Loe raamatut: «Die letzte gute Tat», lehekülg 3

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Das Versprechen

Donnerstag, 14. November 2019

Das Klingeln des Handys holte Behrens aus seinen Gedanken; es war seine Mutter.

„Florian, ich warte schon die ganze Zeit auf deinen Anruf. Was hat die Polizei gesagt?“

„Thea ist nicht einfach vermisst. Die haben Thea entführt und verlangen 10.000 Euro Lösegeld“, stotterte Behrens.

„Mein Junge, du bist ja ganz aufgelöst. Und wer sind überhaupt ‚Die‘? Was wird die Polizei jetzt unternehmen?“

„Ich habe bei der Polizei nur die Vermisstenanzeige aufgegeben und als ich nach Hause kam, lag ein Brief im Kasten. Das Geld habe ich schon von der Bank abgehoben. Später rief mich ein Mann an und gab mir Anweisungen“, erklärte Behrens.

„Was für ein Mann und welche Anweisungen? Lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen! Willst du wirklich keine Polizei einschalten?“

Behrens’ Mutter wurde ungeduldig und bedrängte ihren Sohn mit weiteren Fragen.

„10.000 Euro scheint mir für eine Entführung zu wenig. Das ist sicher nur die erste Rate. Sie werden weiteres Geld von dir verlangen. Konntest du die Stimme erkennen?“

„Die Stimme war mir fremd, aber der Anrufer schien mich zu kennen. Er sprach mich mit ‚Max‘ an und wusste von meinem Hang zur Pünktlichkeit. Am Ende des Gesprächs sagte er etwas ganz Seltsames: Ich soll so cool sein wie einst bei Manouch.“

„Manouch, das ist doch schon Jahre her. Wie kann er etwas davon wissen? Du hast doch mit niemandem darüber gesprochen, oder?“, erkundigte sie sich.

Er beantwortete die Frage nicht, sondern sagte seiner Mutter, dass er sich jetzt fertig machen müsse, um pünktlich an der Bushaltestelle zu sein. Er versprach ihr, sie später anzurufen.

Dabei beschlich ihn ein schlechtes Gewissen, denn er hatte das Versprechen gebrochen, niemals mit einem Menschen über die Geschehnisse in Calpe und Manouch zu sprechen.

Am Vorabend des Geburtstages von Thea sah er sich genötigt, ihr die ganze Geschichte zu erzählen. Es war ihm wichtig, seine zukünftige Frau hinsichtlich seiner Vergangenheit nicht im Unklaren zu lassen. Erst danach konnte sie wirklich entscheiden, ob sie seine Frau werden mochte.

Und nun kannte dieser Joe zumindest den Namen Manouch.

Behrens konnte nicht verhindern, zu mutmaßen, was der Entführer seiner Thea angetan haben musste, um an diese Informationen zu gelangen. Er wehrte sich dagegen, diesen Gedankengang weiterzuverfolgen.

„Es wird einen erklärbaren Grund dafür geben. Vielleicht hat Thea nur eine Begebenheit aus meinem Aufenthalt in Spanien erwähnt“, versuchte sich Behrens einzureden.

Die Mission

Calpe, Oktober 2013

Am nächsten Morgen sprach Behrens mit seinem Onkel über das gestrige Treffen mit Manouch und sein Vorhaben, nach Estepona zu fahren.

„Irgendwer muss doch dieser alten Dame helfen. Hast du eigentlich von dem Diebstahl gewusst?“, wollte Behrens von seinem Onkel wissen.

„Ich und halb Calpe haben es gewusst.“

„Und niemand war bereit, ihr zu helfen, auch du nicht? Was sind das nur für Freunde?“, empörte sich Behrens.

Nando nahm den offenen Vorwurf seines Neffen wahr und fühlte sich ungerecht behandelt.

„Wenn du das machen willst, dann mach es, doch verurteile niemals einen Menschen, wenn du nicht alle Details kennst! Dir steht es nicht zu, mich zu beurteilen. Ich bin Manouch nichts mehr schuldig!“

Sein Onkel hatte recht. Behrens merkte, dass er zu weit gegangen war. Doch bevor er sich entschuldigen konnte, hatte sich Nando von ihm abgewandt und das Haus verlassen. Behrens ließ sich das kurze Gespräch wieder und wieder durch den Kopf gehen, ohne die wahren Hintergründe für die gereizte Reaktion seines Onkels zu erkennen.

