Die Psychologie des bürgerlichen Individuums

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Die Psychologie des bürgerlichen Individuums
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Resultate

Karl Held (Hg.)

Die Psychologie
des
bürgerlichen
Individuums

Gegenstandpunkt Verlag

© Gegenstandpunkt Verlag 2018

Gegenstandpunkt Verlagsgesellschaft mbH

Kirchenstr. 88

81675 München

Tel (089) 2721604 Fax (089) 2721605

E-Mail: gegenstandpunkt@t-online.de

Internet: www.gegenstandpunkt.com

Alle Rechte vorbehalten

Druckausgabe ISBN 978-3-929211-04-7

EPUB: ISBN 978-3-929211-26-9

Inhaltsverzeichnis

Einleitung: Vom Fehler der bürgerlichen und vom Gegenstand einer materialistischen Psychologie

Teil I: Das moralische Individuum – Wie funktioniert ein abstrakt freier Wille?

Über theoretische und praktische Abstraktionen

Vom untertänigen Gebrauch des freien Willens

§ 1. Der falsche Materialismus des erlaubten Erfolgs

1. Die Psychologie leugnet den freien Willen und damit Unterwerfung als Prinzip des bürgerlichen Seelenlebens

2. Hegels Begriff des freien Willens als Idealismus des Dürfens

3. Die Klassenlage des Individuums als Individualismus seines Weltbilds

§ 2. Der Idealismus lohnender Selbstkontrolle

1. Herrschaft als Summe von guten und schlechten Gelegenheiten

2. Berechnung und Enttäuschung, Vergleich und Kritik

§ 3. Heuchelei und Leiden an der Welt

1. Erfolgsstreben im Namen des Guten

2. Der einseitige Nutzen der Heuchelei: Müssen – Sollen – Können – Dürfen

3. Trennung von Theorie und Praxis des Anstands

4. Anstand als gelebtes Ideal: Höflichkeit

5. Der moralische Materialismus. Neid und Schadenfreude

§ 4. Der rechtschaffene Mensch

1. Selbstbewusstsein: Tugend des Scheiterns und Stolz des Erfolgs

2. Das Gewissen: Scham und Unverschämtheit

3. Das praktische Gefühl als Organ des Vorurteils

Die Moral des Pluralismus in der Wissenschaft

4. Die Tugend umsichtiger Unterwerfung: „Vernunft“. Gefühl contra Verstand und umgekehrt

5. Virtuosen des guten Gewissens: Nietzsche und der Christenmensch

6. Weltanschauung als ehrenhafter Ersatz für Wissen. Aberglaube, Tagtraum und Vorbild

7. Moral auf philosophisch: Wo käme man denn da hin?

8. Sittlichkeitswahn in der Dichtkunst

Teil II: Die Bewährung des bürgerlichen Individuums in seiner Heimat, der kapitalistischen Gesellschaft

Das „Geheimnis“ der „zweiten Natur“: Mitmachen

§ 5. Die bürgerlichen Lebenssphären in der Sicht des rechtschaffenen Menschen

1. Demokratisches Knechtsbewusstsein: selbstbewusstes Eintreten für die herrschenden Verhältnisse

2. Der Bürger als Saubermann

3. Kritik der einen Sphäre durch die Ideale der anderen

§ 6. Politik – Demokratisches Knechtsbewusstsein

1.

