Loe raamatut: «Die Fahrt der Steampunk Queen»
Die Fahrt der Steampunk Queen
Ein Roman in Episoden
Marianne Labisch + Gerd Scherm (Hrsg.)
Außer der Reihe 57
Marianne Labisch + Gerd Scherm (Hrsg.)
DIE FAHRT DER STEAMPUNK QUEEN
Ein Roman in Episoden
Außer der Reihe 57
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
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© dieser Ausgabe: März 2021
p.machinery Michael Haitel
Titelbild & Illustrationen: Gerd Scherm
Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda Michael Haitel
Lektorat: Marianne Labisch, Gerd Scherm
Korrektorat: Michael Haitel
Herstellung: global:epropaganda Michael Haitel
Verlag: p.machinery Michael Haitel
Norderweg 31, 25887 Winnert
www.pmachinery.de
für den Science Fiction Club Deutschland e. V., www.sfcd.eu
ISBN der Printausgabe: 978 3 95765 238 6
ISBN dieses E-Books: 978 3 95765 858 6
In memoriam Susanne Haberland
†01.04.2016
Marianne Labisch: Vorwort
Ich kannte Susanne Haberland schon fünf Jahre als nette Kollegin im Forum der Geschichtenweber, bevor sie sich 2015 bei mir per Mail meldete und mich fragte, ob ich sie in ihrem letzten Lebensjahr begleiten wollte. Wir waren bis dahin immer gut miteinander ausgekommen, aber von ihrer Krebserkrankung wusste ich nichts und war folgerichtig erst mal geschockt und erstaunt. Warum hatte sie mir davon noch nichts erzählt?
Susanne hatte ihre ganz eigene Art mit der Krankheit umzugehen und sie suchte sich ihre Begleiter ganz gezielt aus. Sie wandte sich an Personen, von denen sie glaubte, sie täten ihr gut. Selbstverständlich sagte ich spontan zu und sie erzählte mir, dass sich etliche vermeintliche Freunde von ihr abgewandt hatten, als sie von der Diagnose erfuhren. Auch einige Verlage wollten nichts mehr von ihr wissen und manch einer erklärte ihr sogar, dass posthum nichts von ihr veröffentlicht würde. Umso mehr habe ich mich darüber gefreut, dass die O’Connell Press Susannes Roman nach ihrem Ableben veröffentlichte. Ebenso handhabte es die p.machinery. Zu beiden Verlagen hatte Susanne auch ein sehr nettes Verhältnis.
Ich wusste also, wie diese Geschichte enden würde, und war gewappnet, Trost zu spenden, Beistand zu leisten, sie aufzufangen, wenn sie am Boden lag. Aber all das war nicht nötig. Susanne hat ihr Schicksal angenommen und nicht damit gehadert. Sie hat sich das Lachen auch vom Tod nicht verbieten lassen, ganz im Gegenteil: Oft hat sie gescherzt, dass der Gevatter schon in der Tür stünde, sie ihn aber noch hinhalten müsste, weil sie unbedingt noch eine Geschichte, einen Roman oder ein anderes Vorhaben beenden wollte. Obwohl sie keine gute Prognose hatte, stürzte sie sich in die Arbeit und schloss immer neue Verträge ab. Ich hatte den Eindruck, als wollte sie gegen den Tod anschreiben.
Sie hat auch in den schlimmsten Situationen, als zum Beispiel eine lebensverlängernde Maßnahme scheiterte, nie gejammert, geweint oder gezürnt.
Es hat Situationen gegeben, die sie geärgert haben, aber dann ärgerte sie sich meistens mehr über ihre fehlende Schlagfertigkeit, als über die Begebenheit selbst. Ich habe sie bewundert. Sie war so stark und selbst ganz am Schluss hat sie immer noch kein großes Aufhebens von sich gemacht, sondern uns nur kurz mitgeteilt, dass sie das Wochenende nicht mehr erleben wird und hat auf Wiedersehen gesagt. Nach dieser Mail haben wir sie nicht mehr erreicht und kurz darauf erfahren, dass sie friedlich eingeschlafen war.
