Tasuta

Aus meinem Leben. Zweiter Teil

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Autor:
Märgi loetuks
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

„Ihr Brief, den Sie am 17. v. M. an Liebknecht sandten und von dessen Inhalt ich Kenntnis genommen, gibt mir Veranlassung, ebenfalls einige Zeilen an Sie zu richten. Hepner hat augenscheinlich die Farben über den Stand unserer Parteiverhältnisse sehr dick aufgetragen und namentlich den Einfluß und die Absichten Yorks recht schwarz gemalt. Wundern tut mich das von Hepner nicht, er ist ein durchaus braver und treuer Genosse, aber leicht verbissen, und gegen den Ausschuß und speziell gegen York hat er infolge einer ganzen Reihe von Streitigkeiten einen solchen Zorn, daß er das Schlechteste von ihnen glaubt und jedes Wort aufs strengste auslegt.“

Ich setzte dann im Detail auseinander, warum Hepner und York verbissene Gegner seien, und fuhr fort:

„Neben den schlimmen hat York auch entschieden gute Eigenschaften, dahin gehört, daß er mit großem Eifer die Agitation und regelmäßige Steuerzahlung betreibt, zwei Dinge, die sehr notwendig sind und die seit den Wirren des Jahres 1870 – Verhaftung des Braunschweiger Ausschusses – im argen gelegen haben. Hier ist sein Feld und hier hat er allerdings auch Verdienste aufzuweisen.

Ein zweiter Punkt ist unsere Stellung zu Lassalle und dem Lassalleanismus. Da sind Sie wie Hepner entschieden im Unrecht, wenn sie meinen, wir könnten rücksichtslos vorgehen, ohne erheblichen Schaden in der Partei zu haben. Der Lassallekultus muß ausgerottet werden, damit bin ich ganz einverstanden, auch die falschen Ansichten Lassalles müssen bekämpft werden, aber mit Vorsicht. Sie können von dort aus unmöglich unsere Verhältnisse genau beurteilen, und Hepner ist zu wenig praktisch.

Sie dürfen nicht vergessen, daß die Lassalleschen Schriften tatsächlich – das läßt sich nicht wegdiskutieren – durch ihre populäre Sprache die Grundlage der sozialistischen Anschauung der Massen bilden. Sie sind zehnfach, zwanzigfach mehr wie irgend eine andere sozialistische Schrift in Deutschland verbreitet, Lassalle genießt so eine bedeutende Popularität. Diese Popularität ist durch die Ihnen hinlänglich bekannten Mittel der Gräfin Hatzfeldt, Schweitzers und anderer zum Kultus potenziert worden, und wenn letzterer auch, dank dem gesunden Gefühl der Massen und unserer eigenen Tätigkeit, schon bedeutend abgenommen hat und täglich mehr abnimmt, so wäre es doch unklug, durch rücksichtsloses Vorgehen diese Gefühle zu verletzen.

In unserer eigenen Partei ist der Lassallekultus so gut wie verschwunden, aber immerhin gibt es einige Gegenden, wie das Rheinland und Schlesien, in denen er Anhänger zählt, und, was uns namentlich veranlassen muß, nicht allzu schroff vorzugehen, ist, daß sehr viele Arbeiter im früheren Hatzfeldtschen Lager und im Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein sich mehr und mehr uns nähern und teilweise schon angeschlossen haben. Daß je der Lassalleanismus in Deutschland wieder Oberwasser bekommt, daran ist nicht entfernt zu denken; lassen wir also den Dingen ruhig ihren Lauf und wo sich Gelegenheit bietet, dem spezifischen Lassalleanismus einen Klaps zu versetzen, da wird es geschehen. Das hat, glaube ich, auch der „Volksstaat“ bisher getan, und wenn darüber York und einige andere sich ereifern, so läßt man sie eben gewähren.

Ein vernichtender Schlag für den Lassallekultus würde es sein, wenn Freund Marx dem Wunsche Liebknechts – den ich vollständig teile – nachkäme und in einigen objektiv gehaltenen Artikeln im „Volksstaat“ wissenschaftlich die Fehler und Mängel der Lassalleschen Theorien nachwies. Marx' wissenschaftliche Autorität auf ökonomischem Gebiet ist so unbestritten, daß die Wirkung einer solchen Arbeit eine kolossale sein würde. Helfen Sie uns, daß Freund Marx diesen Dienst der Partei leistet.