2. Selbstbewusste Botmäßigkeit: Das politische „wir“

3. Konstruktive Kritik

4. Nation als Gefühl und Charakter

5. Radikale Opposition: Der Kampf ums Recht auf Kritik

Verbrechen I: Terrorismus als gerechte Gewalt, autonom

6. Die Erziehung zu Freiheit und Verantwortung

§ 7. Beruf: Konkurrenz und Leistung

1. Vom Zwang der Konkurrenz zum Leistungswillen

2. Materialismus in der Konkurrenz: Der Anspruch des Tüchtigen auf gerechten Lohn

3. Wie man das Ergebnis der Konkurrenz wegsteckt

4. Das Ideal der Brauchbarkeit und die Lebensalter

Verbrechen II: Der verbotene Weg zum gerechten Erfolg

§ 8. Privatleben: Vom Glück und seinem Scheitern in Genuss und Liebe

1. Das Ideal der Kompensation und die Sehnsucht nach Glück

2. Konsum und Freizeit: Das praktizierte Recht auf Genuss

3. Die große Entschädigung: Liebe als Rechtstitel auf bedingungsloses Verständnis

Liebeskummer und Verbrechen III: aus Leidenschaft

4. Die neuen Wege des Liebesbeweises

5. Konkurrenz in der Liebe: Drum prüfe, wer sich ewig bindet

Teil III: Vom Scheitern zur Selbstzerstörung – Das Reich der Psychologie

Mitmachen als Methode

§ 9. Der Charakter

1. Das Leben ein Kampf

2. Wie man sich einen Charakter bildet

3. Wie sich ein Charakter betätigt

4. Alternativen der Verstellung: Guter und schlechter Charakter

5. Ignoranz als Menschenkenntnis

6. Charakterologie am Ideal der Realitätstüchtigkeit

§ 10. Psychologische Selbstkritik: Die Techniken der Selbstbehauptung

1. Inhaltslose Selbstkritik: „Ich bin ein Versager“

2. Die unverschämte Selbstsicherheit des beschädigten Ich

3. Psychologie im Alltag

4. Psychologisches Training

5. Die bürgerliche Psychologie: ein wissenschaftlicher Parasit der Selbstbehauptung

§ 11. Verrücktheit und Normalität

 

1. Selbstbehauptung als Zweck: Sich auszeichnen

2. Selbsterniedrigung als Dienst: Vom Glück des Christenmenschen

3. Total verrückt

4. Psychiatrie

§ 12. Die Vollstreckung psychologischer Selbstkritik: Selbstmord

1. Selbstgefälligkeit in Verzweiflung

2. Alberner Respekt vor dem „Freitod“

3. Berechnung im Selbstmord: Der Idealismus der Gehässigkeit

Einleitung:
Vom Fehler der bürgerlichen und vom Gegenstand einer materialistischen Psychologie

An psychologischen Theorien über das, was man selbst, ein anderer oder „die Masse“ tut, fehlt es wahrlich nicht. Was die Psychologie als wissenschaftliche Disziplin so über die innere Menschennatur in Umlauf gesetzt hat, erfreut sich über den Kreis der Fach-Leute hinaus einer ungeheuren Popularität. Mit der Anwendung ihrer Grundsätze verschafft sich mancher „Einblick“ in die tieferen Beweggründe menschlichen Treibens – im beruflichen Alltag, in Sport und Spiel, in der Politik und in den schönen Künsten –, und nicht selten verspricht man sich vom Einsatz psychologischer Weisheiten auf sich und andere einigen Erfolg. Psychologie ist in allen ihren Spielarten „in“ – und was es da nicht alles gibt von der „seriösen“ Therapie, die als kunstvoll erlerntes Handwerk zum Beruf geworden ist, über Zeitschriften, die sämtliche Regungen der modernen Menschheit als psychologischen Fall betrachten, bis zum praktischen Wegweiser für Ängstliche, die Fortschritte in ihrer Karriere oder in der „Kunst des Liebens“ machen möchten!

Dabei sind die Grundsätze des psychologischen Denkens so einfach wie verkehrt.

Das erste Prinzip besteht darin, den Bemühungen und Taten der Individuen ihren objektiven Inhalt und Zweck abzustreiten. Stets handelt es sich, ergreift ein Psychologe das Wort, um eine Auseinandersetzung der Leute mit sich selbst, mit ihrer Natur zugehörigen Kräften und Instanzen, die aber ihre Wirkung so tun, dass sie der Kontrolle des bewussten Willens ganz oder teilweise entzogen sind. So gegensätzliche Schulen wie die Psychoanalyse und die Verhaltenstheorie werden sich da lässig einig. Für einen Freud war es kein Problem, die literarischen Erzeugnisse eines Dostojewski aus seinem Seelenleben samt Kindheit zu deduzieren; ihm waren Liebe und Arbeit, Studium und Kommunismus gleichermaßen als Strategien zur Vermeidung von Unlust geläufig. Und einem Skinner erscheinen Denken und Sprechen, Staat und Religion als lauter Sonderfälle von durch allerlei Variable bedingtem Verhalten, von Prozessen und Mechanismen, die außer dem Verhaltenstheoretiker keiner kennt.