Susanne liebte den Steampunk über alles und fast alle ihre Pseudonyme ebenfalls. Sie hatte Fantasie und hauchte ihren Figuren Leben ein. Auch ihren feinen Sinn für Humor konnte man in ihren Geschichten entdecken. Ich mochte ihre Geschichten und Romane sehr. Als sie gestorben war, nahm ich mir vor, ihr zu Ehren mal eine Anthologie herauszugeben. Dann kam ein Projekt nach dem anderen und meine »Steampunk Queen« – den Namen hatte ich sofort parat – geriet erst einmal wieder in Vergessenheit.
Bis, ja, bis ich die Anthologie »Sternentod – Inspiration Two Steps from Hell«, von Frederic Brake herausgegeben, in Händen hielt, die 2019 erschienen ist. Darin war Susannes letzte Geschichte enthalten, die ich noch lektorieren durfte. Das Buch war Susanne gewidmet und ich entdeckte, dass sich ihr Todestag am 01. April 2021 zum fünften Mal jähren wird.
Das war der perfekte Anlass, mein Vorhaben in die Tat umzusetzen. Ich sprach einige Autoren an, die Susanne gekannt hatten und bekam ein paar Zusagen, die aber nicht für eine Anthologie ausgereicht hätten, daher wandte ich mich an andere Autoren, von denen ich vermutete, dass sie Steampunk verfassen konnten und andere, von denen ich wusste, dass sie es konnten und so bekam ich eine nette Mannschaft zusammen.
Weil Gerd Scherm so viele schöne Illustrationen beigesteuert hat, und wir beide sehr harmonisch und produktiv zusammenarbeiten und nun schon öfter gemeinsam Anthologien herausgegeben haben, fragte ich ihn, ob er auch hier als Mitherausgeber fungieren wollte. Er wollte nicht nur, sondern war gleich Feuer und Flamme und hat erst mal die ganze Crew und das Schiff visualisiert und die Reiseroute zusammengestellt. Für die Visualisierung haben wir einen neuen Weg gewählt, denn die Besatzung musste ja in allen Geschichten gleich aussehen. Wir haben uns an lebenden und toten Schauspielern ebenso wie an unbekannten Personen orientiert.
Die Besatzungsliste und die anderen »Darsteller« finden Sie am Ende des Buches. Durch die gute Zusammenarbeit mit den Autoren und meinem Mitherausgeber ist statt der geplanten Anthologie ein Episodenroman entstanden.
Nun hoffe ich, dass unsere kleine Hommage an Susanne Haberland und ihr Werk Ihnen gefällt.
Leinen los! Auf geht die Fahrt. Ahoi!
Ihre
Marianne Labisch
Gerd Scherm: Die Vorgeschichte zur Fahrt der Steampunk Queen
Im Jahr 1900 wendete sich im Burenkrieg das Blatt. Sechzigtausend Mann Verstärkung trafen in Südafrika ein und die Truppen unter dem Kommando von Feldmarschall Lord Roberts eilten nun von Sieg zu Sieg. Der südafrikanische Präsident Paul Krüger hatte das Land fluchtartig verlassen, nicht ohne vorher die Goldvorräte des Burenstaats Transvaal verstecken zu lassen. Natürlich hatte sich der Exodus des Goldes aus den Banktresoren in die Weiten des Landes herumgesprochen. Nicht nur Glücksritter machten sich auf die Suche, sondern auch Einheiten der britischen Streifkräfte.
Eine solche Einheit unterstand Major Lord Summer. Man hatte ihm zugetragen, dass eine vollends ausgebeutete Mine als Versteck dienen sollte. Nach dem Motto: »Wo nichts mehr zu holen ist, wird keiner suchen.«
So machte sich der Major mit einem Trupp Soldaten zu dem Ort auf, dessen Name und Lage in keinem heute noch existierenden Dokument verzeichnet wurde.
Lord Summer und seine Leute fanden die Mine vor, wie man sie ihnen beschrieben hatte: verlassen, leer, ohne eine Spur von Gold – weder im Gestein, noch in Kisten versteckt. Sie waren gerade dabei, die Mine zu verlassen, als der Major nach oben an die Decke schaute. Was er sah, ließ ihm den Atem stocken. Unter dem Felsengewölbe hingen Dutzende, wenn nicht Hunderte Steine – kugelrunde Steine. Er rieb sich die Augen und schaute wieder nach oben. Dann forderte er seinen Adjutanten Captain Cavendish auf, ebenfalls zur Decke zu blicken.
