Loe raamatut: «50 Jahre Speech-Acts»
Simon Meier / Lars Bülow / Frank Liedtke / Konstanze Marx / Robert Mroczynski
50 Jahre Speech Acts
Bilanz und Perspektiven
Narr Francke Attempto Verlag Tübingen
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© 2019 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG
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ISBN 978-3-8233-8347-5 (Print)
ISBN 978-3-8233-0200-1 (ePub)
Inhalt
50 Jahre Speech Acts – Einleitung 1 Sprechakttheorie als linguistische Grundlagentheorie 2 Zur Karriere der Sprechakttheorie in der linguistischen Pragmatik 3 Neuere Tendenzen 4 Zu den Beiträgen Literatur
SAT(T?) – Ein Verwirrspiel in drei Akten1 Vorhang auf: Prolog – worum es geht und worum nicht2 Erster Akt: Der böse Wolf3 Zweiter Akt: Katz-und-Maus und Hase-und-Igel3.1 SAT in der GA? Zwei Mikrobeispiele rund um tja und denn3.2 SAT in der FP? Ein Mikrobeispiel rund um die Ankündigung Die Frage ist …3.3 SAT in Satztypen? Ein Makrobeispiel rund um Wünschen und Exklamationen3.4 SAT in der Didaktik? Ein Anriss3.5 Alle Tiere sind schon da – ein kurzes Resümee4 Dritter Akt: Die Schlange und der DrehwurmLiteratur
Vormoderne Sprechaktanalysen als Herausforderung für die moderne Sprechakttheorie1 Einleitung2 Historische Sprechaktanalysen2.1 Das Versprechen2.2 Die Drohung3 Historizität der Sprechakttheorie4 750 Jahre Sprechakttheorie?5 Ausblick: Grenzziehungen zwischen Sprechen und HandelnLiteratur
Sprechhandlung und Aushandlung 1 Einleitung 2 Ko-Konstruktion von Sprechakten 3 Kooperation und das Wir 4 Ein kritischer Einwand gegen TWIs 5 Zwei Prüffälle zur Anwendung von TWIs 6 Vervollständigung der Analyse Literatur
Sprechakte in der Interaktion – auf dem Weg zu einer interaktionalen und empirischen Sprechakttheorie1 Sprechakttheorie – interaktional und empirisch?2 Sprechakttheorie in Aktion?3 Sprechakttheorie und die Analyse verbaler Interaktion4 Intention und Intentionalität in einer interaktionalen SAT?4.1 Ko-Konstruierte gesprächsemergente Intentionen4.2 Kollektive Intentionen und kommunikative Projekte5 Die Aushandlung oder Ko-Konstruktion illokutionärer Kräfte6 Sprechakte in der Interaktion: Verabredungen in WhatsApp7 Jede Reise beginnt mit dem ersten SchrittLiteratur
Expressive Sprechakte revisited1 Einleitung2 Die Klasse der expressiven Sprechakte3 Probleme der Klasse der expressiven Sprechakte3.1 Illokutionärer Witz (wesentliche Regel)3.2 Psychischer Zustand (Aufrichtigkeitsregel)3.3 Anpassungsrichtung (Regel des propositionalen Gehalts)4 Verhältnis expressive Sprechakte – expressive Bedeutung am Beispiel Sich verabschieden5 SchlussLiteratur
Fiktionale Aussagen als Assertionen? Grenzen der Searle’schen Sprechaktklasse1 Einleitung2 Assertionen und fiktionale Aussagen bei Searle3 Fiktion, Deklarationen und Assertionen3.1 Fiktionale Deklarationen3.2 Beschreibende, fiktionale Äußerungen4 Fiktionale Äußerungen und Common Ground4.1 Common Ground und Glauben4.2 Common Ground und Akzeptanz4.3 Offizieller und inoffizieller Common Ground4.4 Interaktionen zwischen CGs4.5 Streichbarkeit von importierten Informationen5 ZusammenfassungLiteratur