Das zweite Prinzip ist damit schon benannt. Der Mensch mag meinen, er hätte eine Vorstellung von sich und der Welt, würde sich Zwecke setzen und dafür Mittel suchen und schaffen; er mag sich einbilden, einen Verstand nicht nur zu haben, sondern ihn auch ständig zu gebrauchen – die Psychologie belehrt ihn eines anderen: Der freie Wille ist eine Fiktion, es gibt ihn nicht. Aus den in der Tat recht widersprüchlichen bis idiotischen Leistungen des freien Willens verfertigt ein Psychologe genüsslich die Warnung, man solle die „Rolle des Bewussten“ nicht überschätzen – so Freud –, und „erklärt“ das gesamte Treiben der Menschheit als unkontrollierte Äußerung von „unbewussten“ und „unterbewussten“ Kräften. Dabei stört ihn auch nicht die Logik; dem „Unbewussten“ unterschiebt er ohne große Umstände Leistungen des Urteilens, Schließens und der Verstellung, die den bewusst-berechnenden Umgang eines denkenden Subjekts mit der Welt auszeichnen. Die Verhaltenstheorie ist gleich so frei, explizit gegen „mentale Konzepte“ zu Felde zu ziehen und einen „Willen“ per Anführungszeichen für nicht existent zu erklären, weil eine „wissenschaftliche Betrachtung des Menschen“ eben voraussetze, dass „Verhalten gesetzmäßig und determiniert“ sei. Womit ein Skinner sehr direkt auf das Ergebnis zusteuert, das sich auch am anderen Ende des Spektrums psychologischen Denkens einstellt: Ein psychologisch geschulter Kopf und nur er allein kennt die wahren Gründe und geheimnisvollen Hintergründe dafür, dass die Leute arbeiten und essen, spielen und lieben, gehorchen und Verbrechen begehen – während die übrige Menschheit meint und darin irrt, sie würde eben all den bestimmten Tätigkeiten nachgehen, die ihr den lieben langen Tag obliegen oder fällig scheinen.

Das dritte Prinzip besteht ganz einfach darin, dass die Psychologen ganz offiziell gegen jede Erklärung von Empfindungen und Gefühlen, von Bewusstsein und Sprache, eben des freien Willens vorgehen. Das Dogma der psychologischen Weltsicht, in den – noch nicht einmal bewusst vollzogenen – Techniken der Selbstkontrolle, auf die immerzu verwiesen wird, läge der Schlüssel für die Erkenntnis der „eigentlichen“ Zwecke sämtlicher Taten und Untaten, leugnet eben nicht nur den objektiven Zweck dieser Tätigkeiten; auch die psychologischen Formen, in denen die Menschheit ihre Geschäfte abwickelt, werden dabei mit dem größten Desinteresse betrachtet. Die Bestimmungen der Subjektivität, die allgemeinen wie ihre spezielle Betätigung in der bürgerlichen Gesellschaft, interessieren einen Psychologen stets als das, was sie nicht sind – als „Motiv“ und darum auch schon als Grund für alles und jedes. Einerseits macht es den Vertretern des Faches gar nichts aus, wenn sie bekennen, über die Intelligenz, das Bewusstsein, über Sprechen und Denken etc. nur „hypothetische Modelle“ bieten zu können, und öffentlich verkünden, dass sie womöglich gar keinen bestimmten Gegenstand zu beurteilen haben. Andererseits befriedigen die Instanzenlehre eines Freud und die konditionierten Reflexe eines Skinner durchaus die Bedürfnisse moderner Gelehrter nach einem Weltbild: Sie betrachten eben das Kauf-, Arbeits-, Sexual- und politische Verhalten als psychologisch erklärbar. Manche kommen sich dabei sogar ziemlich kritisch vor, wenn sie in der Werbung Manipulation – raffinierte Konditionierung oder Vereinnahmung des Unterbewussten – entdecken; oder wenn sie den unterlassenen Klassenkampf, faschistisches Mitläufertum etc. aus der Hilflosigkeit von Individuen ableiten, die mangels Ich-Stärke und so Zeug gar nicht anders können.