Es brauchte den ganzen Vormittag, bis er sich darüber klar wurde, dass es zur Wiederherstellung eines harmonischen Miteinanders eine zeitnahe Aussprache zwischen ihnen beiden geben musste. Womöglich würde er dann auch mehr über die Beziehung seines Onkels zu Manouch erfahren. Vielleicht sollte er sie zuerst dazu befragen, schließlich würde er sie heute noch sehen.

Da sie keine konkrete Uhrzeit ausgemacht hatten, konnte sich Behrens noch etwas von dem gestrigen Abend erholen und machte es sich auf dem Sofa bequem. Bei Beginn der Dämmerung verließ er das Haus und wenige Minuten später stand er vor Manouchs Tür. Lucia öffnete ihm wie gewohnt und ließ ihn herein. Er ging gleich zum Wohnzimmer durch, wo die Schweizer Lady bereits auf ihn wartete.

„Ich habe dich eigentlich schon etwas früher erwartet, aber vielleicht war die Cola im Rum nicht mehr gut“, zog Manouch ihren Gast auf.

Behrens ließ die kleine Neckerei über sich ergehen und lächelte sie an, bevor er zum Thema kam.

„Ich habe in der Garage ein Auto gesehen, können wir damit fahren oder müssen wir einen Mietwagen nehmen?“

„Der Wagen wurde seit dem Tod meines Mannes nicht mehr bewegt; wahrscheinlich sind die Zulassung und Versicherung schon abgelaufen. Das bekommen wir in der kurzen Zeit nicht mehr hin. Du kannst das Auto von Lucia haben. Ein fast neuer Seat“, sprach Manouch und übergab Behrens einen Zettel mit den Namen der Flüchtigen und deren Adresse.

„Sein Name ist Hans Joachim Pohl. Der ist sogar echt. Ich habe mir gleich zu Beginn ihrer Tätigkeit seinen Ausweis zeigen lassen. Wie sie mit vollem Namen heißt, weiß ich nicht. Er hat sie immer Tina genannt. Also wird sie Christina oder so heißen“, fügte Manouch hinzu.

Während Manouch noch weitere Details über die Zeit mit dem Gaunerpärchen preisgab, telefonierte Lucia mit ihrem Sohn und beorderte ihn zum Haus. Fabio war ein vorzeigbarer junger Mann mit schulterlangen, schwarzen Haaren und braunen Augen. Er hatte eine einfache Schulbildung und sprach nur spanisch. Behrens und Fabio stellten sich gegenseitig mit wenigen Worten vor, die Manouch übersetzte. Nachdem sie ihren „Einsatzbefehl“ in Spanisch und Deutsch erhalten hatten, verabredeten sie, kommendes Wochenende zur Costa del Sol aufzubrechen, um den Schmuck zurückzuholen.

Die beiden Männer trafen sich am Samstagmorgen im Haus von Manouch und fuhren in Richtung Costa del Sol los. Sie vermieden die Autobahn, auch wegen der Gebühren, und nahmen die Landstraße. Behrens hatte sich mit Hilfe eines Routenplaners über die Wegstrecke nach Estepona informiert. Er erkannte, dass sie, wenn sie durchfuhren, voraussichtlich erst gegen Abend und im Dunkeln ankommen würden. Aus diesem Grund machten sie einen Zwischenstopp und übernachteten in Granada. Fabio hatte in der Schule von dieser geschichtsträchtigen Stadt gehört. Wie gern hätte er die Alhambra besichtigt oder wäre auf den Spuren der Mauren gewandelt. Er bedauerte es sehr, dass dafür keine Zeit blieb. Als kleiner Trost diente ein Vier-Sterne-Luxushotel, in welches sich Behrens mit seinem jungen Begleiter einbuchte. „Wenn schon im Dienste der Gerechtigkeit so weit von zu Hause weg, dann darf es auch ein wenig mehr Komfort sein“, rechtfertigte er für sich und Fabio die Übernachtung in der Nobelherberge. Obwohl ihnen ein Kingsize-Doppelbett zur Verfügung stand, war es Fabios ausdrücklicher Wunsch, auf der ausziehbaren Couch zu schlafen.

Als sie am nächsten Morgen gegen halb 7 den beeindruckenden Frühstückssaal betraten, waren sie fast die einzigen Gäste und von einem Dutzend Servicemitarbeitern umgeben. Sie konnten sich nicht sattsehen. Keinem von beiden war bisher eine solch exquisite Auswahl an Speisen angeboten worden. Ihre Kommunikation untereinander war spärlich. Dabei bediente sich Behrens seiner wenigen Spanischvokabeln und Gestik zur Verständigung. In diesem Moment brauchte es keiner weiteren Worte, waren sie sich doch einig darüber, dass alleine schon wegen des Frühstücksbuffets die Reise sich gelohnt hatte.