Intentionalität und Äußerungsbedeutung – zwei gegensätzliche Positionen im Licht der Searle-Derrida-Debatte 1 Einleitung 2 Die Searle-Derrida-Debatte: Warum sie „nicht wirklich“ zustande kommt und schließlich abbricht 3 Jenseits der Polemik: Die Beziehung zwischen Argumentationsstil und theoretischer Position bei Searle und Derrida 4 Worum es im Kern geht: Äußerungsbedeutung und Sprecherintention 5 Intentionalitätsunterstellung als Bedingung der Möglichkeit von Kommunikation 6 Schlussbemerkung Literatur
Intentionalität ohne Intentionalismus? Entwurf eines sprachgebrauchs- und zeichenbasierten Konzepts von Denk- und Handlungsfähigkeit 1 Einleitung 2 Kritik am Intentionalismus und Desiderat eines sprachgebrauchs- und zeichenbasierten Konzepts von Intentionalität 3 Robert B. Brandoms normativer Inferenzialismus 4 T. L. Shorts intentionale Zeichen 5 Intentionale Verben 6 Fazit Literatur
Zum Verhältnis von Satztyp- und Illokutionstypinventaren1 Vorbemerkungen2 Satztyp- und Illokutionstypinventare3 Satztyp und Illokution in der kognitiven Linguistik3.1 Vorbemerkungen3.2 Satz- und Illokutionstypen bei Croft (1994)4 Satztyp, Illokution und Kognition: Rückblick und Ausblick5 ZusammenfassungLiteratur
How cool is that! Ein neuer Sprechakt aus Sicht der Grammatik/Pragmatik-Schnittstelle1 Sprechakt, Satztyp und die Rolle der Modalpartikeln2 How cool is that! Parallelen zu Exklamativen2.1 Basale Eigenschaften der W-Exklamative2.2 How cool is that! Zwischen W-Frage und W-Exklamativ3 Die spezielle Pragmatik von APQs: Modalpartikeln als illokutionäre Indikatoren4 FazitLiteratur
Eine Rekonzeptualisierung über das ...Sprechakte als prototypisch strukturierte Überkategorien sprachlicher Problemlösungen1 Einleitung2 Sprechaktklassifikation als Kernproblem der Sprechakttheorie?3 Sprechaktkategorien und Prototypentheorie4 Unterhalb der Ebene der Sprechakttypen: Ein Plädoyer für communicative tasks5 FazitLiteratur
Too little, too late – Der Sprechakt KONDOLIEREN auf Twitter durch Donald Trump1 Vorbemerkungen2 Kondolieren2.1 Kondolieren als ritualisierte soziale Handlung2.2 Kondolieren im Netz2.3 Kondolieren als Sprechakt3 Korpusgestützte Analysen3.1 Analyse I – Kondolenz-Tweets3.2 Analyse II – Kommentare in Reaktion auf einen Kondolenz-Tweet4 Diskussion5 FazitLiteratur
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
50 Jahre Speech Acts – Einleitung
Simon Meier, Lars Bülow, Frank Liedtke, Konstanze Marx & Robert Mroczynski
Abstract: Speech act theory, that has received its canonic form 50 years ago in John Searle’s seminal book Speech Acts. An Essay in the Philosophy of Language (1969), is among the most key approaches of linguistic pragmatics. The contributions of this volume address the status of speech act theory in the field of contemporary linguistics. In our introduction, we trace the career of speech act theory as a basic theory, not least from the perspective of some critical objections speech act theory is faced with since its very beginning. Then we focus on recent developments concerning both theoretical and empirical issues. Finally, we give summaries of the contributions in this volume.