Es ist also durchaus angebracht, über die Aufdeckung der Fehler dieser Wissenschaft hinaus einmal die auf den Kopf gestellte Welt der offiziellen Psychologie und ihrer Anhänger auch in der Politik, der „emanzipatorischen“ zumal, zurechtzurücken; ein Ende zu machen mit dem Geschwätz vom „subjektiven Faktor“ und dem albernen Gerücht von der Vernachlässigung psychologischer Größen durch den Marxismus, das ja noch immer einen Angriff auf die „bloß“ ökonomische Theorie der bürgerlichen Welt einleitet. Warum sollte eine richtige Theorie darüber, wie moderne Individuen ihre Subjektivität betätigen, auch der Kritik der politischen Ökonomie widersprechen? Oder, um das Ergebnis dieser Schrift vorwegzunehmen: eine von falschem Bewusstsein bestimmte Praxis des durchaus freien Willens ist eben nichts anderes als eine Reihe von Veranstaltungen, in denen sich die Individualität den Geboten des Kapitals und seines Staates fügt. Es bedarf keineswegs einer Leugnung der Freiheit, und schon gar nicht der mühsam zusammenkonstruierten Macht des Un-Bewussten, um das Gelingen von Herrschaft und Ausbeutung auf dem Globus verständlich zu machen. Und die Tatsache, dass sich das „Individuum“, das bei allen kritischen Menschen so hoch im Kurs steht, für alles hergibt und sich vieles gefallen lässt, was seine Verehrer verabscheuen, ist weniger ein Grund für seine Verehrung als für gewisse Zweifel an seinem und seiner Verehrer Geisteszustand: Verständnis für das falsche Bewusstsein ist das glatte Gegenteil von Wissen um seine Gründe, seine Notwendigkeit. Solange sich die Geschädigten der bürgerlichen Ordnung lediglich als lauter kleine „Ensembles der gesellschaftlichen Verhältnisse“ aufführen, haben sie logischerweise auch Gegenstand der Kritik zu sein.

Schließlich sei an dieser Stelle noch darauf hingewiesen, dass das hier analysierte moralische Bewusstsein und die von ihm erfundenen Techniken der Moral nichts weiter darstellen als die Formen, in denen sich die Individuen an der bürgerlichen Herrschaft abarbeiten, um sie auszuhalten. Dass aus den Leistungen der Individuen in dieser Hinsicht der „Schluss“ gezogen wird, die bürgerliche Ordnung entspreche haargenau der „Menschennatur“, wie sie nun einmal sei, ist ein Witz, den Ideologen durch die einfache Vertauschung von Grund und Folge schon lange beherrschen. Die Umkehrung dieses Witzes, der Kapitalismus widerspreche der „Menschennatur“, sei ziemlich „unmenschlich“ und lasse echte Individualität nicht aufkommen, ist aber nicht minder doof. Was vom Standpunkt einer rationellen Psychologie gegen beide Ideologien zu sagen ist, lässt sich der vorliegenden Schrift leicht entnehmen.

© 2018 Gegenstandpunkt Verlag

Teil I:
Das moralische Individuum – Wie funktioniert ein abstrakt freier Wille?

„... und Abstraktionen in der Wirklichkeit geltend machen, heißt Wirklichkeit zerstören.“ (Hegel)

Das Abstrahieren gilt mit Recht als eine selbstverständliche Tätigkeit verständiger Individuen. Wenn wir die Bestimmungen einer Sache voneinander scheiden, so wissen wir sehr wohl, dass die von uns wahrgenommenen Teile, Unterschiede, Eigenschaften und Momente gerade in ihrer Einheit den theoretisch interessierenden Gegenstand ausmachen. Wenn wir nach der Sonderung der verschiedenen Seiten zum Urteilen und Schließen fortgehen, dann ist es uns um den Zusammenhang des getrennten Arsenals von gefundenen Bestimmungen zu tun, und dies nicht in Form einer Aufzählung, sondern logisch. Das Wie und Warum führt uns zur Einsicht in die Beschaffenheit, zum Grund dafür, dass der Gegenstand unserer denkenden Bemühung so und nicht anders vorliegt, funktioniert und wirkt. Über Abstraktionen kommen wir Gesetzen und Zwecken auf die Spur, die in Natur und Gesellschaft gelten und sich durchsetzen. Wenn dabei Fehler gemacht werden, so sind sie an den logischen Widersprüchen der Theorien kenntlich. Im Nachvollzug von Argumenten ermitteln wir deren Stimmigkeit oder Falschheit, auch die Berechtigung von Abstraktionen. Gelegentliche Irrtümer unterscheidet man von Fehlern, deren „konsequente“ Fortsetzung in den modernen Geistes- und Gesellschaftswissenschaften zu ganzen Theoriegebäuden herangereift ist und sich stets Interessen verdankt, die den Gegenstand des Denkens parteilich zu bestimmen gebieten, ihn auf allerlei fromme und weniger fromme Absichten beziehen lassen und die Urheber der Theorien zu Behauptungen über die Eigenart ihres Gegenstandes beflügeln, die mit dessen Grund und Zweck partout nichts zu tun haben. Aber der Zustand der modernen Wissenschaft, ihre keiner Objektivität verpflichteten Abstraktionen sind kein Einwand gegen das Abstrahieren und kein Anlass für die Verdammung des „abstrakten Denkens“, mit dem manchem kritischen Geist zufolge das Böse in die Welt gekommen sein soll. „Abstrakt“ und „konkret“ sind für sich genommen zwei ganz unschuldige logische Kategorien, und ihre im vulgärwissenschaftlichen Volksmund übliche Verwendung für schlecht und gut, tot und lebendig, unwirklich und furchtbar real ist dumm, weil ein Argument gegen das Denken – also immer eine contradictio in adiecto.