Mit Hilfe des Navigationsgerätes erreichten sie gegen Mittag die gesuchte Adresse, Avenida del Mar 159 in Estepona. Es war ein freistehendes Haus mit einer großen, geöffneten Toreinfahrt. Behrens zögerte nicht und parkte den Wagen direkt vor der Eingangstür. Er stieg aus und klingelte; Fabio blieb im Wagen. Eine junge Frau in einem luftigen Strandkleid öffnete.

„Buenos dias, mein Name ist Florian Behrens. Sind Sie Tina?“, fragte Behrens mit strengem Blick.

„Nein, bin ich nicht. Tina ist unter der Dusche. Worum geht es denn?“, antwortete die junge Frau unsicher.

„Was ist mit Hans Joachim Pohl, ist der auch unter der Dusche? Sagen sie beiden, dass ich aus Calpe im Auftrag von Manouch komme.“ Behrens’ Stimme wirkte bestimmend und entschlossen.

Die junge Frau blickte in den Wagen, sah Fabio, wandte sich ab und ging zurück ins Haus.

Es dauerte weniger als zwei Minuten, dann kam sie wieder und bat Behrens, ihr auf die Terrasse zu folgen, was er auch tat.

„Mein Name ist übrigens Monika. Sind Sie ein Freund von den beiden?“, versuchte Monika, einen Smalltalk zu beginnen. Behrens antwortete nicht. Er war damit beschäftigt, seine Anspannung zu halten und sich seine Nervosität nicht anmerken zu lassen.

Hans Joachim Pohl saß, unter einem Sonnenschirm, noch am Frühstückstisch und bevor Behrens etwas sagen konnte, wurde er zuckersüß von ihm begrüßt.

„Ich höre, Sie kommen von weit her. Dürfen wir Ihnen etwas anbieten, es ist noch alles da. Vielleicht einen Kaffee oder ein Glas Sekt? Bitte nehmen Sie doch Platz. Worum geht es eigentlich?“

Behrens blieb stehen und förmlich.

„Sie sind also Hans Joachim Pohl, der Nachname Ihrer weiblichen Begleitung Tina ist uns leider nicht bekannt. Was wir aber wissen, ist, dass Sie Ihre Arbeitgeberin Manouch bestohlenhaben.“

„Wer sagt das?“, wehrte sich Pohl gleich dagegen. „Sie kommen hier einfach her und behaupten so etwas Ungeheuerliches. Wo sind Ihre Beweise? Und wer sind Sie überhaupt?“

„Mein Name ist Florian Behrens. Ich bin von Manouch beauftragt und autorisiert, den gestohlenen Schmuck zurückzuholen.“ Behrens war souverän und strahlte Autorität aus, als wäre sie ihm angeboren.

„Da kann ja jeder kommen.“, regte sich Pohl auf. „Woher wissen wir, dass das stimmt, was Sie sagen? Was aber nicht heißen soll, dass wir zugeben, irgendwelchen Schmuck gestohlen zu haben.“

„Das haben wir vorausgesehen. Manouch hat einen entsprechenden Brief an Sie geschrieben, den ich Ihnen gerne vorlese:

Hans Joachim und Tina, ihr zwei habt mein Vertrauen missbraucht und mich bestohlen. Ihr habt verdient, dass ich euch bei der Polizei anzeige und ihr in eine dreckige, spanische Zelle gesteckt werdet.

Nur weil es auch gute Momente zwischen uns gab, gebe ich euch die Chance, alle Stücke wieder zurückzugeben und noch einmal unbeschadet aus der Sache herauszukommen.

Händigt Herrn Behrens den Schmuck aus, und ich lass die Sache auf sich beruhen! Für den Fall, dass ihr euch weigert, wird euch jetzt Herr Behrens die weitere Vorgehensweise schildern. Auf Nimmerwiedersehen, Manouch.“

„Na los, Herr Behrens, dann erzählen Sie uns doch mal, was passiert, wenn wir nicht machen, was die Alte will“, forderte Pohl mit leicht überheblichem Tonfall.

„Im Wagen sitzt ein enger Freund von Manouch, ein Angehöriger der Guardia civil. Sofern Sie sich weigern, wird er seine Kollegen alarmieren und in wenigen Minuten wird hier alles auf den Kopf gestellt. Ich nehme einmal an, dass sich der Schmuck noch hier im Haus befindet, tut er doch, oder?“, erklärte Behrens und genoss die momentane Situation, in der er sich so überlegen fühlte wie selten zuvor.

