Beinen und dem eleganten Poncho über Schulter und Rücken konnte man eine große, schlanke Figur vermuten. Den Geschichten nach zu urteilen, die sie Bekannten und Freunden erzählte, muss sich ihre Sturm-und-Drang-Zeit in den 80er-Jahren abgespielt haben. Ihr wahres Alter würde sie wahrscheinlich nicht einmal unter Drogen verraten.

Sie kam zwei bis drei Mal in der Woche und wurde immer von ihren Bediensteten begleitet. Meistens waren es ihre Haushälterin Lucia und deren 16-jähriger Sohn Fabio.

Sie bestellte ein Gericht, welches sie nie ganz aufaß. Je mehr sie trank, desto unterhaltsamer wurde sie. Dabei übertönte ihre Stimme die ohnehin sehr lauten Gespräche der Spanier. Sie entschuldigte sich mehrfach am Abend, spendierte Wein und Brandy sowie die letzte Runde vor Lokalschluss.

Eines Abends, als es mal wieder nicht so viel in der Küche zu tun gab, brachte Behrens den Gästen das Essen. Als er an den Tisch von Manouch kam, sprach sie ihn auf Schwyzerdeutsch an: „Ich glaube, ich habe Sie hier noch nie gesehen, sind Sie neu? Verstehen Sie mich überhaupt?“

Bevor Behrens antworten konnte, eilte Nando hinter dem Tresen hervor und sagte: „Das ist Flo, mein Neffe aus Deutschland, der Sohn meiner Schwester. Er hilft mir ein wenig in der Saison aus.“

„Da hast du mir ja die ganze Zeit einen feinen jungen Mann verschwiegen. Sind Sie das erste Mal in Calpe, Flo?“, fragte Manouch interessiert und schaute dabei mit einem Lächeln im Gesicht an Behrens hoch.

„Meine Freunde nennen mich Max, bitte. Nein, ich war schon einige Male im Urlaub hier“, gab Behrens artig zur Antwort.

„Dann will ich dich jetzt auch Max nennen. Bitte bring mir noch einen Vino tinto; für Lucia und Fabio ein Wasser sin gas und eine Cola light.“

Sichtlich verärgert ging Behrens zu Nando, der inzwischen wieder hinter dem Tresen stand.

„Onkel, ich möchte dich nochmals bitten, mich vor anderen nicht Flo zu nennen. Du weißt, dass ich diese Abkürzung schon in der Schule nicht mochte.“

Nando hörte gelassen zu, füllte die Gläser und brummte leise: „Bueno und nun bring die Bestellung an den Tisch, Florian.“

In den nächsten zwei Wochen wiederholte sich dieser Ablauf noch einige Male: Manouch kam mit ihrem Gefolge, bestellte Essen und Trinken sowie die letzte Runde vor Lokalschluss. Lediglich die Gespräche zwischen ihr und Behrens wurden länger und intensiver.

Sie erzählte ihm aus ihrem Leben und schwärmte von der aufregenden Zeit mit ihrem Mann, einem der namhaftesten Juweliere in Zürich, vielleicht sogar der ganzen Schweiz.

Sie reisten mit eigenem Jet und fertigten Schmuck nur für die beste Gesellschaft. Dabei nannte sie bekannte Namen aus dem Film- und Musikgeschäft. Bei all den Geschichten und Anekdoten hing Behrens ihr an den Lippen. Er konnte davon nicht genug bekommen und war von der älteren Dame und deren „Lebensbeichte“ stark beeindruckt.

Sie hingegen genoss es, in Behrens einen echten Bewunderer gefunden zu haben und sparte nicht mit pikanten Details aus der Welt der Schönen und Reichen.

Am Ende einer dieser langen Abende im Restaurant bat Manouch Behrens, sie am nächsten Tag in ihrem Haus zu besuchen. Sie hätte etwas mit ihm zu besprechen und wolle ihm einen Vorschlag machen.

„Das klingt nicht gerade nach einem Date, zumal die Behinderung und das Alter …“, überlegte Behrens und holte sich Rat bei Nando.