Nachdem Lord Summer sicher war, keiner Halluzination zum Opfer gefallen zu sein, befahl er seinen Männern über eines der Gerüste nach oben zu klettern und zu schauen, wie die Steine dort befestigt waren. In der Höhe stellte ein altgedienter Soldat zu seiner Überraschung fest, dass die Steine anscheinend nicht aus dem Fels wuchsen, sondern an ihm klebten. Er griff nach einer etwa faustgroßen Kugel und konnte diese gegen einen gewissen Widerstand vom Gestein lösen. Nach seiner späteren Beschreibung fühlte es sich an, als wenn man einen Magnet von einem anderen löst.
Lord Summer erkannte blitzschnell, welch ungeheures Potenzial in diesen schwebenden Steinen lag. Vielleicht waren diese unscheinbaren Kugeln sogar wertvoller als Gold.
In den nächsten Jahren ließ er von speziell ausgesuchten Männern, denen er durch hohes Handgeld vertraute, Steine abbauen und heimlich nach Schottland transportieren, wo seine Familie ein Landgut besaß.
1904 kam es in der ehemaligen Mine aus ungeklärten Gründen zu einer Explosion, die drei Männer das Leben kostete. Dabei wurde der Eingang völlig verschüttet.
Jahre später, Lord Summer war inzwischen Brigadier und arbeitete beim britischen Geheimdienst Secret Service, lernte dieser den Schiffsbauingenieur Gordon MacKeldey kennen. Die beiden verstanden sich auf Anhieb. Der Lord hatte seit seiner Jugend eine große Liebe zu Schiffen, aber die Familientradition verhinderte seinen Eintritt in die Navy und er musste bei der Army dienen. Er fasste Vertrauen zu dem Schotten und erzählte von den schwebenden Steinen. MacKeldey erkannte sofort die Möglichkeiten für den Schiffsbau und die Chance, auf dem Wasser zu gleiten.
Zusammen mit dem bei ihm angestellten Maschinenbauingenieur Georg Gruber, einem deutschen Auswanderer, entwickelten sie die Möglichkeit, wie man mithilfe von Magneten die Steigfähigkeit der Steine erhöhen oder verringern kann. Damit war die neue Auftriebshilfe für Schiffe erfunden.
Man begann, von einer neuen Generation von Schiffen zu träumen. Aber es war klar, dass man nur mit einem Prototyp die solventen Investoren gewinnen konnte. Allein die Freilegung der verschütteten Mine würde ein Vermögen kosten.
Seit Lord Summer die Abenteuer des Tom Sawyer von Mark Twain gelesen hatte, wünschte er sich nichts sehnlicher, als einen Mississippidampfer zu besitzen. Und wie es der Zufall oder das Schicksal bestimmte, war MacKeldey bereit, sein Huckleberry Finn zu sein. Die Welt würde staunen, einen solchen Dampfer auf den Meeren zu sehen.
1914 kam der große Krieg und Brigadier Lord Summer war mehr in London beim Secret Service als in Schottland.
So probierten und tüftelten Gordon MacKeldey und Georg Gruber allein wie zwei Verschwörer in einer verlassenen Werft in Greenock an der Umsetzung der Auftriebsmaschine für das Schiff. Erst als sie diese fertig hatten, begann man mit normalen Arbeitern den Bau des Schiffs, das nach Wunsch von Lord Summer Steampunk Queen heißen sollte.
Nach Kriegsende ließ sich der Lord beurlauben und zog auf das schottische Landgut seiner Familie. Seine Frau Beth war inzwischen schwer rheumakrank und dadurch opiumsüchtig geworden. Dennoch besuchte er mehrmals wöchentlich die Werft in Greenock.
Seine Tochter Gravity, die inzwischen freie Mitarbeiterin des Secret Service geworden war, teilte seine Begeisterung für das Schiff. Allerdings hasste sie ihren Vornamen und nannte sich nach diesem befragt stets Vity.
Vity zeigte sich als äußerst talentiert und kreativ und trug mit ungewöhnlichen Ideen zur Entwicklung der Steampunk Queen bei. Sie machte den Vorschlag der ausfahrbaren seitlichen Stabilisatoren, die den von ihr so genannten »Seeroseneffekt« bewirken, das sanfte Schwimmen auf einer bewegten Wasserfläche.
Wegen der Krisensituation nach dem großen Krieg und der Spanischen Grippe wurde Lord Summer aufgrund des zunehmenden Personalmangels in die Zentrale nach London berufen. Doch leider erkrankte auch er und verstarb im Februar 1919.