Pohl nahm das kommentarlos auf, verließ die Terrasse und ging ins Bad zu Tina, um sie über den ungebetenen Besuch zu informieren. In Windeseile hatten sie ihre Entscheidung getroffen.

Die beiden Diebe hatten von der kompromisslosen spanischen Polizei und der strengen Justiz gehört. Sie erkannten ihre aussichtslose Lage und beschlossen, die Schmuckstücke zurückzugeben. Pohl legte sie auf den Wohnzimmertisch und versicherte, dass es sich dabei um alle Teile handeln würde.

Behrens holte eine Schatulle aus dem Auto und legte den Schmuck hinein.

Beim Verlassen des Hauses stellte sich Pohl noch kurz vor Behrens in den Türrahmen, um ihm noch ein paar Worte mit auf den Weg zu geben.

„Auf eine Quittung, dass wir Ihnen das Zeug gegeben haben, können wir verzichten. Wir werden uns zu gegebener Zeit bei Manouch persönlich vergewissern, dass alles gut angekommen ist.“ Dabei zeigte Pohl ein breites Grinsen im Gesicht.

Behrens wollte diesen Worten keine größere Bedeutung zukommen lassen. Zu mächtig war sein Stolz auf die gelungene Aktion. Er stieg in den Wagen, gab Fabio strahlend die Hand und fuhrlos.

Die Rückfahrt, diesmal ohne Zwischenübernachtung, würde sechs bis sieben Stunden dauern. Behrens war so voller Energie und Glücksgefühle, dass es ihm nichts ausgemacht hätte, noch bis Barcelona weiterzufahren. Fabio telefonierte mit seiner Mutter und berichtete ihr von der erfolgreichen Aktion. Dabei bezeichnete er Behrens als echt coolen Typen.

Es war schon dunkel, als die beiden Männer am Haus von Manouch ankamen. Die ganze Familie von Fabio war versammelt. Selbst Nando ließ es sich nicht nehmen, die „tapferen Helden“ zu begrüßen und sein Lokal für diese Zeit zu schließen. Mit viel Wein und Brandy wurden die beiden bis tief in die Nacht gefeiert.

Am nächsten Morgen setzte sich Nando zu Behrens an den Frühstückstisch.

„Morgen, Florian, ich muss mit dir sprechen. Deine Mutter hat schon einige Male bei mir angerufen, sie vermisst dich! Gestern schien es mir besonders schlimm. Sie bekommt zwar ab und zu einen Anruf von einem ehemaligen Freund deines Vaters, Kowalski oder so, der bietet ihr immer wieder seine Hilfe an oder fragt, ob er sie besuchen darf, doch fühlt sie sich einfach einsam ohne dich.“

Behrens war sichtlich betroffen.

„Das überrascht mich. Wir telefonieren mindestens zwei Mal in der Woche und sie hat nie etwas darüber gesagt.“

„Ich soll dir auf keinen Fall etwas davon erzählen. Tu ich aber doch, denn sie ist meine kleine Schwester und ich habe sie genauso lieb, wie du sie hast.“

„Dann ist es Zeit, wieder nach Hause zu fahren. Der Mann heißt übrigens Kollakowski und war tatsächlich ein Freund von Papa“, klärte Behrens auf.

„Vielleicht wohnst du sogar ein paar Tage bei deiner Mutter. Platz ist sicher genug und eigentlich bist du ja auch dort nie so richtig ausgezogen“, schmunzelte Nando vor sich hin und zog sich dafür einen kurzen, bösen Blick von Behrens zu.

Danach rief Behrens seine Mutter an, um ihr mitzuteilen, dass seine Aufgabe hier erledigt sei und er in den nächsten Tagen nach Hause kommen würde. Er wollte nur noch zu Manouch, um sich ordentlich zu verabschieden. Sie gab ihm die versprochene Belohnung: einen Damenring, besetzt mit einem roten Rubin und Smaragden. Den Wert des Ringes bezifferte sie auf über 3.000 Euro.

Behrens bedankte sich für das großzügige Geschenk und versprach, bald wiederzukommen.

