Dionysische Nächte

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Dionysische Nächte
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DIONYSISCHE NÄCHTE

ANTHOLOGIE

HERAUSGEGEBEN VON

JUNG WIEN ’14

ENGELSDORFER VERLAG

LEIPZIG

2017

IMPRESSUM

Erste Auflage

Leipzig, 2017

Herausgegeben von der

Autorenvereinigung Jung Wien ‘14.

https://jungwien14.com

Alle Rechte vorbehalten.

Nachdruck, auch auszugsweise, verboten.

Typographisches Konzept

Julia-Dominique Krammer | signatura

Coverbild

Julia-Dominique Krammer

Illustrationen

Julia-Dominique Krammer, Anna Maltschnig

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2017) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

VORWORT

Als ich im September 2014 nach Wien kam, gab es in dieser Stadt mit ihrer so reichen literarischen Tradition keine Gruppe für junge Autoren außerhalb der Universität. Was tut man in so einer Situation? Man gründet selbst eine! Nach und nach sind mehr und mehr schreibende junge Talente dazugekommen, so dass wir nun äußerst begabte Mitglieder wie Thomas Aiginger (Kaspar: Die Welt, aus der die Wolken kamen, 2014), Katharina Goetze, Markus Grundtner, Julia-Dominique Krammer, Anna Maltschnig, Julian Morgenbesser, Christoph Reicho (Schlaraffenland, 2016) und Constantin Schwab zu unserem Kreise zählen dürfen.

Wir haben zusammen die Kaffeehäuser und kleinen Bühnen der Stadt mit unseren ebenso dramatischen wie heiteren Lesungen unsicher gemacht, was darin gipfelte, dass wir nun ein permanentes zweimonatliches Programm im Salon Schräg gestalten dürfen. Diese Lesereihe, Wortsteinschwalben, sprengt das Konzept der traditionellen Wasserglaslesung, indem drei Jung Wiener und ein Gastautor/eine Gastautorin maximal zehn Minuten lesen und auf jeden Text ein Musikstück folgt. Wer das noch nicht gesehen hat, sollte sich den nächsten Termin nicht entgehen lassen.

In unserer ersten gemeinsamen Veröffentlichung stellen wir Graphisches und Literarisches zum Schlagwort „Dionysische Nächte“ vor, in Prosa und Lyrik. Einige Texte sind eigens für die Anthologie geschrieben worden. Ich freue mich sehr, so viele herausragende, zum Teil noch unveröffentlichte junge Autoren in der Gruppe, und so viele ausgezeichnete Texte in unserem Sammelband zu haben. Mein Dank gilt Julia-Dominique Krammer und Anna Maltschnig für die graphische Gestaltung unseres Buches, und Julia insbesondere für ihre große Hilfe bei Planung und Layout. Des Weiteren Dank an alle, die Geschichten beigesteuert haben, an die großartigen Mitglieder von Jung Wien ’14, an den Engelsdorfer Verlag und alle, die uns unterstützen – insbesondere an Martin Schwarz vom Salon Schräg!

Möge dies erst der Anfang einer glänzenden literarischen Zukunft sein, die unsere wunderschöne Stadt Wien bereichert. Viel Freude beim Lesen!

Max Haberich

Wien, im März 2017


ÜBER STUNDEN, ÜBER MENSCHEN
Die Anwaltsserie

Dion war ein Gott unter den Systemadministratoren. Er brauchte keine Zustimmung eines Mitarbeiters, sich auf einen Computer zuschalten zu dürfen, um ein Problem zu beheben. Er hatte Augen und Ohren an jedem Schreibtisch der Kanzlei. Die Kameras, die in die Monitore integriert waren, zeigten ihm alle Bildschirmarbeiter beim Tippen, Telefonieren und Trödeln. Die Mikrofone der Computer übertrugen zur Untermalung das Sprechen, Seufzen und Summen.

Dion war zu jeder Tageszeit per E-Mail erreichbar. Er war im Büro allgegenwärtig. Gleichzeitig konnte niemand sagen, wo sich sein Schreibtisch befand. Ob diese rätselhafte Omnipräsenz menschenmöglich war, stellte in der Anwaltsbranche keine relevante Frage dar. Die täglichen Massen an Arbeit waren ohne Erklärungen, Nachfragen oder Entschuldigungen zu erledigen. Was zählte, war das Ergebnis.