1 Sprechakttheorie als linguistische Grundlagentheorie
Die Sprechakttheorie, die vor 50 Jahren in John Searles Buch Speech Acts. An Essay in the Philosophy of Language (1969) ihre kanonische Form gefunden hat, gehört zweifellos zu den zentralen Theorieansätzen der linguistischen Pragmatik. Als Theorie des sprachlichen Handelns kann sie als Explizierung des Terminus „Pragmatik“ (griech. pragma = ‚Handeln, Handlung‘) überhaupt gelten, und zusammen mit den Theorien der Deixis und der Implikaturen ist sie essentieller Bestandteil jeder noch so knappen Darstellung pragmatischer Forschungsgegenstände. Aber auch in ausführlicheren Einführungs- oder Überblickswerken zur Pragmatik steht die Sprechakttheorie buchstäblich an vorderster Stelle (vgl. etwa Finkbeiner 2015; Liedtke/Tuchen 2018). Die Grundannahmen und Grundbegriffe der Sprechakttheorie gehören zu jeder linguistischen Grundausbildung und haben auch andere Teildisziplinen wie die Textlinguistik oder die Soziolinguistik maßgeblich beeinflusst. Darüber hinaus spielen auch in Spezialfeldern wie der Politolinguistik (vgl. Girnth 2015) oder der Internetlinguistik (vgl. Dresner/Herring 2010; Marx/Weidacher 2014) sprechakttheoretisch inspirierte Analysen eine wichtige Rolle, und sogar neurolinguistische Studien untersuchen die neuronalen Prozesse bei der Verarbeitung von Sprechakten (Egorova/Shtyrov/Pulvermüller 2016). Sprechakttheoretisch fundierte Theoreme und Perspektiven sind seit vielen Jahren in der linguistischen Pragmatik omnipräsent, und sei es nur in kritischer Abhebung wie etwa in der Conversation Analysis (vgl. etwa Hutchby/Wooffitt 2008, S. 18). Tatsächlich hat die Sprechakttheorie immer schon kritische Gegenstimmen auf den Plan gerufen, und doch ist wohl nicht zuletzt durch die hierdurch ausgelösten Debatten und Profilschärfungen alternativer Ansätze die linguistische Pragmatik von Grund auf sprechakttheoretisch geprägt.
Der 50. Jahrestag des Erscheinens von Speech Acts scheint ein guter Zeitpunkt zu sein, die Karriere der Sprechakttheorie als linguistische Grundlagentheorie zu reflektieren. Welchen Status hat sie im gegenwärtigen Feld der Pragmatik, welche Schwerpunktsetzungen und Neuakzentuierungen wurden gerade auch im Lichte der kritischen Einwände und Gegenentwürfe vorgenommen, und welche empirischen Fragestellungen werden typischerweise im sprechakttheoretischen Framework adressiert? Diesen Fragen widmet sich der vorliegende Band.
Im Folgenden sei zunächst die Karriere der Sprechakttheorie als pragmalinguistische Grundlagentheorie in groben Zügen nachgezeichnet, wobei die Geschichte der Sprechakttheorie vor allem auch als Geschichte kritischer Einwände erzählt werden muss. Danach wird der Blick auf aktuelle Tendenzen sprechakttheoretischer Theoriebildung wie auch der sprechakttheoretisch fundierten empirischen Forschung gelenkt.
2 Zur Karriere der Sprechakttheorie in der linguistischen Pragmatik
Als eigentlicher Begründer der Sprechakttheorie kann bekanntlich John L. Austin mit seinen 1955 gehaltenen und 1962 unter dem Titel How to do things with words publizierten William James-Lectures gelten (vgl. Austin 1962). Zwar haben jüngere Forschungsarbeiten auf zahlreiche Vorläufertheorien etwa bei Adolf Reinach hingewiesen, die sprechakttheoretische Grundeinsichten vorwegnehmen (vgl. Smith 1990; Meier in diesem Band), doch erst mit den luziden und durch die gewählten Beispiele ausgesprochen lebensnahen Ausführungen Austins wurde eine allgemeine und auch ausdrücklich so genannte „Theorie der ‚Sprechhandlung‘“ (Austin 1968, S. 153) greifbar.