Der Anruf

Donnerstag, 14. November 2019

Behrens legte einen großen Umschlag mit den geforderten 10.000 Euro in den Briefkasten und ging zur Bushaltestelle. Er war früh dran und musste noch 20 Minuten auf den Bus warten. Für die über eine Stunde dauernde Fahrt hatte er sich von zu Hause den Roman „Die Aula“ von Hermann Kant mitgenommen. Die Handlung spielte in der noch jungen DDR und beschrieb die Entstehung sowie Schließung der Arbeiter- und Bauernfakultät. Bei einem seiner wenigen Menschenkontakte im Ort hatte ihm ein in Kühlungsborn geborener Mann erzählt, dass dieses Buch das weltweit am häufigsten übersetzte Werk eines deutschen Schriftstellers sei. Diese Behauptung machte Behrens neugierig und er besorgte sich eine Ausgabe. Er las von Zeit zu Zeit immer mal wieder ein paar Seiten. Doch die Zeitsprünge und wechselnden Handlungsorte sowie die akribisch genau beschriebenen Nebenhandlungen ließen ein zügiges Durchlesen des Romans für Behrens nicht zu. Er tat sich schwer mit dieser Kost, obwohl er die Schilderungen aus der Sicht des DDR-Bürgers Kant über ein Stück deutsche Wirklichkeit als Bereicherung empfand.

Das Buch blieb in der Tasche. Es war die falsche Wahl, um sich abzulenken. Seine Gedanken drehten sich ausschließlich um Thea und ihren möglichen Aufenthaltsort.

Als Behrens am Hauptbahnhof ankam, setzte er sich ins Restaurant und bestellte eine große Cola light ohne Eis. Nachdem eine Stunde vergangen war und kein Anruf kam, fragte er die Bedienung, ob er noch weiter hier sitzen dürfe, auch wenn er nichts mehr bestellen würde.

Die Bedienung war über so viel Höflichkeit irritiert.

„Alles gut, wir schließen erst um 20 Uhr. Dann aber müssen Sie und ich gehen.“

Behrens schmunzelte. Unter anderen Umständen hätte er diese Aussage als Einladung verstanden, doch die aktuelle Situation ließ nicht einmal ansatzweise einen Flirt zu. Ihm war es jedoch wichtig, weiter nett zu sein, las das Namensschild und sagte: „Ich danke, Frau Ines, und wünsche Ihnen später einen angenehmen Feierabend.“

Behrens nahm sein Buch aus der Tasche und versuchte darin zu lesen. Die Kellnerin sah noch das ein oder andere Mal zu Behrens hinüber, ging aber nicht mehr an seinen Tisch. Erst als es kurz vor 20 Uhr war, stand sie wieder vor ihm, um mitzuteilen, dass das Restaurant gleich schließen werde. Er nickte, schaute auf seine Uhr und bedankte sich nochmals für die Großzügigkeit, hier sitzen bleiben zu dürfen. Dann stand er auf und ging vor das Bahnhofsgebäude.

„Kein Anruf“, dachte er und überlegte, ob er mit dem nächsten Bus wieder nach Hause fahren oder noch eine Fahrt abwarten sollte. Inzwischen hatte er auch Hunger bekommen. Die Speisen am Dönerstand gehörten nicht zu seinen Favoriten, bis auf Falafel mit Salat. Er bestellte eine Portion und ließ den nächsten Bus aus. Dem folgenden Bus um 22 Uhr 18 musste er jedoch nehmen, da es der letzte war, der an diesem Abend nach Kühlungsborn fuhr.

Kurz vor Mitternacht war er wieder in seinem Haus. Er öffnete sofort den Briefkasten, doch der Umschlag mit dem Geld war weg.

In Sekundenschnelle war ihm klar, dass die ganze Aktion nur ein Ablenkungsmanöver gewesen war, um ihn vom Haus wegzulocken. Doch was war mit Thea? Er wählte noch einmal ihre Handynummer: „Teilnehmer nicht zu erreichen.“

Er sackte auf dem Sofa zusammen. Verzweiflung, Tränen und Wut kamen über ihn und die bittere Erkenntnis, dieser Situation hilflos ausgeliefert zu sein. In diesem Moment wünschte er sich jemanden zum Reden, einen Freund, dem er seine Nöte und Gefühle anvertrauen konnte. Doch die einzige Person, die dies alles in sich vereinte, war seine Mutter. Doch die wollte er jetzt nicht mehr anrufen. Er blieb im Wohnzimmer, trank noch zwei Brandy, nahm eine Schlaftablette und schlief auf dem Sofa ein.

Die erste Befragung

Freitag, 15. November 2019

Am nächsten Morgen hatte er leichte Kopfschmerzen und suchte nach einer Tablette in der oberen Schublade des Flurschranks, worin sich diverse medizinische Dinge wie Pflaster, Salben und eben auch das gewünschte Aspirin befand.