Das oben Gesagte kurz resumiert, steht die Sache also so: Yorks Einfluß ist unbedeutend, er selbst nichts weniger als gefährlich, der Lassalleanismus in der Partei ist ebenfalls wenig verbreitet, Schonung nur in Rücksicht auf zahlreiche ehrliche, aber mißleitete Arbeiter, die bei geschickter Behandlung uns sicher sind, geboten.

Ich hoffe, daß nach diesen Auseinandersetzungen Sie nicht anstehen werden, Ihre Mitarbeiterschaft dem „Volksstaat“ zu erhalten. Eine Zurückziehung (womit Engels gedroht) wäre das Allerverkehrteste, was Sie tun könnten, dadurch würden Sie dem oppositionellen Element eine Bedeutung beilegen, die es absolut nicht hat, und die Partei schädigen….

Mit freundlichem Gruß Ihr Bebel.“

An Hepners Stelle trat Wilhelm Blos als leitender Redakteur. Blos war zuvor an mehreren süddeutschen demokratischen Blättern Redakteur gewesen, dann wurde er Mitarbeiter an unserem Parteiblatt, dem „Fürther demokratischen Wochenblatt“, dessen Hauptleserkreis aber in Nürnberg war. Blos war 1872 der Partei wie der Internationale beigetreten und wurde an Stelle des verhafteten Kokosky Redakteur des „Braunschweiger Volksfreund“, alsdann des „Volksstaat“, den er, nachdem Liebknecht freigekommen war, Herbst 1874 verließ, um auf dessen Wunsch die Redaktion der Mainzer „Süddeutschen Volksstimme“ zu übernehmen.

In jenen Jahren waren die gerichtlichen Verfolgungen gegen den „Volksstaat“ so nachdrücklich, daß beständig zwei, manchmal drei seiner verantwortlichen Redakteure im Gefängnis zubrachten. Aehnlich erging es den meisten anderen unserer Parteiorgane, zu denen damals außer dem „Volksstaat“ der „Braunschweiger Volksfreund“, der „Dresdener Volksbote“, die „Chemnitzer freie Presse“, der „Crimmitschauer Bürger- und Bauernfreund“, das „Fürther demokratische Wochenblatt“, der „Münchner Zeitgeist“, die „Hofer Zeitung“, die Mainzer „Süddeutsche Volksstimme“ und der „Thüringer Volksbote“ zählten.

Die führenden Persönlichkeiten jener Zeit hatten mit wenigen Ausnahmen alle mehr oder weniger oft mit dem Gefängnis Bekanntschaft gemacht. In Sachsen fügte man hierzu noch die Ausweisungen aus Orten und ganzen Bezirken, von der neben Most und Hepner unter anderem Auer, Daschner, Lyser, Muth, Rüdt, Ufert, später auch Max Kayser betroffen wurden.

Der Parteikongreß zu Eisenach 1873

Zu jener Zeit marschierte auch Bayern in den Reihen der Reaktion. Der Parteiausschuß hatte für den 24. August 1873 und die folgenden Tage den Parteikongreß nach Nürnberg einberufen. Am 31. Juli erfolgte durch den königlichen Kommissar der Stadt Nürnberg das Verbot des Kongresses mit Hinweis auf Artikel 17 des bayerischen Vereins- und Versammlungsgesetzes. Auch sei zu befürchten, daß die §§ 110, 130, 131 und 360 Ziffer 11 des Reichsstrafgesetzbuches durch die Abhaltung des Kongresses verletzt würden. Eine Beschwerde gegen dieses merkwürdige Verbot wurde nicht erhoben, weil der Ausschuß sofort den Kongreß nach Eisenach einberief. Nun glaubte der Leipziger Polizeidirektor Rüder hinter dem Nürnberger Kommissar nicht zurückgehen zu sollen. Er verbot nunmehr auch den Besuch des Eisenacher Kongresses bei Strafe von vier Wochen Gefängnis im Falle der Zuwiderhandlung. In der Tat blieb infolge dieses Verbots Leipzig auf dem Eisenacher Kongreß unvertreten.

Auf diesem waren 71 Delegierte anwesend, die 9224 Mitglieder aus 132 Orten hinter sich hatten. Demselben präsidierten Geib und Motteler. Im Laufe der Verhandlungen kam auch die leidige Angelegenheit Memminger, die schon jahrelang die Nürnberg-Fürther Parteigenossen zerklüftet hatte, zur Sprache. Auf der Seite Memmingers stand Grillenberger, gegen ihn Auer und Löwenstein. Mit großem Mehr beschloß der Kongreß, daß Memminger sich ein parteischädigendes Verhalten habe zuschulden kommen lassen und durch eine Reihe von Handlungen sich außerhalb der Partei gestellt habe.