Über theoretische und praktische Abstraktionen

Seit Hegel gibt es die Redeweise von Abstraktionen, die in der Wirklichkeit geltend gemacht werden oder praktisch vollzogen sind. Marx hat kein Problem darin gesehen, gewisse von ihm entdeckte Gepflogenheiten des bürgerlichen Lebens ebenso zu kennzeichnen. Im Geld ermittelte er die abstrakte Form des Reichtums, wie er für die kapitalistische Produktionsweise charakteristisch ist: getrennt von allem wirklichen Reichtum existiert der Wert selbständig und im Gegensatz gegen den Gebrauchswert, seine Grundlage, die ihm und seiner Vermehrung zum Opfer fällt (Krise); in der Lohnarbeit sah er die Verausgabung von abstrakter Arbeit, die dem Zweck der Kapitalverwertung dient und auf der Trennung des Arbeiters von den Mitteln der Arbeit beruht, den Lohnarbeiter zur lebenslangen Funktion einer Arbeitskraft erniedrigt, die sich den Konjunkturen des Kapitals – so tritt der gegen die Produzenten verselbständigte Reichtum auf – entsprechend verschleißt und ihre Selbsterhaltung ständig in Frage stellen lassen muss. An den beiden angeführten Fällen wird deutlich, dass „Abstraktionen in der Wirklichkeit geltend gemacht“ nicht gerade die gemütlichsten Sachverhalte darstellen: da wird die Trennung gewisser Leute von den ihnen eigentümlichen, ihren Existenzbedingungen praktiziert – eine Angelegenheit, die mit theoretischem Abstrahieren schwerlich zu machen ist, und sei es noch so falsch. In der Welt der kapitalistischen Warenproduktion ist das Geld das Mittel, an sämtliche Gegenstände des Bedarfs wie Genusses heranzukommen, und eben dieses Mittel beschränkt eine ganze Klasse in dem Bemühen, des gesellschaftlichen Reichtums teilhaftig zu werden. Der Ausschluss von den Produktionsmitteln, die als fremdes Eigentum Mittel ihrer gewinnbringenden Anwendung sind, verweist die Lohnarbeiter auf Arbeit fürs Kapital als den Weg, ihren Lebensunterhalt zu bewerkstelligen – und in der Verrichtung und den Folgen dieser Arbeit gewahrt er, dass erstens seine Kasse immer leer bleibt, zweitens die kontinuierliche Zerstörung seiner Arbeitskraft stattfindet – weil die Reduktion auf die für das Kapital erforderlichen Dienste so einem Menschen gar nicht gut bekommt – und drittens seine bloße Beschäftigung noch nicht einmal garantiert ist.

 