Erst jetzt entdeckte er das Blinken des Anrufbeantworters. Es war die Nummer seiner Mutter, die er gleich zurückrief.

„Hallo Mama.“

„Was ist passiert? Du wolltest mich doch anrufen. Ich habe mir solche Sorgen gemacht“, warf seine Mutter ihm vor.

„Ich habe bis zum letzten Bus am Bahnhof gewartet, doch es kam kein Anruf und das Geld haben sie sich auch geholt“, gestand Behrens.

„Ist dir schon der Gedanke gekommen, dass dies nur ein übler Scherz ist und Thea sich eine kleine Auszeit nimmt? Oder hast du vielleicht vergessen, dass sie für ein paar Tage bei ihrer Freundin in Bremen übernachtet?“, versuchte die Mutter zu beruhigen, wohl wissend, dass bei ihrem Sohn solche Termine nie in Vergessenheit geraten würden. Dafür war er ein zu großer Pedant.

Behrens wollte Ruhe bewahren, sich unter Kontrolle halten und keine vorschnellen Schlüsse ziehen. So seltsam, wie die Dinge sich auch zeigten, es musste für alles eine Erklärung geben.

„Nein Mama, 10.000 Euro sind wirklich kein Spaß und die wissen so viel über mich und Manouch. Den Umschlag mit dem Geld haben sie aus dem Briefkasten genommen, ohne ihn zu beschädigen. Also haben sie Theas Schlüssel.“

„Dann musst du jetzt zur Polizei gehen. Alleine schaffst du das nicht. Und du darfst nichts von Manouch erzählen. Das geht auch niemanden etwas an“, gab sie ihm mit auf den Weg.

Sie war besorgt um ihren Sohn und darüber, dass er die vor ihm liegenden Aufgaben nicht ohne Hilfe bewältigen konnte. Auch der Gedanke, wieder tief in die Vergangenheit, die für sie und ihn schon längst abgeschlossen schien, zurückzukehren, löste bei ihr eine gewisse Unruhe aus. Zuviel Unsagbares war damals geschehen.

„Wie recht sie hat“, war Behrens klar und er nickte ins Telefon.

„Das mach ich, Mama! Ich gehe jetzt zur Polizeistation und melde mich später bei dir“, versprach er und legte auf.

Zuerst wollte er sich noch etwas frisch machen und seine Sachen wechseln. Plötzlich fiel sein Blick auf den Monatskalender, der auf das gestrige Datum gestellt war. Doch nicht von ihm. Der Kalender wurde ausschließlich von Thea geführt, doch sie fehlte seit zwei Tagen im Haus. „Seltsam“, dachte er.

Bevor er darüber weiter nachgrübeln konnte, klingelte es an der Haustür. Behrens öffnete und zwei uniformierte Polizisten standen vor ihm.

„Guten Tag, sind Sie Florian Behrens?“, fragte einer von ihnen.

„Ja, das bin ich. Es ist gut, dass Sie da sind, ich wollte gerade auf die Wache kommen“, begrüßte Behrens seine Besucher.

Die Beamten sahen Behrens prüfend an, der unausgeschlafen mit zerzausten Haaren und heraushängendem Hemd seine Nacht auf dem Sofa nicht leugnen konnte.

„Warum sind Sie eigentlich da? Gibt es etwas Neues von Thea?“, schob Behrens nach.

„Herr Behrens, Ihr Wagen wurde gefunden. Wir möchten Sie bitten, uns nach Rostock ins Kommissariat zu begleiten.“

„Na klar, können wir gleich machen. Ich geh nur noch kurz ins Bad und bin gleich wieder bei Ihnen!“, stimmte Behrens zu und wollte dabei die Haustür schließen.

Ein Polizist hielt seinen Arm dagegen und bestand auf Einlass.

„Wenn Sie nichts dagegen haben, warten wir im Haus.“

Behrens hatte nichts dagegen, ließ beide Beamte ins Haus und beeilte sich mit seiner Morgentoilette. Er zog sich noch frische Wäsche an und stieg mit den Polizisten in den vor dem Haus geparkten Polizeiwagen.

Auf der Fahrt ins Kommissariat versuchte Behrens, mehr über die Umstände seines gefundenen Wagens zu erfahren und ob es ein Lebenszeichen von Thea gab. Beide Beamten baten um etwas Geduld und versicherten Behrens, dass er alle relevanten Information auf dem Präsidium erhalten würde. Nach 40 Minuten war die Fahrt beendet.