Die Verhandlungen über die Einigungsfrage, die ebenfalls auf der Tagesordnung stand, wurden sehr ungünstig beeinflußt durch die Haltung, die der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein auf seiner Generalversammlung im vorhergehenden Mai in Berlin eingenommen hatte. Auf dieser hatten sich Frohme, Hasenclever, Hasselmann und andere Redner sehr entschieden gegen einen Antrag, der die Vereinigung forderte, ausgesprochen. Schließlich war mit allen gegen 3 Stimmen ein Antrag Richter-Wandsbeck, den Tölcke, Harm-Elberfeld, Dasbach-Hanau usw. unterzeichnet hatten, angenommen worden, der lautete:

„In Erwägung: 1. daß die sogenannte ‚Sozialdemokratische Arbeiterpartei‘ ursprünglich auf dem Verbandstag der Schulze-Delitzschen Arbeiterbildungsvereine zu Nürnberg im Jahre 1868, beziehentlich auf dem Kongreß zu Eisenach im Jahre 1869, lediglich in der Absicht gegründet worden ist, die Arbeiterbewegung in Deutschland zu schädigen dadurch, daß neben dem Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein eine zweite angeblich sozialdemokratische Fraktion geschaffen wurde, welche nur deshalb ein anscheinend mehr politisch-revolutionäres Programm aufstellte, um durch dasselbe die Arbeiter anzuziehen und so die Spaltung der deutschen Arbeiter herbeizuführen;

in Erwägung: 2. daß das jetzige Zusammenwirken des Herrn v. Schweitzer mit den Führern der sogenannten ‚Sozialdemokratischen Arbeiterpartei‘ zum gemeinsamen Unterwühlen und zur Beseitigung der Organisation des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins den schlagendsten Beweis liefert, daß die Vernichtung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins der Hauptzweck der Führer der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei ist, die sich nicht scheuen, sich zur Erreichung dieses Zweckes mit unstreitig reaktionären Elementen zu verbinden;

in Erwägung: 3. daß das Programm, die Organisation und die Taktik der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei durchaus unvereinbar sind mit dem Programm und der Organisation des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins, tritt die Generalversammlung dem Beschluß des Vorstandes des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins vom 5. Januar d.J. bei, welcher also lautet:

 

In Erwägung, daß für die Mitglieder des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins in prinzipieller und formeller Beziehung durchaus keine Veranlagung vorliegt, an der Organisation des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins zum Zwecke einer Vereinigung mit der Eisenacher Partei eine Aenderung vorzunehmen, in fernerer Erwägung, daß es den Mitgliedern jener Partei freisteht, in Gemäßheit des Statuts des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins in diesen einzutreten, welcher eben durch seine starke Organisation sowie durch seine viel bedeutendere Mitgliederzahl die beste Grundlage zur Einigkeit der Arbeiter bietet, geht der Vorstand über die sogenannten Einigungsvorschläge der Eisenacher Partei zur Tagesordnung über.“

Dem Kongreß lagen eine Anzahl Anträge, die Vereinigungsfrage betreffend, vor, die sich teils für, teils gegen eine solche aussprachen, teils unter bestimmten Bedingungen Kandidaten des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins bei den bevorstehenden Reichstagswahlen unterstützen wollten.

In der Debatte nahm auch Auer das Wort. Er führte aus: Nach den gemachten Erfahrungen wäre es unserer Partei unwürdig, noch Kompromisse mit dem Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein einzugehen. In demselben Sinne sprach sich Blos aus, der weiter verlangte, daß man auch mit der Volkspartei sich auf kein Kompromiß einlassen solle, von der im umgekehrten Falle kein Mitglied für einen Arbeiterkandidaten stimme. Schließlich zog Auer einen Berliner Antrag zugunsten eines Antrags Albert-Glauchau zurück, der lautete:

„Die Sozialdemokratische Partei betrachtet die Reichstagswahl nur als Agitationsmittel und als Prüfung für die Verbreitung ihrer Prinzipien, jeden Kompromiß mit anderen Parteien ablehnend.“

Dieser Antrag wurde nebst einem Antrag der Ronsdorfer Genossen angenommen, der aussprach:

„Da von seiten unserer Partei bereits Schritte zur Einigung der gesamten deutschen Sozialdemokratie gemacht wurden, von der diesjährigen Generalversammlung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins aber fast einstimmig zurückgewiesen worden sind, erklärt der Kongreß, jedweden Versuch mit obiger Fraktion, sei er auf die Einigung der Partei oder auf Wahlen gerichtet, einzustellen.“

Als dann infolge dieses Beschlusses unsere Parteigenossen mich in Altona gegenüber Hasenclever als Kandidat zur Reichstagswahl aufstellten und der „Neue Sozialdemokrat“ sich darüber beschwerte, verhöhnte ihn Auer in einer Korrespondenz aus Dresden in Nr. 123 des „Volksstaat“, die mit den Worten endete: „Ich schließe, indem ich dem Herrn Hasselmarat und Strohpuppe Hasenclever das Sprüchlein zu bedenken gebe: Vorgetan und nachbedacht, hat manchen in groß' Leid gebracht.“ Das ist zugleich eine Probe, wie damals zeitweilig polemisiert wurde.

Ueber den Ausfall der Wahlen vom 10. Januar 1874 habe ich schon berichtet. Von Interesse dürfte sein, mit welch finanziellen Mitteln zu jener Zeit eine Reichstagswahl von unserer Seite gemacht wurde. Die Ausgaben der Parteikasse für ganz Deutschland betrugen 1300 Taler. Das sächsische Landeskomitee hatte für die 91000 Stimmen, die in Sachsen auf unsere Kandidaten fielen, eine Ausgabe von 780 Taler. Die Wahlen in Leipzig Stadt und Land, einschließlich der Nachwahl in Leipzig Land, erforderten 733 Taler, die Chemnitzer Wahl 345 Taler, Freiburg-Oederan (Geibs Wahlkreis) 165 Taler, Stollberg-Schneeberg (Liebknechts Wahlkreis) 350 Taler. Das sind Beträge, die im Vergleich zu den heutigen Ausgaben für die gleichen Zwecke winzig genannt werden müssen. Zwischen damals und jetzt besteht aber ein Unterschied. Jetzt opfern die Parteigenossen mehr Geld und bezahlen die Wahlarbeit. Damals opferten die Parteigenossen weniger Geld – weil sie weniger hatten und auch gegen heute gering an Zahl waren —, aber sie leisteten die Wahlarbeit meist umsonst. Der einzelne mußte damals durchschnittlich weit größere persönliche Opfer bringen als heute, sollten Resultate erzielt werden. Uebersehen darf allerdings nicht werden, daß gegenwärtig die Wahlagitation in Deutschland namentlich auch seitens der Gegner in ganz anderem Maße betrieben wird wie früher und schon deshalb unsererseits weit größere Anstrengungen und Aufwendungen erfordert.

Die erste Session des neuen Reichstags 1874

Diese wurde im Februar 1874 eröffnet. Seitens unserer Vertreter wurde den Vertretern des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins der Vorschlag gemacht, eine Fraktion zu bilden. Das lehnten diese ab. Dagegen kam man überein, sich gegenseitig bei Stellung von Anträgen zu unterstützen, auch wolle man dahin wirken, daß in der Presse und in den Versammlungen die gegenseitigen Angriffe unterblieben. Das war nicht viel, aber das andere mußte folgen. Eine große Anzahl Parteigenossen auf beiden Seiten hatte allmählich die gegenseitige Bekämpfung, die nur den Gegnern zustatten kam, satt und wünschte, wenn eine Vereinigung noch nicht möglich sein sollte, eine Verständigung zu gemeinsamem Vorgehen.