Da die Frau des Brigadiers schwer leidend war, erbte seine Tochter Gravity direkt Titel und Vermögen. Die Witwe wurde von da an Lady Mum genannt. Es wird vermutet, dass das britische Königshaus sich später an dieser Bezeichnung orientierte.
Der Bau der Steampunk Queen in der Werft in Greenock machte gute Fortschritte.
Am 30. März 1920 geschah allerdings ein Unglück, bei dem ein Mann zu Tode kam. Dennoch konnte die Steampunk Queen noch 1920 unbemerkt von der Öffentlichkeit vom Stapel laufen.
Man hatte den Plan, eine lange Testfahrt von Schottland entlang der Küste von England und Wales bis zur Insel Jersey zu machen. Ihre pflegebedürftige Mutter nahm die Lady samt deren persönlicher Pflegerin Schwester Ann mit an Bord.
Alles auf dem Schiff funktionierte bestens, der Auftrieb leistete still und geräuschlos seine Dienste, die beiden Dampfmaschinen stampften zuverlässig. Die Ausstattung der Steampunk Queen war »state of the art«, die erste Klasse strahlte in purem Luxus und die zweite Klasse wäre auf vielen anderen Schiffen als erste akzeptiert worden. Für die weniger Betuchten wurde eine schlicht ausgestattete dritte Klasse angeboten. Auch junge Forscher sollten laut dem Vermächtnis des Lords die Chance haben, mit der Steampunk Queen zu reisen.
Man beschloss die Fahrt fortzusetzen und steuerte das französische Brest an. Es ging dem an Schwindsucht erkrankten Gordon MacKeldey zusehends schlechter und er verstarb im dortigen Krankenhaus. Georg Gruber übernahm, nach außen als Maschinist getarnt, die technische Leitung des Schiffs.
In Brest ergänzte die Eignerin Lady Summer die Mannschaft und heuerte unter anderem den Chefkoch Jean-Baptiste Grande an, den sie von früheren Aufenthalten als Secret-Service-Agentin in Paris kannte.
Auf Anraten von Gruber setzte man die Testfahrt fort und fuhr weiter südlich nach La Rochelle. Von hier aus startete Lady Summer mit dem neuartigen Bildtelegrafen für eine Kreuzfahrt 1921 die Anzeigenwerbung in den großen Zeitungen europäischer Metropolen und in New York.
Bereits bei Erreichen des ersten spanischen Hafens Bilbao war die gesamte Reise ausgebucht. Während der ganzen Fahrt um die iberische Halbinsel bis nach Marseille arbeiteten alle Maschinen einwandfrei und selbst stärkerer Wind konnte dem Schiff nichts anhaben. Dennoch hatte Lady Summer, um jegliches Risiko zu vermeiden, das Kommando ausgegeben, dass während der Sturmsaison im Mittelmeer im September und Oktober das Schiff im Hafen bleiben musste.
Rainer Schorm: Der Geist des Alan Stevenson
28. März 1920, Palmsonntag
Greenock/Grianaig:
Werft »Scotts Shipbuilding
and Engineering Company«
19:13 Uhr
Lady Summer mochte ihr Büro nicht. Zwar war sie dankbar, dass ihr Scotts, die Inhaber einer der Werften von Greenock, die Räumlichkeit zur Verfügung stellten, aber das Warten auf den Stapellauf der Queen zehrte an ihren Nerven. Die Ingenieure hatten die beeindruckende Maschine beinahe komplett installiert, aber je näher der Stapellauf rückte, desto unruhiger fühlte sie sich.
Das Büro erlaubte keine direkte Sicht auf das Boot – das mochte der Grund für ihre Unzufriedenheit sein. Draußen war es bereits dunkel. Sie hörte den Regen aufs Dach der großen Halle prasseln, in der die Queen lag, eher an einen gestrandeten Wal erinnernd, als an das stolze Boot, das sie bald sein würde.
Es klopfte.
»Herein!«, sagte Lady Summer resolut. Sie wusste, dass sie in dieser Umgebung, keine Schwäche zeigen durfte. Handwerker, Ingenieure und Bootsbauer überhaupt, praktizierten ausgeprägtes Revierverhalten. Dass sie hier residierte, war für viele eine Zumutung; neue Zeit hin oder her.
Ein Mann trat ein.
Wenigstens ist er pünktlich!, dachte sie.