Sie brachten ihn in einen sehr spärlich ausgestatteten Büroraum im ersten Stock. Ein Polizist blieb bei Behrens.

Nach wenigen Minuten betraten ein Mann und eine Frau den Raum. Der Mann war kantig, kein Schwiegersohntyp und niemand, den man als direkten Nachbarn haben wollte, es sei denn, zum Verjagen von Katzen und Wölfen.

Es war Hauptkommissar Spies. Er hätte bereits vor zwei Jahren mit 63 in Pension gehen können, doch es wartete außerhalb des Präsidiums keine einzige Seele auf ihn, die es wert gewesen wäre, nach Hause zu kommen.

Seiner einstigen Angelleidenschaft hatte er nach dem Tod seiner Frau den Rücken gekehrt und ging nur noch ans Wasser, wenn seine Tochter aus Bochum zu Besuch kam und ihn darum bat.

Er trat dicht an Behrens heran und stellte sich und seine Begleitung vor.

„Ich bin Hauptkommissar Herbert Spies und das ist meine Kollegin Kommissarin Tetyana Susemihl. Wir haben Sie hergebeten, weil wir noch einige Fragen wegen Ihrer vermissten Verlobten, Frau Thea Schneider, haben.“

„Sie ist nicht einfach nur vermisst, sie ist entführt worden“, fiel Behrens dem Kommissar aufgeregt ins Wort. „Die Entführer haben von mir bereits Lösegeld bekommen.“

Jetzt unterbrach der Kommissar.

„Einen Moment bitte, uns liegt lediglich eine Vermisstenanzeige vor, die Sie gestern Vormittag auf der Wache in Kühlungsborn aufgegeben haben. Was ist in der Zwischenzeit passiert? Schön der Reihe nach.“

Beide Beamten setzten sich. Susemihl legte einen Notizblock auf den Tisch und begann, mitzuschreiben.

Behrens berichtete sehr detailliert von dem Brief mit der Geldforderung, seinem Besuch in der Bankfiliale und dem Anruf von Joe. Lediglich die Erwähnung von Manouch ließ er weg. Er erzählte von seiner Fahrt zum Bahnhof und dem vergeblichen Warten und dass das Lösegeld aus dem Briefkasten genommen worden war sowie von dem morgendlichen Besuch der Polizisten, die ihn hierhergebracht hatten.

„Herr Behrens, mir liegen Ihre Aussagen vor, die Sie gestern hinsichtlich des Verschwindens von Frau Schneider gegenüber dem Beamten in Kühlungsborn gemacht haben. Bitte schildern Sie uns noch einmal den Ablauf des Tages, an dem Sie Ihre Verlobte das letzte Mal gesehen haben“, forderte Spies.

„Der Tag begann wie immer. Ich stehe gerne früher auf und an manchen Tagen gehe ich noch vor dem Frühstück einkaufen. Mittwoch war so ein Tag. Wegen des schlechten Wetters nahm ich das Auto aus der Garage, fuhr zum Supermarkt, um frische Heidelbeeren für unser Müsli sowie ein Sixpack stilles Wasser zu kaufen. Nach meiner Rückkehr deckte ich den Frühstückstisch.

Thea war inzwischen aufgestanden und kam, nachdem sie im Bad fertig war, runter an den Tisch. Sie ist eine außerordentlich reinliche Frau, die sehr sorgfältig mit ihrem Äußeren umgeht. Das kann schon mal etwas länger dauern, ist aber okay so.

Die nächsten Stunden vergingen wie sonst auch. Thea erledigte den Abwasch und sonstige Kleinigkeiten im Haus. Ich las die Ostseezeitung und telefonierte mit meiner Mutter. Sie bat mich, bei meinem nächsten Besuch in Berlin den Veranstaltungsplan 2020 von der Kurverwaltung mitzubringen, damit sie schon rechtzeitig mit ihren Freundinnen die Aufenthalte im schönen Ostseebad planen könne.

Ich sagte ihr, dass ich Zweifel hätte, dass es den Kalender zu diesem frühen Zeitpunkt schon gebe. Doch ich versprach ihr, noch heute nachzufragen. So hatte ich jetzt meine Tagesbeschäftigung und einen Grund, trotz des widrigen Wetters ein paar Schritte an der frischen Luft zu verbringen. Bevor ich gegen 13 Uhr das Haus Richtung Kurverwaltung verließ, fragte mich Thea, ob sie wegen des Schmuddelwetters den Wagen nehmen kann.“

Spies mischte sich ein.