In unserer Partei war man mit der Haltung der gewählten Vertreter unzufrieden. Man fand, daß sie zu selten das Wort ergriffen und dann nicht scharf genug geredet hatten. Der Unmut darüber kam auch mehrfach in der Parteipresse zum Ausdruck. Liebknecht wohnte keiner Sitzung mehr bei, da die Session kurz nach seiner Freilassung geschlossen wurde. Ich erhielt von den verschiedensten Seiten Zuschriften, worin die Verfasser sich über die Haltung der Parlamentsgenossen beklagten. So schrieb mir nach Schluß der Session Robert Schweichel, der seit seiner Uebersiedlung nach Berlin die Redaktion der „Romanzeitung“ übernommen hatte und daher öffentlich politisch nicht tätig sein konnte: die Haltung der sozialdemokratischen Abgeordneten habe allgemein enttäuscht. Nach dem glänzenden Ausfall der Wahlen habe man eine andere Haltung erwartet. Diese fördere die Partei nicht. Rübner, der Expedient der „Chemnitzer Freien Presse“, schrieb mir: „Die Vertreter des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins haben unseren Genossen im Reichstag geschickt den Rang abgelaufen. Darüber sind unsere Leute wütend.“ Die Abgeordneten selbst beschwerten sich lebhaft darüber, daß der Präsident bei Wortmeldungen die Vertreter des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins bevorzugt habe. An dieser Behauptung war etwas Wahres. An Simsons Stelle war Forckenbeck getreten, der, wie ich schon einmal erwähnte, der parteiischste Präsident war, den der Reichstag je gehabt hat. Erleichtert wurde ihm diese Parteilichkeit durch die Abschaffung der Rednerliste, die erfolgt war, um die sozialdemokratischen Abgeordneten möglichst am Redenhalten hindern zu können. Die Abgeordneten mußten von jetzt ab durch ein Zeichen dem Präsidenten bekunden, daß sie das Wort zu haben wünschten, ungefähr so wie die Kinder in der Schule, wenn sie dem Lehrer bemerklich machen wollen, daß sie eine Antwort auf eine Frage geben können. Damit lag es in der Willkür des Präsidenten, ob er eine solche Wortmeldung sehen und ob und wann er sie berücksichtigen wollte. Und Forckenbeck machte von seiner Vollmacht rücksichtslos Gebrauch. Das veranlaßte später Windthorst und seine Freunde, den Antrag zu stellen, die Rednerliste wieder einzuführen. Der Antrag, zu dem von unserer Seite Vahlteich sprach, wurde abgelehnt. Darauf sah sich Most veranlaßt, noch kurz vor Schluß der Session die Parteilichkeit des Präsidenten öffentlich im Reichstag zu denunzieren. Er habe trotz zahlreicher Meldungen das Wort nur einmal erhalten. Ihm gegenüber lag allem Anschein nach ein Racheakt vor. Most hatte sich verleiten lassen, bei Beginn der Session, bevor er nach Berlin reiste, in der „Chemnitzer Freien Presse“, deren Redakteur er war, eine Art Kriegserklärung an den Reichstag zu veröffentlichen, in der er demselben den Kampf bis aufs Messer ansagte. Dafür mußte er offenbar jetzt büßen. Die einzige Rede, die er halten konnte, betraf den Entwurf zum Impfgesetz, und diese mißglückte ihm. Er schloß die kurze Rede mit den Worten: „Vorläufig verlangen wir die öffentlichen Badeanstalten, und wenn wir diese haben, werden wir auch mit dem Normalarbeitstag kommen.“ Kein Wunder, daß dieser Schluß in Mosts Munde die Heiterkeit der Gegner hervorrief.

Aber es machte sich von dieser Session ab noch ein anderer Unfug mit Forckenbecks Unterstützung breit, der später immer schlimmer wurde. Es fand sich in einem Mitglied der nationalliberalen Partei, dem Abgeordneten für Hildburghausen, Valentin, der seines Zeichens Rechtsanwalt gewesen war, ein stets bereiter Schlußantragsteller. Sobald Forckenbeck den Schluß der Debatte wünschte, gab er Valentin das verabredete Zeichen, worauf dieser gehorsam den Schlußantrag stellte, dem alsdann wie auf Kommando die Mehrheit – Nationalliberale und Konservative – Folge leistete. Für diese Methode der Wortabschneidung bildete sich im Reichstag die Bezeichnung: der redenwollende Abgeordnete sei valentiniert, das heißt geistig guillotiniert worden. Dieser Unfug ging schließlich so weit, daß auf dem Bureau Valentinsche Schlußanträge auf Vorrat lagen, deren sich der Präsident nach Belieben bediente. Valentin wurde für seine Tätigkeit von seiner Fraktion dadurch geehrt, daß diese ihm, wie im Reichstag erzählt wurde, zu seinem Geburtstag ein Kistchen mit gedruckten Schlußanträgen schenkte.

Bezeichnend für die damalige Situation im Reichstag war auch, daß der Abgeordnete Bamberger es wagen konnte, die sozialistischen Abgeordneten als geduldete Gäste zu bezeichnen, denen man das Hausrecht verweigern könne. Kleinlich war auch, daß man Liebknecht und mich während unserer Haft bei namentlichen Abstimmungen stets als „unentschuldigt“ in den Listen geführt, ein Unfug, der erst auf eine energische Beschwerde Vahlteichs in öffentlicher Sitzung ein Ende nahm.