Die technischen Komplikationen der Computer löste Dion mit dem kleinen Finger. Hauptsächlich genoss er das flimmernde und krachende Mosaik des Kanzleitreibens durch seine allsehenden Kameras. Es begann mit den Flüchen des Reinigungspersonals und den ersten Intrigen des Sekretariats am Morgen. Bald danach tauchten die Juristen auf, die wenige Stunden zuvor nachhause gefahren waren, um ihre Anzüge und Kleider für den nächsten Arbeitstag zu wechseln. Sie schrieben ihre E-Mails und erhielten Antworten. Dion las alles davon, um sein Bild zu vervollständigen.

Seit geraumer Zeit musste er mit Bedauern feststellen, dass die juristischen Aufgaben so begeistert abgefertigt wurden wie Arbeitsaufträge in Zeiten der Fließbandarbeit. Jedes rechtliche Anliegen war ein neues Ärgernis, das die Erschöpfung und Frustration der Rechtskundigen steigerte. Dabei stand hinter den Konvoluten an Dokumenten und hinter den Rechtsfragen immer eine Geschichte, die erzählt werden musste, aber stattdessen unentdeckt zu den Akten gelegt wurde. Mit jeder neuen Verschwendung missfiel Dion seine Rolle als Beobachter umso mehr. Er hasste die Ordnung um der Ordnung willen. Was er vermisste, waren der Rausch und der Schöpfungsdrang – ja, eine Spannung und eine Komik, die alle Formen sprengte.

Es fehlten die passenden Anweisungen an die Akteure. Nur ein Regisseur konnte diese erteilen. Lange war es her, dass er sich in die Geschicke einfacher Menschen eingemischt hatte. Bei nächster Gelegenheit wollte er deren Alltag aufbrechen und kreativ ordnen.

Die Kanzlei und die Ziegelfabrik

Die zwei Hochhäuser mit Fassaden aus grün getöntem Glas ragten wie Wachtürme an der Stadtgrenze in den Himmel. In einem der Hochhäuser beanspruchten die Juristen von „Stahl & Graf“ und deren administrative Handlanger ein ganzes Stockwerk für sich. In der nahen Zukunft würde die Mannschaft auch den Zwillingsturm entern, welcher in den höheren Stockwerken über Verbindungsstege zu erreichen war.

Die Juristen besetzten die Bürozellen an den Glasfronten, die einen Ausblick auf die ausufernde Stadt und die Dörfer in der Ferne freigaben. Der Gebäudekomplex stand auf der Spitze eines Bergrückens, der „Ziegelberg“ hieß. Der Name ging zurück auf die Ziegelei, welche hier als erstes der heute hier ansässigen Unternehmen ihren Sitz gehabt hatte. Im 19. Jahrhundert erstreckte sich auf dem Gelände die größte Ziegelfabrik Europas. Außerdem gab es Wohnhäuser für die Arbeiter und „Kinderbewahranstalten“, für deren Nachwuchs. Vor nicht einmal 60 Jahren lohnte sich der Abbau von Lehm jedoch nicht mehr. So wurde Land frei, das die Stadtregierung für sich in Anspruch nahm, um es als Deponie für Abfall und Schutt verschiedenster Herkunft zu nutzen. Nach einem städtepolitischen Umdenken entstand auf ebendiesem Boden ein bewaldetes Erholungsgebiet mit Golfplatz, Teichen und Tennisanlagen, aus dem mittendrin die beiden Bürotürme, mehrere Wohnhausblöcke und ein Unfallkrankenhaus herausragten.

Der Ziegelproduzent war auch der größte Mandant von „Stahl & Graf“: Das staatsnahe Unternehmen orientierte sich nach der Schließung der Fabrik jedoch auf dem Markt nicht neu. Weitere Werksschließungen und Stilllegungen folgten, die kostspieliger waren als notwendig. Übrig blieb ein Schuldenberg, den es nun galt, Stein für Stein abzutragen. Der Mandant hieß daher auch „die Abbaugesellschaft“. Dies war juristisch nicht korrekt, aber passend.