Austins Entfaltung der Sprechakttheorie ist ausgesprochen linguistisch perspektiviert und reflektiert beispielsweise ausführlich mögliche grammatische und lexikalische Unterscheidungsmerkmale performativer Äußerungen (vgl. Austin 1962, S. 55). Gleichwohl ist die Sprechakttheorie erst mit ihrer Systematisierung durch Searle auch seitens der Linguistik breit rezipiert worden. Hatte Austin seine Position noch mäandernd und die eigenen Erkenntnisse immer wieder prüfend und revidierend entwickelt, baut Searle seine Fassung der Sprechakttheorie auf ganz systematische Weise auf. Seine grundlegende Annahme lautet, mit Sprechakten die „basic or minimal units of linguistic communication“ (Searle 1969, S. 16) bestimmen zu können, die sich darüber hinaus als Funktion der Bedeutung von geäußerten Sätzen (vgl. Searle 1969, S. 18) beschreiben lassen. Somit erscheinen „linguistic characterizations“ (Searle 1969, S. 5) als Grundelemente einer allgemeinen Kommunikationstheorie.
Dieser enge Anschluss von Linguistik und Kommunikationstheorie oder genauer: die Erhebung von Linguistik zu einer Kommunikationstheorie dürfte damals ausgesprochen attraktiv gewesen sein. Auch die weiteren theoretischen Festlegungen Searles wie etwa die Aufgliederung von Austins lokutionärem Akt in den Äußerungsakt und den propositionalen Akt (und diesen wiederum in Referenz und Prädikation) lassen sich gut an linguistische Fragenkomplexe anschließen. Vor allem aber die Engführung der Austin’schen Glückensbedingungen als „semantic rules for the use of any illocutionary force indicating device“ (Searle 1969, S. 62) – neben den zentralen Kommunikationsverben nennt Searle auch andere, linguistisch klar beschreibbare Phänomene wie Wortstellung, Betonung, Intonation, Interpunktion und Verbmodus – macht Searles Fassung der Sprechakttheorie für die Linguistik interessant. Sprachoberflächenbezogene Phänomene werden durch ihre Rollenzuweisung für den Vollzug von Sprechakten semantisch gedeutet und zugleich durch die Beschreibung von Gebrauchsregeln und den Einbezug von kontextuellen bzw. situationalen Faktoren wie Intentionen und Präferenzen der Beteiligten grundlegend pragmatisch konturiert.1 Für eine pragmatische Semantik mit deutlichen Schnittstellen zur Grammatik ist damit ein theoretisches Fundament gelegt.
So sind denn auch die frühen linguistischen Reflexe im deutschsprachigen Raum besonders auf Indikatoren der illokutionären Rolle fokussiert, die an bekannte grammatische Kategorien wie etwa die des Satztyps angeschlossen werden können (vgl. etwa Wunderlich 1976). Searles 1976 erstmals vorlegte Klassifikation von Sprechakten (vgl. Searle 1976), die sich ebenfalls mit Satztypen in Verbindung bringen lässt, dürfte das noch weiter vorangetrieben haben (vgl. Gärtner/Steinbach in diesem Band). Hinzu kommen zahlreiche Studien kleinerer und größerer Dimension, die ganz im Stile der Searle’schen Analysen einzelne Sprechakte wie Drohungen oder Bewertungen (vgl. etwa die Beiträge in Weber/Weydt 1976; Sprengel 1977) untersuchen oder auch die in einer Sprache verfügbaren Ausprägungen von Sprechakttypen und ihre sprachlichen Realisierungsformen inventarisieren (vgl. Hindelang 1978; Liedtke 1998). Die 1983 erstmals publizierte, spezifisch germanistisch linguistische Einführung in die Sprechakttheorie von Hindelang (2010) führt diese Studien synoptisch zusammen. Darüber hinaus wird schon in den frühen Einführungs- und Überblicksdarstellungen zur linguistischen Pragmatik der für diese Teildisziplin zentrale Status der Sprechakttheorie betont (vgl. etwa Schlieben-Lange 1975; Wunderlich 1975) und ganz entlang der eben beschriebenen Argumentationslinien begründet.