Unter den Vorlagen, die den Reichstag beschäftigten, befanden sich mehrere von besonderer Wichtigkeit. So eine neue Militärvorlage, die eine erhebliche Erhöhung der Präsenzziffer, auf über 401000 Mann, ausschließlich der Einjährig-Freiwilligen, forderte, und zwar für die Dauer von sieben Jahren. Damals hatten die Liberalen einschließlich der Nationalliberalen noch konstitutionelle Bedenken gegen eine derartige Festlegung auf viele Jahre. Es kam zu scharfen Debatten, aber schließlich fügten sich die Nationalliberalen und nahmen an, nachdem Bismarck mit Niederlegung seines Amtes drohte. In der ersten Lesung nahm Hasenclever, in der Generaldebatte der dritten Lesung Motteler das Wort. Beide forderten die Miliz. In diesen Debatten äußerte Moltke zur Verteidigung der Vorlage die später oft zitierten Worte:

„Was wir in einem halben Jahre mit den Waffen in der Hand errungen haben, das mögen wir ein halbes Jahrhundert mit den Waffen schützen, damit es uns nicht wieder entrissen wird. Darüber, meine Herren, dürfen wir uns keiner Täuschung hingeben: wir haben seit unseren glücklichen Kriegen an Achtung überall, an Liebe nirgends gewonnen.“

Damit wurde bestätigt, was wir wiederholt in den Jahren 1870/71 vorausgesagt hatten. Nicht der Krieg an sich, aber seine Folgen, die Annexion von Elsaß-Lothringen, hatte in Europa eine Situation geschaffen, die die Lage immer gespannter machte, Rußland eine dominierende Stellung verschaffte und immer neue Rüstungen hervorrief. Zu unseren Milizvorschlägen äußerte Moltke: Meine Herren! Die Gewehre sind bald ausgeteilt, aber schwer wieder zurückzubekommen! (Heiterkeit.)

Der Abgeordnete Malinckrodt hatte den Antrag auf zweijährige Dienstzeit gestellt, dafür stimmte Vahlteich, dagegen Geib, der Abstimmung enthielten sich Most und Motteler. Hasenclever, Hasselmann und Reimer hatten den Antrag gestellt, 540000 Mann für zwei Monate und 18000 Mann für die weiteren zehn Monate zu bewilligen, ferner sollte die militärische Jugenderziehung vom 14. bis 20. Jahre eingeführt werden. Für diesen Antrag stimmten nur die Antragsteller. Diese Abstimmungen gaben kein erhebendes Bild von der Tätigkeit der sozialdemokratischen Abgeordneten.

Eine zweite für die Arbeiterklasse wichtige Vorlage war eine Novelle zur Gewerbeordnung, die in etwas abgeänderter Form die Vorlage aus der vorigen Session wiederbrachte. Man begnügte sich diesmal, den § 153 dahin zu verschärfen, daß Verletzung desselben statt wie bisher mit höchstens drei Monaten künftig mit bis zu sechs Monaten Gefängnis bestraft werden sollte. Dagegen hatte man in einem neuen § 153a die Bestrafung des Kontraktbruchs vorgeschlagen, dieser sollte mit Geldstrafe bis zu 150 Mk. oder Haft geahndet werden. Die Streiks, die in den Gründerjahren häufig unter Kontraktbruch vorkamen und nach ausgebrochener Krise wegen Lohnherabsetzungen und Arbeitszeitverlängerungen Abwehrstreiks unter Nichtbeachtung der Kündigungsfristen hervorriefen, hatten das Unternehmertum in die höchste Aufregung versetzt. Es inszenierte einen Petitionssturm an die verbündeten Regierungen und den Reichstag, um die kriminelle Bestrafung des Kontraktbruchs zu erlangen. Diesem Verlangen waren die verbündeten Regierungen durch den Vorschlag des § 153a nachgekommen. Im weiteren wurden die früher schon vorgeschlagenen Bestimmungen betreffend die gewerblichen Schiedsgerichte wieder in Vorschlag gebracht mit der kleinen Abänderung, daß die höhere Verwaltungsbehörde bestimmen könne, ob eine Wahl der Beisitzer durch die beteiligten Arbeiter und Arbeitgeber erfolgen solle. Zu dem Gesetzentwurf hielt Hasselmann eine gute Rede. In die Kommission wurde von unserer Seite Motteler gesandt, der sich aber an den Verhandlungen nicht beteiligte, sondern stummer Zuhörer blieb, was ihm von verschiedenen Seiten verdacht wurde. Die Kommission strich den Kontraktbruchparagraphen, ebenso wurde die Verschärfung des § 153 abgelehnt; sie beschloß ferner, daß die Wahl der Beisitzer in den Gewerbegerichten nur durch allgemeine Wahlen der Interessenten zu erfolgen habe. Der Entwurf wurde indes im Plenum nicht zu Ende beraten. Man war vorläufig seitens der Mehrheit des Reichstags zu Ausnahmebestimmungen oder Verschärfung der bestehenden Gesetze noch nicht geneigt.