„Manouch ist eine wohlhabende Frau und, soweit ich weiß, ohne Nachkommen. Vielleicht hat sie sich in dich verguckt und will dich als Erben einsetzen“, scherzte Nando und schob noch nach: „Morgen ist eh Sonntag und das Lokal geschlossen. Du hast also frei.“

Am nächsten Tag, pünktlich um 19 Uhr, klingelte Behrens an der mit Holzschnitzereien verzierten Haustür, die nach wenigen Augenblicken von Lucia geöffnet wurde.

„Hola, mi señor, Manouch esta esperando.“

Behrens verstand die Worte nicht, entnahm aber dem Lächeln von Lucia, dass er willkommen sei und trat ein.

Die Villa von Manouch war ein großer Bungalow und nur wenige Gehminuten von dem Haus seines Onkels entfernt. Behrens hatte sich bereits vor einigen Tagen das Anwesen von außen angeschaut und im Geheimen gewünscht, einmal in diesem Prachtbau Gast sein zu dürfen.

Das Haus verfügte über eine Doppelgarage, einen Pool, der in den Abendstunden beleuchtet war und eine große Terrasse, an die sich ein gepflegter Zierrasen anschloss. Des Weiteren ein überdachter Grillplatz mit einer hochwertigen Sitzgruppe für sechs bis acht Personen.

„Wie und wann will sie das nur alles nutzen?“, ging es Behrens schon beim ersten Betrachten durch den Kopf.

Manouch saß in ihrem Rollstuhl in der Nähe des Kamins. Sie bot ihm einen Platz an und fragte, was er trinken möchte. Sie hätte alles da, er solle sich ruhig trauen.

„Wir sind ja jetzt privat und hinterher kommt auch keine Rechnung. Du bist ein gut erzogener junger Mann. Das habe ich bereits bei unserer ersten Begegnung bemerkt, lieber Max.“

Sie schmeichelte ihm und beim Klang seines Namens wich seine Nervosität. Er fühlte sich merkbar wohl in Gegenwart der älteren Lady.

„Dann nehme ich das gleiche Getränk, das bei Ihnen auf dem Kaminsims steht. Was ist es eigentlich?“

„Rum mit Cola und eine Scheibe Zitrone. Nicht unbedingt spanisch und mein Arzt hat es mir auch verboten, doch genau das Richtige für den letzten Tag der Woche. Nando hat ja heute leider geschlossen“, bedauerte Manouch und gab ihrer Bediensteten ein kurzes Handzeichen.

Wenige Augenblicke später brachte Lucia das Getränk. Es war auch ihr letzter Dienst, danach verabschiedete sie sich mit „Hasta mañana“ und verließ das Haus.

„Kennen Sie meinen Onkel schon lange?“, wollte Behrens wissen.

„Ja, schon recht lange. Als er vor vielen Jahren nach Calpe kam, war es nicht leicht für ihn. Es ist nie einfach für einen Ausländer, hier ein Gewerbe zu betreiben. Touristen sind immer herzlich willkommen, die bringen Geld. Doch wenn du hier Geld verdienen willst, nimmst du es möglicherweise einem Spanier weg, so denken manche Behörden heute noch. Mein verstorbener Mann war deinem Onkel sehr behilflich. Er hatte die Kontakte und wenn es sein musste, auch das nötige Kleingeld. Du verstehst, was ich damit meine.“

Behrens verstand nicht, was Manouch damit meinte, doch er folgte mit Spannung ihren Worten, als wenn er zum ersten Mal Charles Dickens’ Weihnachtsgeschichte hören würde.

„Ich darf behaupten, dass dein Onkel ohne die Hilfe meines Mannes nicht da wäre, wo er jetzt ist. Doch das ist lange her und mein Mann seit zwei Jahren tot. Im Übrigen ist das Konto inzwischen ausgeglichen“, erklärte Manouch.

„Was soll das heißen: Das Konto ist ausgeglichen?“, fragte Behrens interessiert.