Der Ultraspeed-Telegraf hatte sie vor etwa drei Stunden beim Tee gestört. Der Mann, ein gewisser Alan Stevenson, hatte dringend um einen Termin gebeten, ansonsten aber kaum etwas verraten. Der Ingenieur stammte aus einer Familie von Leuchtturmbauern, die einen guten Ruf besaß. Er selbst sah kein bisschen danach aus.
Lady Summer musterte ihn kritisch. Er war klein, untersetzt und zeigte eine gewisse Pausbäckigkeit. Der üppige Schnauzbart kompensierte das nicht. Die kurzen Haare glänzten geölt, bedeckten den Kopf graubraun und dicht.
Ihr fiel das bläuliche Halstuch auf, über und über bedeckt mit technischen Zeichen.
Nichts vom automatischen Webstuhl!, dachte sie. Das ist teure Handarbeit. Also kein Bittsteller im herkömmlichen Sinn.
»Alan Stevenson«, stellte sich der Besucher vor, verbeugte sich militärisch knapp, dass Lady Summer unwillkürlich erwartete, er werde die Hacken zusammenschlagen. Dabei wirkte er ansonsten nicht wie ein Soldat.
»Sie telegrafierten, Sie hätten einen interessanten Vorschlag«, sagte sie und kam damit sofort zum Kern der Sache.
Stevenson stutzte, dann lächelte er zufrieden. »Sie sagen es, Lady Summer. Wenn Sie sich diese Pläne ansehen wollen … ich bin sicher, sie werden begeistert sein.«
Lady Summer hob kurz zustimmend die Hand. Sofort begann Alan Stevenson mit unglaublicher Geschwindigkeit, mehrere Blaupausen aus einer mitgebrachten Kartonrolle zu ziehen und an ein großes Klemmbrett zu heften, das an der linken Seite des Büros auf einem Dreibein stand. Lady Summer hatte im Lauf der Zeit, und während die Arbeiten an der Queen fortschritten, ein Gespür für technische Feinheiten entwickelt, wie sie sich selbst das niemals zugetraut hatte. Sie hatte viel gelernt. Sie bemerkte also sehr schnell, wie außergewöhnlich das Konzept war, das der Ingenieur ihr präsentierte.
»Es ist ein fortschrittliches Navigationssystem, wenn Sie so wollen«, sagte Stevenson.
»Es ist … elektrisch?«, fragte Lady Summer fasziniert. »Ist das richtig?«
Stevenson nickte beinahe euphorisch. »Sie haben das Prinzip verstanden? Das ist großartig. See- und Küstenkarten könnten überflüssig werden, stellen Sie sich das vor.«
Lady Summer betrachtete intensiv die Konstruktion, die Stevenson ihr präsentierte. Im Zentrum eines komplexen Netzwerks elektrischer Leitungen, die sich aus vier Stromabnehmern oder Blitzableitern speisten, saß eine Glasbirne, in der wohl ein Vakuum herrschte. Darin formten unzählige haarfeine Drähte ein derart kompliziertes Geflecht, dass sie nicht einmal im Ansatz ahnte, wie man so etwas herstellen konnte.
»James Brown Lindsay brachte mich auf die Idee«, sagte Stevenson. »Ich habe seine Aufzeichnungen aus dem Jahre 1835 intensiv studiert.«
Lady Summer erinnerte sich sehr diffus.
»Ein schottischer Ingenieur, nicht?«, fragte sie. »Aber das eigenartige Geflecht …«
»Sie haben von Santiago Felipe Ramón y Cajal gehört, nehme ich an?«, fragte Stevenson. Er hatte ihren etwas ratlosen Blick offenbar bemerkt.
Der Name kam Lady Summer tatsächlich bekannt vor, aber sie wusste ihn nicht zuzuordnen.