 

Die dritte wichtige Vorlage war der Entwurf eines Preßgesetzes. In diesem hatte der vorjährige § 20 folgenden Wortlaut erhalten:

„Wer mittels der Presse den Ungehorsam gegen die Gesetze oder die Verletzung von Gesetzen als etwas Erlaubtes oder Verdienstliches darstellt, wird mit Gefängnis oder Festungshaft bis zu zwei Jahren bestraft. Wer die im § 166 des Strafgesetzbuchs für das Deutsche Reich vorgesehenen Handlungen mittels der Presse verübt, wird mit Gefängnis nicht unter drei Monaten und bis zu vier Jahren bestraft.“

Auch zu diesem Gesetzentwurf hielt Hasselmann eine gute Rede, außer ihm sprach Geib. Der § 20 fiel in der Kommission und im Plenum. Im übrigen beseitigte das Gesetz die Kautionen und verbot die Zeitungsstempel und die Inseratenabgaben, wo solche noch bestanden. Wirkliche Verbesserungen gegen den bisherigen Zustand brachte das Gesetz nur Preußen, Braunschweig und den beiden Mecklenburg, für Sachsen, die mitteldeutschen und süddeutschen Staaten schuf es hingegen verschiedene zum Teil erhebliche Verschlechterungen, so daß seine Annahme anfangs zweifelhaft war. Es ging hier wie bei allen wichtigen Gesetzen des Reichs, den Verbesserungen standen stets Verschlechterungen gegenüber; zu einem politischen Gesetz, das für alle eine wesentliche Besserung bedeutete, konnte sich der Reichstag nicht erheben, stets gab er dem Druck der Regierungen, das heißt Preußen nach, dem Stimmführer für alles Rückschrittliche.

Erwähnt sei, daß bei Beginn der Session auch wieder der Antrag auf meine Freilassung für die Dauer der Session gestellt worden war, jedoch mit demselben negativen Erfolg wie früher. Redner für den Antrag waren Vahlteich und Hasenclever. Die Fortschrittspartei verweigerte die Unterstützung des Antrags, weil es zwecklos sei, ihn zu stellen.

* * * * *

Die Tatsache, daß die Vertreter der beiden sozialdemokratischen Fraktionen im Reichstag genötigt wurden, öfter gemeinsame Sache bei den Beratungen zu machen, war für alle jene, die eine Vereinigung wünschten, ein neuer Anstoß zum Handeln. Der erste Schritt hierzu wurde auf der Generalversammlung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins unternommen, die vom 26. Mai bis 5. Juni 1874 in Hannover tagte. F.W. Fritzsche, Hartmann-Hamburg, Meister-Hannover und andere stellten den Antrag, zu erklären: Die Generalversammlung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins hält die Vereinigung aller sozialdemokratischen Arbeiter Deutschlands für erforderlich, um die Endziele der Sozialdemokratie zu erreichen, und empfiehlt, um eine solche Vereinigung anzubahnen, daß dieselben in allen öffentlichen Versammlungen sowie in der Parteipresse sich nicht mehr bekämpfen und anfeinden. Bestimmte Vorschläge zur Vereinigung können nicht eher gemacht und diskutiert werden, bevor der Kongreß der Eisenacher konstatiert, daß auch er eine Einigung aufrichtig anstrebt.

Der Antrag wurde zwar nach längerer Debatte mit 50 gegen 19 Stimmen abgelehnt, aber die Debatte wurde in einem merklich anderen Tone als bei früheren ähnlichen Gelegenheiten geführt.