„Mein lieber Max, das werde ich dir heute nicht erzählen und du fragst auch besser deinen Onkel nicht danach“, empfahl Manouch.

Nach einem Moment des Schweigens folgten wieder Geschichten aus dem aufregenden Leben der Gastgeberin, bis Behrens mit einem Schlag der Atem stockte.

Manouch stand aus ihrem Rollstuhl auf, bedächtig, mit leichtem Abstützen an der Wand, und ging in die Küche, um erst die Rum- und danach die Colaflasche ins Wohnzimmer zu bringen. Eine Hilfestellung von Behrens lehnte sie bereits im Ansatz ab und füllte die beiden Gläser nach.

Der Tonfall ihrer Stimme änderte sich. Es klang Verbitterung darin mit und eine tiefe Unzufriedenheit war zu spüren.

„Man ist hier nur so gut wie sein Geld. Sollen sie doch alle glauben, dass ich ein Krüppel bin und nicht merke, wenn sie mich bestehlen. Aber was soll ich machen? Für die meisten Erledigungen brauche ich ihre Hilfe und die erhalte ich nur aus Mitleid und vor allem wegen der Bezahlung. Du solltest am Sonntagmittag herkommen, da tummelt sich hier die ganze Familie von Lucia . Lucia kauft von meinem Geld ein und die ganze Bande verbringt ihren ‚Heiligen Sonntag‘ auf meinem Grundstück. Heute habe ich es ihnen untersagt, weil du zu Besuch gekommen bist.“

„Gibt es denn niemand anderen, der die Besorgungen für Sie erledigen kann?“, fragte Behrens mitleidig.

„Gab es, ein deutsches Pärchen. Ich hatte es im Restaurant deines Onkels kennengelernt. Am Anfang schien alles in Ordnung zu sein. Die Frau war fleißig im Haus und konnte auch ein wenig kochen. Er hat sich um den Garten gekümmert und mir alle notwendigen Sachen aus der Stadt besorgt.“

Mit jedem Satz steigerte sich Manouchs Aufregung. Ihre Stimme zitterte und die Kräfte ließen nach. Sie musste sich wieder in ihren Rollstuhl setzen.

„Was ist passiert? Wo sind die beiden jetzt?“

„Das Pärchen erhielt einen Brief aus Estepona. Das ist an der Costa del Sol. Sie haben mir sogar den Text vorgelesen. Es ging darum, einer Freundin zu helfen. Sie versprachen mir, in zwei bis drei Wochen wieder zurück zu sein. Das war vor sechs Monaten. Die kommen nicht mehr zurück!“, stellte Manouch nüchtern fest.

„Warum sind Sie sich da so sicher? Vielleicht ist nur etwas dazwischengekommen und hat ihre Rückkehr verzögert.“

„Ich bin mir sicher, weil sie mich bestohlen haben.“ Manouch bekam feuchte Augen. „Mehrere wertvolle Ringe und Armbänder haben sie mitgenommen, diese Verbrecher.“

Für Behrens, der bisher nie mit kriminellen Dingen zu tun gehabt hatte, war dies ein Schock. „Wie kann man nur eine behinderte Frau bestehlen und sie dann ihrem Schicksal überlassen?“ Diese Frage blockierte ihn und erstickte jeglichen möglichen Kommentar im Keim. Er war einfach nur erschrocken über so viel Heimtücke.

Manouch hatte sich mit einem großen Schluck aus ihrem Glas beruhigt und ging in die Offensive über.

„Die werden sich noch wundern“, drohte sie mit erhobenem Zeigefinger. „Als der Brief auf dem kleinen Garderobentisch lag, habe ich mir die Adresse des Absenders aufgeschrieben. Irgendwie hatte ich eine Vorahnung, dass ich diese einmal brauchen werde. Jetzt fehlt es mir nur an jemandem, der dort hinfährt und mir die Sachen zurückholt. Jemandem mit Mut und Durchsetzungsvermögen. Einem Menschen, dem ich voll vertrauen kann.“

Das hatte gesessen. Man konnte es Behrens’ Gesicht ablesen, wie er sich in der Rolle des „Gerechten“ sah, dem Max aus seinem Film, dessen Familie getötet wurde und die er dann gnadenlos rächte. Zuerst wollte er aber noch eine andere Möglichkeit prüfen.