Schon früh ist der Sprechakttheorie dabei ein entscheidender Einwand entgegengebracht worden, der sich auf ihre Sprecherorientiertheit oder – schärfer noch – ihre Sprecherzentriertheit bezieht. Die Analysen der Gelingensbedingungen bzw. der Gebrauchsregeln für Indikatoren der illokutionären Rolle sind allein auf die Sprechenden konzentriert, und als Beispiele werden typischerweise isolierte und an der Größe des Satzes orientierte Äußerungen präsentiert. Schon bald hat man demgegenüber auf die sequentielle Einbettung von Sprechakten hingewiesen und „Sprechaktsequenzmuster als Grundlagen von Dialogmustern“ (Hindelang 1994, S. 106) bestimmt. Vor allem aber in der durch die amerikanische Conversation Analysis inspirierten Gesprächsanalyse hat man der Sprechakttheorie vorgeworfen, mit der Konzentration auf Sprechakte den grundlegend interaktionalen Charakter sprachlicher Kommunikation zu vernachlässigen. Nicht die Sprechenden alleine könnten über ihre Äußerungen und ihren Handlungswert verfügen (vgl. hierzu Liedtke in diesem Band), vielmehr seien die Gesprächsbeiträge in Form und Funktion kollaborativ erzeugt, und „[e]rst das Gespräch als Ausgangspunkt sprachpragmatischer Forschung garantiert die unverkürzte Darstellung sprachlicher Realität“ (Henne/Rehbock 2001, S. 11). Das Gespräch aber, und auch hierauf zielt der gesprächsanalytische Einwand gegenüber der Sprechakttheorie wie auch gegenüber der sprechakttheoretischen Dialoganalyse, könne prinzipiell nicht auf dem Wege der Introspektion, sondern nur anhand von ‚natürlichen‘ Gesprächsdaten angemessen untersucht werden.
Auch wenn sich die Gesprächsanalyse seit jeher und bis heute mit diesen Argumenten von der Sprechakttheorie distanziert, scheint das grundlegende Vorgehen, bei der Analyse von Transkripten Sprechhandlungen zu bestimmen und dies an oberflächensprachlichen Merkmalen festzumachen, auch hier – wenigstens für einen „ersten Zugriff“ (Deppermann 2008, S. 55) – unverzichtbar zu sein (vgl. Staffeldt 2014, S. 111f. und in diesem Band). In ihren Details mag die Sprechakttheorie Searles zwar ihre Strahlkraft eingebüßt haben. Die Zeiten, in denen ganze Kongressbände mit immer neuen Sprechaktanalysen gefüllt wurden, liegen lange zurück, und schon 1990 kann Armin Burkhardt für die Sprechakttheorie einen allgemeinen „decline of a paradigm“ (Burkhardt 1990a) konstatieren. Dass aber sprachliche Handlungen überhaupt zentrale linguistische Gegenstände sind, die sowohl theoretisch als auch empirisch erschlossen werden müssen, wurde und wird kaum je bezweifelt. Auch jenseits von ausdrücklich sprechakttheoretisch orientierten Forschungsrichtungen lassen sich deshalb deutliche Spuren der Sprechakttheorie nachweisen.