Die Sozialdemokratie Arbeiterpartei hielt ihren Kongreß im folgenden Monat, vom 18. bis 21. Juli, in Koburg ab, auf dem seit 1871 zum erstenmal Liebknecht wieder auf einem Parteikongreß erschien. Die Vereinigungsfrage kam hier ebenfalls zur Verhandlung, zu der verschiedene Anträge gestellt worden waren. In dem Bericht, den Geib im Namen des Ausschusses erstattete, hatte dieser bereits ausgeführt: „Wenn wir schließlich noch unsere Stellung zum Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein erwähnen, so geschieht es nur, um zu konstatieren, daß seit der Reichstagswahl der alte Hader im Wanken begriffen ist. Viel trägt dazu die Tatsache bei, daß der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein jetzt von oben herab mit gleichem Maße gemessen wird wie unsere Partei. Daß die Stellung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins tatsächlich doch noch eine zurückhaltende ist, geht aus der Abstimmung über den auf der Generalversammlung dieses Vereins gestellten Einigungsantrag, für welchen unter 69 Delegierten nur 19 stimmten, deutlich hervor. Wir haben uns demgemäß zu reservieren und vor allem auf die prinzipielle Haltung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins zu achten, da hierin ein wesentliches, wenn nicht das wesentlichste Moment zur Richtschnur unserer Einigungstaktik zu suchen ist.“ In der später folgenden Debatte über die Einigungsanträge nahm auch Auer das Wort, der noch immer der Frage kühl gegenüberstand und pessimistisch äußerte: Im großen und ganzen sind wir alle mit der Einigung einverstanden, aber solange auf beiden Seiten die prinzipiellen Unterschiede ins Gewicht fallen, kann an eine wirkliche Einigung nicht gedacht werden. Die Aussichten, die uns in dieser Hinsicht der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein eröffnet, sind gering, dies zeigt schon sein neuester Entschluß, sich sektenmäßig „Lassalleaner“ zu nennen. Unser Versöhnungsdusel hat bis jetzt wenig geholfen. Das einzige Mittel zur Einigung heißt: die Lassalleaner unsere Macht fühlen lassen und uns stärken. Stellen wir uns auf den Standpunkt der Einigungsvorschläge, die vor zwei Jahren im „Volksstaat“ veröffentlicht wurden. (Siehe Seite 289 und 290.) Mag ein allgemeiner Kongreß zur Beratung der Einigungsfrage berufen werden. Bernstein stand der Frage optimistischer gegenüber als Auer. Im Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein seien bereits viele Mitglieder für eine Vereinigung. Der Verlauf der Generalversammlung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins bestätige seine Auffassung. Er erklärte sich ebenfalls für einen Kongreß behufs Verständigung. Liebknecht sprach sich in längerer Rede dafür aus, daß, wenn zunächst die Vereinigung nicht möglich sei, die Einigung erstrebt werden müsse, die Vereinigung werde nachher von selbst kommen, dafür sorge Herr Tessendorf und die Logik der Tatsachen, wenn nicht mit, dann den Führern zum Trotz. Motteler berichtete über Besprechungen, die in Berlin zwischen Hasenclever und Hasselmann auf der einen und unseren Vertretern auf der anderen Seite stattgefunden hatten. Hasenclever und Hasselmann hätten erklärt: an eine Vereinigung sei nicht zu denken, da der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein unbedingt die bessere Organisation habe. Ein friedliches Nebeneinandergehen in Presse und Versammlungen sei ja vereinbart. Zum Schlusse wurde mit großer Mehrheit ein Antrag Geibs angenommen, lautend:

„Der Kongreß erklärt, der Einigung der beiden deutschen Arbeiterfraktionen geneigt zu sein. Ueber den Modus einer solchen Einigung werden zum nächsten Kongreß seitens des Ausschusses und den der Partei angehörigen Reichstagsmitgliedern Vorschläge erwartet. Im übrigen geht der Kongreß zur Tagesordnung über.“

* * * * *

Auf dem Koburger Kongreß kam es auch zu lebhaften Debatten über den oft unzeitigen Eifer der Parteigenossen, in den größeren Orten Lokalblätter zu gründen, die ungenügend finanziell fundiert, alsdann der Partei große Verlegenheiten bereiteten, weil sie nunmehr um jeden Preis am Leben erhalten werden sollten. Klagen, die sich bekanntlich bis in die Neuzeit wiederholten. Nicht wenige dieser Blätter führten eine prekäre Existenz und machten der Parteileitung schwere Sorge. Es war fast für das eine und das andere eine Wohltat, unter dem Sozialistengesetz totgeschlagen zu werden; sie starben wenigstens auf dem Felde der Ehre, im Kampfe mit einem übermächtigen Gegner.