Stevenson lächelte nachsichtig. »Ein spanischer Arzt, der sich mit dem Aufbau des menschlichen Gehirns aus Nervenzellen beschäftigte. Er färbte die Einzelzellen mit einer Silbernitrat-Lösung ein und konnte so die Struktur entschlüsseln. Ein sehr renommierter Mann, der völlig zurecht den Nobelpreis für Medizin erhielt. Das war 1906. Seit 1909 ist er Mitglied mehrerer Akademien der Wissenschaften, darunter Göttingen und Paris. Dieses Jahr steht seine Aufnahme in die National Academy of Sciences an. Seine Arbeit ist für mich die reinste Inspiration. Mein System basiert auf der Ähnlichkeit der neu entdeckten Nervenzellen, die man im menschlichen Gehirn entdeckt hat – und der Art ihrer Vernetzung. Dieses System imitiert die Gedankentätigkeit. Für den Steuermann ist das ein enormer Vorteil. Er benötigt keine gedruckten oder gezeichneten Karten mehr.«
Lady Summer dachte nach. Noch blieb genug Zeit, obwohl der Stapellauf näher rückte. »Wie lange würde die Installation dauern?«, fragte sie deshalb.
»Einen, maximal zwei Tage«, sagte Stevenson erwartungsvoll.
Lady Summer zögerte kurz, dann entschied sie sich. »Gut. Ich werde Kapitän Van Royen und den Steuermann kontaktieren. Stimmen die zu, dann können Sie Ihr Projekt starten. Welche Kosten kämen in diesem Fall auf mich zu?«
Stevenson strahlte. »Lediglich der Materialwert für die vier Stromabnehmer. Die übrigen Teile der Konstruktion wurden auf meine Kosten bereits hergestellt. Es geht mir lediglich darum, das System zu testen.«
»Das ist ausgezeichnet«, sagte Lady Summer. »Wo kann ich Sie telegrafisch erreichen?«
Zufrieden hatte Stevenson bereits damit begonnen, die Pläne wieder zusammenzurollen, bis auf eine deutlich kleinere Kopie.
»Zeigen Sie die Blaupause ihrem Steuermann und am besten auch gleich dem Maschinisten«, sagte er. »Ich logiere im Tontine an der Union Street. Dort erreichen Sie mich jederzeit.«
Er nickte Lady Summer freundlich zu und verließ das Büro ohne weiteres Wort.
Lady Summer nahm Verbindung mit Kapitän Klaas van Royen und Steuermann Jan de Breukelen auf. Sie trafen sich am nächsten Morgen. Die Arbeiten an der Queen gingen weiter, und da sich bisher keine Schwierigkeiten andeuteten, waren beide Männer bereit, dem Experiment zuzustimmen. De Breukelen zeigte sich skeptischer als der Kapitän, aber seine Vorbehalte bezogen sich nicht auf Stevensons Konstruktion.
»Der Maschinist Gruber wird sich dem nicht in den Weg stellen«, sagte er. »Seine Maschinen sind von all dem nicht betroffen. Er freut sich über seine schrägliegende Zweifachexpansionsdampfmaschine und die exzentergesteuerten Radschaufeln ein Loch in den Bauch. Darin verschwindet momentan jede Menge Whisky aus der lokalen Destillerie. Wenn er beim Stapellauf nüchtern ist, werden wir mit ihm keine weiteren Probleme haben. Er kann von Glück sagen, dass vor fünf Jahren, als die Greenock Distillery geschlossen werden sollte, diese Franzosen alles aufgekauft haben. Ganz schöner Sprung, vom Cognac zum Single Malt. Ich habe den Eindruck, er will das auch die nächsten fünf Jahre lang weiter feiern. Wie gesagt: Er ist unkompliziert, wenn uns sein verdammter Husten nicht noch einen Strich durch die Rechnung macht. Klingt sehr nach Schwindsucht.«
Er unterbrach sich kurz und räusperte sich leise. »Anders ist das mit den Heizern. Das ist ein abergläubisches Pack. Wenn etwas nicht mit Kohle befeuert wird, kommt es vom Teufel.«
»Auf unseren Sicherheitschef Mister Camford müssen wir noch mindestens sechs Wochen verzichten«, sagte Kapitän van Royen. »Einige seiner Leute sichern die Werft, vor allem, was die Spionage betrifft, aber er selbst hat vor dem Stapellauf nichts zu tun.«
Lady Summer glaubte, eine leichte Nervosität zu spüren, aber das mochte Einbildung sein. Van Royen trug seine Gefühle nie zur Schau. Seine Selbstbeherrschung war sprichwörtlich.
»Während das System installiert wird, sind sicher keine besonderen Sicherheitsmaßnahmen nötig«, sagte sie und zog ein altes Zigarettenetui aus Sterlingsilber hervor. Sie nahm eine Gitanes Maïs heraus und zündete sie an.