So bauen zahlreiche Anwendungsfelder der Pragmatik wie etwa die (Un-)Höflichkeitsforschung (vgl. Brown/Levinson 1987; Bousfield 2008; Bonacchi 2017) auf erkennbar sprechakttheoretisch konturierten Begriffen wie dem des face threatening act oder dem Konzept der indirekten Sprechakte (vgl. Searle 1975) auf. Der Searle’sche Entwurf wird dabei auch weiterentwickelt, indem etwa komplexe Illokutionen im Rahmen einer sprechakttheoretischen Multi-Akt-Semantik beschrieben werden (vgl. Tenchini/Frigerio 2016). Auch in der Textlinguistik wurden Texte nicht nur als transphrastische Strukturen, sondern auch als – typischerweise hierarchisch – verknüpfte sprachliche Handlungen (vgl. Dijk 1980, S. 90) und mithin Illokutionsstrukturen (vgl. Motsch/Viehweger 1991) beschrieben oder allgemeine Textfunktionen nach dem Vorbild der Searle’schen Sprechakttaxonomie definiert (vgl. Brinker 2010). Die Phraseologie hat sich die Sprechakttheorie mit dem Begriff der Routineformel als „konventionelle[n] Äußerungsformen für den Vollzug bestimmter Sprechakte“ (Stein 2004, S. 266) zu eigen gemacht. Auf die pragmalinguistische Forschung zu Sprache und Politik, in der die Bestimmungen von Sprechhandlungen und ihrer Funktionen zentral sind, wurde bereits hingewiesen. Über die Vermittlung durch die Funktionale Pragmatik liefert der Begriff der Sprechhandlung im Sinne Austins und Searles schließlich auch für das Vorhaben einer Funktionalen Grammatik das theoretische Fundament (vgl. Zifonun/Hoffmann/Strecker 1997, S. 99–159). Die von gesprächsanalytischer Seite vorgebrachten Einwände, insbesondere die Forderung nach der Berücksichtigung sequentieller Einbettungen, werden dabei von vornherein integriert und statt isolierter Sprechhandlungen werden komplexere Handlungsmuster veranschlagt. All diese Beispiele zeigen, dass die Sprechakttheorie zum theoretischen Grundbestand, sozusagen zur Grundausrüstung jeder pragmatisch orientierten Linguistik gehört.
Eine andere Stoßrichtung der Kritik an der klassischen Sprechakttheorie zielt auf ihren universalistischen Charakter. In sprach- und kulturvergleichender Perspektive wurde auf ethnozentrische Tendenzen der Sprechakttheorie hingewiesen, welche kulturspezifische Ausprägungen von Sprechakten wie auch von Ethnotaxonomien außer Acht lasse (vgl. Gass/Neu 1996; Richland 2013). In diachroner Perspektive hat man die historische Wandelbarkeit von Sprechakten bzw. von Indikatoren der illokutionären Rolle aufgezeigt (vgl. Jucker/Taavitsainen 2008). Allerdings handelt es sich bei beiden Forschungsrichtungen mitnichten um Angriffe auf die Sprechakttheorie als solche (vgl. aber Rosaldo 1982). Im Gegenteil, ihre prinzipielle Tauglichkeit und auch die mit ihr verbundenen Heuristiken wie etwa die Inventarisierung von Indikatoren der illokutionären Rolle werden gerade nicht bestritten, sondern allenfalls empirisch ausdifferenziert und hierdurch letztlich doch bestätigt.
Die Sprechakttheorie, so könnte man diesen Abriss ihrer Karriere in der Linguistik resümieren, ist eine Normalwissenschaft im Sinne Thomas Kuhns geworden:
[…] eine Forschung, die fest auf einer oder mehreren Leistungen der Vergangenheit beruht, Leistungen, die von einer bestimmten wissenschaftlichen Gemeinschaft […] als Grundlagen für die weitere Arbeit anerkannt werden. Heute werden solche Leistungen in wissenschaftlichen Lehrbüchern, für Anfänger und für Fortgeschrittene, im einzelnen geschildert, wenn auch selten in ihrer ursprünglichen Form. Diese Lehrbücher interpretieren den Grundstock einer anerkannten Theorie, erläutern viele oder alle ihre erfolgreichen Anwendungen oder vergleichen diese Anwendungen mit exemplarischen Beobachtungen und Experimenten. (Kuhn 1967, S. 28)
Und so normal, wie die Sprechakttheorie geworden ist, so wenig scheint sie derzeit in der Linguistik noch Gegenstand ernsthafter theoretischer Auseinandersetzung zu sein – anders, als in der Philosophie, wo sie bis heute diskutiert wird (vgl. etwa Fogal/Harris/Moss 2018). Im 1990 erschienenen Band Speech Acts, Meaning and Intentions (Burkhardt 1990b), der den Stand der Sprechakttheorie 20 Jahre nach Erscheinen von Searles Buch bilanziert, sind vor allem theoretische Einwände vorgebracht worden. Nochmals 30 Jahre später, so könnte man überspitzt zumindest für die germanistische Linguistik sagen, wird die Sprechakttheorie vor allem angewendet.