„Musste Ihre Verlobte jedes Mal fragen, wenn sie den Wagen benutzen wollte?“

„Nein, natürlich nicht! Es war nur wegen des ungemütlichen Wetters. Ansonsten erledigt sie all ihre Wege mit dem Fahrrad oder zu Fuß. Sie liebt es, sich im Freien aufzuhalten und vermeidet das Fahren mit dem Auto. Außerdem kann sie nicht gut rückwärts einparken“, erklärte Behrens.

„Wohin wollte Frau Schneider?“, fragte Spies.

„Mittwochnachmittag geht sie immer zur Massage und irgendwelchen Wellnessanwendungen ins Grand Sea Hotel.“

Der Kommissar hakte nach.

„Als Sie um 13 Uhr das Haus verließen, war das das letzte Mal, dass Sie Ihre Verlobte gesehen und gesprochen haben?“

„Gesehen ja, gesprochen nein. Ich hatte sie von der Kurverwaltung aus auf dem Handy angerufen und ihr von meiner Idee erzählt, sie heute zum Essen einzuladen. Sie stimmte zu und wir verabredeten uns für 18 Uhr im Hotel Strandmöwe“, beantwortete Behrens die Nachfrage des Kommissars.

„Wo sie allerdings, gemäß Ihren Angaben aus der Vermisstenanzeige, nicht angekommen ist“, stellte Spies fest und wollte jetzt mehr Details zur Entführung wissen. Dabei verschärfte sich sein Ton.

„Warum haben Sie uns nicht gleich nach dem Erhalt des Erpresserbriefs verständigt? Sie haben ihn nicht zufällig dabei?“

„Der Brief liegt zu Hause und warum ich die Polizei nicht eingeschaltet habe …“, Behrens wurde verlegen. „Hinterher ist man immer schlauer. Vielleicht war ich zu naiv und glaubte noch an einen bösen Scherz oder so“, stammelte er.

„Oder Sie dachten, die blöden Bullen vermasseln das nur und 10.000 Euro sind ja auch nicht die Riesensumme“, provozierte Spies.

„Nein, das habe ich nicht gedacht und 10.000 Euro sind für mich schon ein großer Betrag“, rechtfertigte sich Behrens.

„Bei der Gelegenheit: Was ist Ihre Arbeit, wovon leben Sie, Herr Behrens?“, stocherte Spies weiter.

„Ich bin Privatier. Doch was tut dies hier zur Sache? Was ist überhaupt mit meinem Wagen? Kann ich ihn wieder mitnehmen und was werden Sie wegen der Entführung meiner Verlobten unternehmen? Das sind doch die dringendsten Dinge und nicht, womit ich meinen Unterhalt verdiene“, ärgerte sich Behrens über die Art der Befragung und wurde mutiger. „Ich werde von der Polizei unter dem Vorwand, meinen Wagen abholen zu können, hierhergebracht und muss mich solchen Fragen stellen, als wäre ich auf der Anklagebank.“

„Wichtig fürs Protokoll“, Spies schaute zu seiner Kollegin Susemihl herüber, „wir klagen nicht an, sondern befragen Sie nur. Und nein, Sie können Ihren Wagen nicht mitnehmen. Er wird noch weiter untersucht. Wir haben Spuren von Blut und ein Handy im Innenraum Ihres Wagens gefunden.“

Behrens war wie gelähmt und konnte kaum atmen. Schlagartig kamen ihm Bilder von Gräueltaten in den Kopf, bei denen auch zuerst nur das Blut im Wagen oder Kofferraum gefunden worden war und später das misshandelte Opfer.

„Wir haben aktuell keine weiteren Fragen mehr an Sie. Wir bitten jedoch um Ihre Zustimmung, Ihnen Blut abnehmen zu dürfen und eine DNA-Probe und ein Foto von Ihnen zu machen. Ist das ein Problem für Sie, Herr Behrens?“, fragte der Kommissar mit bissigem Unterton.

Behrens war in sich versunken und wehrte sich nicht mehr. Seine Gedanken und Befürchtungen waren bei seiner Verlobten.

„Bitte folgen Sie meiner Kollegin ins Labor und verlassen Sie in den nächsten 48 Stunden nicht die Stadt. Wir melden uns zeitnah bei Ihnen. Die Kollegen, die Sie abgeholt haben, fahren Sie auch wieder nach Hause“, verabschiedete sich Spies von Behrens.

Die angekündigten Handlungen im Labor wurden zügig durchgeführt. Eine halbe Stunde später saß Behrens wieder in dem Polizeiwagen mit denselben beiden Beamten auf dem Weg nach Hause.

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