Van Royen runzelte die Stirn. »Französische Zigaretten?«
»Ich bekomme sie in der Destillerie«¸ sagte Summer lächelnd. »Unser Maschinist schätzt den dortigen Whisky, ich pflege ein anderes Laster.« Sie nahm einen tiefen Zug und der warme Duft verglühender Maisblätter mischte sich mit dem des Tabaks. »Ich rauche sie seit etwa zehn Jahren, seit es sie gibt. Nicht ausschließlich, man bekommt sie nicht überall.«
Van Royen hustete. »Laster hält man sich, um sie zu kultivieren. Aber das ist harter Tobak.«
»Sie sagen es, Kapitän«, murmelte Lady Summer.
De Breukelen holte tief Luft, als wolle er aktiv mitrauchen. »Wenn ich Sie also richtig verstanden habe, werden sie diesem …. Stevenson die Erlaubnis geben, ja?«
»Ich denke, genau das werde ich tun«, sagte Lady Summer und drückte die Zigarette aus. »Wir leben in einer aufstrebenden, technischen Welt. Stellen Sie sich vor, welche Möglichkeiten sein Navigationssystem bietet. Wir haben einen Fuß in der Tür, diesen Vorteil sollten wir nicht leichtfertig verspielen.«
Die beiden Männer standen auf und verabschiedeten sich. Lady Summer blieb in ihrem Stuhl sitzen, starrte noch eine ganze Weile auf den kleinen Plan, den ihr Stevenson überreicht hatte.
Erst eine halbe Stunde später verließ sie ihr Büro. Neben der Werft gab es eine Nebenstelle des Ultraspeed-Telegrafen. Sie schickte Stevenson eine Depesche. Am nächsten Morgen bereits würde er mit seiner Arbeit beginnen können.
30. März 1920
Greenock/Grianaig: Werft »Cartsburn and Cartsdyke«
15:07 Uhr
Bereits am Nachmittag des nächsten Tages begann Alan Stevenson mit der Arbeit an seiner neuartigen Konstruktion. Das Baudock dröhnte vom Hämmern und anderen Geräuschen der Handwerker und Schiffsbauer. Die Stapellegung lag bereits einige Zeit zurück, die Queen befand sich im letzten Ausbaustadium. Die Maschinen präsentierten sich arbeitsbereit und warteten nur auf die Montage der beiden Schaufelräder. Vor einer halben Stunde hatte man das bewegliche Dach zurückgefahren und zwei gewaltige Kräne hievten die kompletten Schaufelräder ins Dock hinein.
Über Greenock braute sich ein Gewitter zusammen. Erste Blitze flackerten auf. De Breukelen sorgte sich ein wenig, denn die Kräne bildeten für die Entladungen selbstverständlich ein Ziel. Aber Lady Summers Anweisung war deutlich: Keine unnötigen Verzögerungen.
Das Ausdocken näherte sich unaufhaltsam. Als Jungfernfahrt würde die Queen den Weg die ostenglische Küste entlang nach Süden nehmen, um dann Brest anzusteuern.
Stevenson arbeitete konzentriert und zumeist wortlos. Steuermann de Breukelen hielt sich länger auf der Brücke auf, als er das üblicherweise tat. Seine Einstellung »misstrauisch« zu nennen, wäre übertrieben gewesen. Es war eine gesunde Skepsis etwas Neuem gegenüber. Dabei faszinierte ihn die Arbeit des Ingenieurs. Van Royen hatte sich nur kurz sehen lassen. Als er registrierte, dass sein Steuermann ein waches Auge auf Stevenson hatte, verließ er die Brücke.
Was de Breukelen auffiel, war die betont unauffälligen und häufigen Besuche der Heizer. Besonders Ivan Koslov warf immer wieder starre Blicke auf die eigenartige Konstruktion. Ihm schmeckte nichts, was sich jenseits seiner Dampfmaschinen abspielte. Kolben, Kessel, Schieber, Ventile und Übersetzungen – das war sein Zuhause. Dass das System ohne Dampfdruck und Turbinen arbeiten sollte, beunruhigte ihn sichtlich.
»Kannich sein, Mister de Breukelen, Sir. Das is unmöglich. Kein Dampf, keine Ventile … nichts davon. Kann gar nich sein.«
Sein eigenartiger, russischer Akzent verstärkte den Eindruck, er litte an einem Katarrh.
Stevenson lächelte versonnen. Er schien diese Vorbehalte zu kennen.