Vom untertänigen Gebrauch des freien Willens

Mit den ökonomischen Verhältnissen des Kapitalismus, also all den Verlaufsformen, die eine reale, praktisch an leibhaftigen Individuen vollzogene Abstraktion aufweist, befasst sich die Ökonomie; mit der Gewalt, die zur Aufrechterhaltung des ökonomischen Betriebs dieser Sorte vonnöten ist, die Theorie des bürgerlichen Staates, der politischen Herrschaft, die darüber wacht, dass sich die Betroffenen auch immer alles ganz manierlich gefallen lassen. Wie es die Nutznießer und vor allem die Opfer von kapitalistischer Ökonomie und bürgerlicher Politik anstellen, dass sie den ihnen zugestandenen freien Willen nicht anders handhaben als zum angestrengten Mitmachen, davon handelt eine Psychologie des bürgerlichen Individuums. Eine solche Theorie leugnet nicht die Freiheit der modernen Demokratie und ihrer Opfer, also auch nicht den freien Willen, von dem schon Hegel zu Recht bemerkt hat, dass seine Bezeichnung ein Pleonasmus ist; sie klärt, worin die Freiheit besteht, wie schäbig sie beschaffen ist und welchen hohen Zwecken – mit den kleinlichen Interessen gewöhnlicher Leute hat sie in der Tat wenig zu tun – sie entspricht. Allerdings erklärt eine Psychologie dieser Art nicht noch einmal Mehrwert, Stücklohn, fixes Kapital und Zins, auch nicht den Rechtsstaat, dessen Finanzhoheit und Parlament, sondern eben – weil sie Psychologie ist – die subjektiven Prozeduren, das, was ein frei entscheidendes Subjekt in seinen Gefühlen, Anschauungen und Gedanken leistet, um seine Unterwerfung unter den kapitalistischen Zirkus, sein Mitmachen, immerzu als alleiniges und wohlbegründetes Werk seines Willens erscheinen zu lassen. Psychologie des bürgerlichen Individuums ist diese Wissenschaft darin, dass sie nicht die formellen Bestimmungen der Subjektivität in ihrer Allgemeinheit, wie sie auch zu anderen Zeiten und in anderen Umständen entwickelt sind, herunterleiert: sie erklärt den bestimmten Gebrauch, den Leute in der kapitalistischen Produktionsweise von ihrem Verstand machen, die besondere Sorte von Gefühlen, deren Inhalt, wie er hier und heute normal ist. In Gestalt einer Ableitung vorgetragen, befasst sich vorliegende Schrift mit der Verlaufsform des Widerspruchs, der im Begriff des abstrakt freien Willens gefasst wird: Wie bringt es ein (freier) Wille fertig, seine eigenen Voraussetzungen: Gefühl, Bewusstsein, Sprache, Verstand so einzurichten, dass er sich aufgibt? Wie gelingt es Individuen, die per Ausbildung zu allerlei Kenntnissen und Fertigkeiten angehalten werden, damit sie im bürgerlichen Getriebe durch allerlei Leistungen ihr Interesse realisieren können – oder umgekehrt ausgedrückt: damit sie sich aus ihrem Interesse heraus nützlich machen –, mit allen Beschränkungen des Kapitalismus und der modernen Demokratie fertig zu werden und brav dabei zu bleiben? Um die Beantwortung dieser Frage ist es zu tun, was nicht zu verwechseln sein dürfte mit der Klärung einer ganz anderen, welche die bereits erwähnten Theorien über die kapitalistische Ökonomie und die ihr entsprechende politische Herrschaft erledigen: Warum geht es so zu? Wer in den moralischen und psychologischen Techniken der Individuen den Grund für Nudel-, Auto- und Rüstungsproduktion, für den Bau von U-Bahnen, Stauseen und Schulen ausmachen will, hat bestenfalls ein Menschenbild, das dann als Subjekt von allen Entscheidungen und Werken fungiert, die so zustandekommen. Dass irgendetwas passiert, weil die Menschen „so sind“ und Subjektivität bei der Gattung homo sapiens nun einmal „so beschaffen“ ist, blamiert sich als Erklärung schon vor der schlichten Tatsache, dass die Subjekte der Entscheidungen, die den Globus so wohnlich machen, ganz andere sind als die, welche dann zu Werke gehen müssen und die idiotischsten Meinungen darüber als ihre Freiheit feiern...

Freilich ist damit nicht gesagt, dass die objektiven Verhältnisse, in denen sich das moderne Individuum so furchtbar individuell gibt, nicht zur Sprache kommen. Als das, woran es sich anpasst, worin es sich bewähren will, kommt der bürgerliche Zirkus immerzu vor – selbst im ersten Teil, wo in getreuer Befolgung des Prinzips „vom Abstrakten zum Konkreten“ die allgemeinen, immerzu präsenten, weil „befolgten“ Grundsätze bürgerlich-freien Gehorsams analysiert werden, sind die gegenwärtig im Amt befindlichen Subjekte der Geschichte, Kapital und Staat, nicht ganz vergessen worden. Einerseits erscheinen sie als die Voraussetzung für das schlechte Benehmen auch der „Volksmassen“, die nicht nur Brecht per Gedicht zum „eigentlichen“ Subjekt küren wollte. Andererseits lässt sich das falsche Bewusstsein samt seinen Winkelzügen auch in seinen noch so abstrakten Bestimmungen nicht darstellen ohne Erwähnung der gesellschaftlichen Verhältnisse, für die es notwendig ist. So gut es allerdings ging, haben wir die Erinnerung an das, womit sich so ein Subjekt herumschlägt, im Dunkeln belassen, und zwar ganz einfach im Interesse der (zum letztenmal:) abstrakten, von ihrer Durchführung noch „unberührten“ Bestimmung der armseligen „Bewegungsgesetze“ der heutigen Seele.

© 2018 Gegenstandpunkt Verlag