„Was ist mit der spanischen Polizei? Wäre die nicht dafür zuständig? Könnten die das Paar nicht ausfindig machen und festnehmen?“

„Man merkt, dass du immer nur im Urlaub hier warst. Die Polizei macht gar nichts für uns Ausländer. Wir sollen gefälligst unsere Angelegenheiten untereinander regeln“, belehrte ihn Manouch und fügte noch hinzu: „Erst wenn du halbtot am Straßenrand liegst, werden sie vielleicht ein Protokoll aufnehmen. Mehr darfst du nicht erwarten. Solange du deine Steuern zahlst und keiner spanischen Behörde in den Weg kommst, lassen sie dich hier wohnen. Du bringst ja schließlich auch Geld in das Land, genau wie die Touristen.“

Behrens war fassungslos. Das hätte er von den Spaniern nie gedacht. Nun war er entschlossen, dieser hilflosen Frau zur Seite zu stehen und machte ihr ein Angebot.

„Wenn Sie mir Ihr Vertrauen schenken, dann fahre ich dorthin und versuche mein Bestes. Nur wenn es unterwegs irgendein Problem gibt, mein Spanisch ist nicht besonders …“, gab Behrens zu bedenken.

Manouch beugte sich in ihrem Rollstuhl weit nach vorne, als wollte sie Behrens etwas ins Ohr flüstern.

„Würdest du das wirklich für mich tun? Natürlich habe ich Vertrauen zu dir, außerdem bist du der Neffe deines Onkels. Du sollst auch nicht alleine reisen. Ich hatte schon vor einigen Tagen mit Lucias Sohn Fabio gesprochen, er würde gerne einmal nach Südspanien fahren und dich sicher begleiten. Gleich morgen kann ich mit ihm darüber reden. Selbstverständlich übernehme ich alle Kosten und eine Belohnung gibt es obendrauf.“

Beide Gesichter strahlten, als hätten sie den Hauptgewinn in der „Sorteo de Navidad“, der spanischen Weihnachtslotterie, geholt.

„Max, jetzt möchte ich noch etwas wissen: Warum hat dich dein Onkel als Flo vorgestellt?“

Diese Frage machte Behrens verlegen. Er musste sie schon einige Male beantworten, denn auch sein Vater rief ihn gelegentlich so. Natürlich wollte er gegenüber Manouch nicht unhöflich sein und offenbarte sich.

„Ich heiße eigentlich Florian, aber schon in der Schule haben sie mich wegen meiner geringen Größe Flo, nach dem Tier mit ‚h‘, genannt. Das wollte ich nicht mehr und deshalb sage ich allen Menschen, die ich kennenlerne, mein Name sei Max.“

„Und warum gerade Max?“, fragte Manouch weiter.

„Max ist kurz und gut zu merken. Außerdem gab es einmal einen Filmhelden, der gegen richtig böse Menschen kämpfen musste, nachdem diese seine Familie ermordet hatten. Er hat sie gerächt und alle getötet“, erzählte Behrens mit leuchtenden Augen.

„Jetzt bist du mein Held und rächst mich. Das werde ich dir nie vergessen. Lass uns darauf trinken und bitte sag nicht mehr ‚Sie‘ zu mir, wir sind doch jetzt enge Verbündete!“, bot Manouch Behrens an und reichte ihm die Hand.

Sie saßen noch bis weit nach Mitternacht zusammen, schmiedeten Pläne und verwarfen diese im nächsten Moment wieder. Sie mussten feststellen, dass der Alkohol keinen klaren Gedanken mehr zuließ und verabredeten sich für den nächsten Abend. Bis dahin würde Behrens auch mit seinem Onkel gesprochen haben und Manouch mit Lucia und Fabio.

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