»Es ist Elektrizität, Mister Koslov«, sagte er. »Nichts, was Ihnen gefährlich werden könnte. Sie brauchen keine Angst zu haben.«
Koslov zog die dicken schwarzen Brauen zusammen und stieß scharf die Luft aus.
»Ich hab keine Angst vor gar nichts, verstanden?«
De Breukelen gab dem Heizer mit einem deutlichen Wink zu verstehen, dass er auf der Brücke nur dann geduldet wurde, wenn er dort zu arbeiten hatte. Für einen Heizer stellte das die absolute Ausnahme dar, ihr Bereich war der Maschinenraum. Koslov räumte mürrisch das Feld.
»Sie können froh sein, dass sie sich nicht im Maschinenraum mit Heizern und den Maschinisten herumschlagen müssen«, sagte er. »Hier haben Sie’s nur mit mir zu tun – ich bin nicht annähernd so abergläubisch. Aber mich sollten Sie überzeugen. Ich muss mit Ihrem … Konstrukt arbeiten.«
»Ich verspreche Ihnen, Sie werden begeistert sein«, sagte Stevenson, ohne den Steuermann anzusehen.
Die vier »Blitzableiter«, wie de Breukelen die Spannungsabnehmer an den vier höchstgelegenen Stellen der Queen nannte, hatte Stevenson zuerst installiert. Nun stand er vor einem breiten, bleiern glänzenden Gewinde und zog eine Abdeckplane von einer recht großen Kiste, auf der in blutigem Rot das Wort Fragile! prangte.
De Breukelen runzelte verblüfft die Stirn.
Stevenson hob einen großen Glasballon aus der dicken Polsterung und setzte ihn auf das Gewinde. Im Inneren war ein verwirrend komplexes Geflecht aus Metallfäden erkennbar, wie de Breukelen es nie zuvor gesehen hatte. Es sah aus, als habe man die Netze von mindestens zwanzig Spinnen ineinandergeschoben.
Stevenson bemerkte de Breukelens Faszination.
»Im Inneren des Glasballons herrscht ein absolutes Vakuum. Die Herstellung war eine Herausforderung der ganz besonderen Art. Es ist ein spezielles Borosilikatglas, das ich in einer verruchten Glasbläserei in Böhmen habe fertigen lassen. Die rote Farbe kommt von den verwendeten Kupferoxiden, die einzelnen violetten Schlieren stammen von selektiv beigefügtem Mangan.«
»Und diese … Fäden?«, erkundigte sich de Breukelen. Er trat näher und beugte sich vor.
»Feinste Wolframfäden!«, sagte Alan Stevenson. »Sie kennen das Metall, nehme ich an? Seine Dichte ist beinahe so hoch wie die von Gold und es schmilzt bei 3411 Grad Celsius. Das ist der höchste bekannte Schmelzpunkt überhaupt. Es siedet bei grandiosen 5930 Grad. Für diese Funktion ist es wie gemacht. Es ist als Kontaktdurchführung in das Borosilikatglas direkt eingeschmolzen. Die Glas-Metall-Verbindung ist extrem dicht. Der vakuumierte Innenbereich ist kleiner als man denkt, das Glas dafür umso dicker. Können Sie sich vorstellen, wie schwierig es war, das Neuronat darin zu etablieren?«
»Was, bei allen besoffenen Klabautermännern, ist ein Neuronat?«, fragte der Steuermann verblüfft.
»Ich habe Lady Summer von Santiago Felipe Ramón y Cajal berichtet«, sagte Alan Stevenson. »Der Arzt hat die Struktur der Nervenzellen im menschlichen Gehirn entschlüsselt. Die Wolframfäden bilden dieses unglaublich komplizierte Netzwerk nach. Wussten Sie, dass im Gehirn etwa hundert Milliarden dieser Zellen existieren? Es gibt erste wissenschaftliche Vermutungen, dass das der Anzahl der Sterne in der Milchstraße entsprechen könnte. Eine geradezu monströse Zahl, nicht?
Mein System bildet diese Komplexität nach. Es wird künstliche Erinnerung möglich machen. Sie können alles einspeisen, was sie wollen: Karten, Entfernungen, Koordinaten – was sie eben benötigen. Der Denkballon wird es reproduzieren. Sie müssen das entsprechende Material zwischen diese drei magnetisierten Pole legen.«