Die Juristen in ihren Glaskästen interessierte die Vorgeschichte nicht, die Details des Restrukturierungsplans und drohende Gläubigerprozesse vereinnahmten ihr Denkvolumen. Jeder von ihnen hatte seinen eigenen abgesteckten Bereich – Arbeitsrecht, Prozessrecht und Insolvenzrecht – und sie alle wiederholten auf ihrem Gebiet ihre Schriftsätze und Memoranden nach vorliegenden Mustern. Vielfalt sah anders aus.

Auf den ersten Blick unterschieden sich auch die Bürozellen nicht, in denen sie stundenlang hockten. Seit Längerem brachte das „Facility Management“ keine Namensschilder mehr an. Die Personalfluktuation rechtfertigte den Aufwand nicht. Das einzige, aber wesentliche Unterscheidungsmerkmal zwischen den Arbeitsplätzen der Juristen war, dass die Gründungspartner der Kanzlei Anspruch auf ein Eckbüro hatten. Sie hatten damit einen weitläufigeren Ausblick und saßen hinter einer Milchglastür. Jedoch blieben diese Büros in der Regel leer, weil die Partner Auswärtstermine wahrnahmen oder von zu Hause aus ihre Arbeit erledigten. Die Rechtsanwaltsanwärter und Rechtsanwälte saßen dagegen hinter Schiebetüren aus Glas. Ihre Aufgaben verrichteten sie in der Gewissheit, unter ständiger Beobachtung von Kollegen und Vorgesetzten zu stehen. Während sie also so vor sich hin werkten, zogen sie – nach einer Zurechtweisung oder aufgrund der Gesamtsituation ihres Daseins – in Richtung ihres Bildschirms böse Grimassen. Sie lebten in dem Glauben, dass sie nur in ihrem Rücken Augen hatten.

 

Im Zentrum des Stockwerks, und damit beschienen durch künstliches Licht, verteilten sich die Mitarbeiter der Buchhaltung und des Sekretariats auf zusammengewürfelte Büroeinheiten. Ihre Schreibtische waren von Trennwänden begrenzt, enge Gänge ausgelegt mit grauem Teppichboden verbanden die Arbeitsplätze.

Obwohl es auf den ersten Blick nicht so schien, gab es in den unendlichen Weiten des Großraumbüros eine Hierarchie. Nur war sie in eine einzige Ebene ineinander gefaltet worden.

Die Abrechnung

Jonathan Kramers Leben war eine Abfolge von „To-do“-Punkten, er führte ein Listenleben. Die Momente zwischen seiner Arbeit als Konzipient reservierte er für seine Familie, welche sich im Gründungsstadium befand. Seine Listen unterteilte er in Berufliches und Privates. So vergaß er nie eine Erledigung, etwa die Anzughemden aus der Reinigung zu holen oder zur Taufe seines Sohnes zu erscheinen. Da immer neue Aufgaben hinzukamen, war seine Liste unendlich. Wie viele unterlag er der Illusion, dass es mit seinem Leben nicht anders sein würde.

An jedem Abend in der Kanzlei blickte er auf die vergangenen Stunden zurück und rechnete ab. Erledigtes strich er mit einem Lineal durch. Neben die einzelnen Aktenzeichen hatte er die Dauer der Bearbeitung notiert. Er übertrug die Zahlen in die digitale Aktenverwaltung. So verwandelte er Minuten in Geldbeträge. Durch die Abrechnung bekam seine Zeit einen Wert. Die Leistungsliste war in Wahrheit ein Fantasieprodukt wie der Punktestand eines Videospiels. Sie verschaffte ihm kein zusätzliches Gehalt. Dafür verspürte er ein flüchtiges Hochgefühl, ein „Lawyer’s High“. Es war die Ekstase des Angestellten, der nicht wusste, woher er sich Kokain beschaffen sollte.

Jonathan brauchte diesen Rausch für seine Tatkraft. Während in den Großraumbüros der Konzerne die Mehrheit der Kopfarbeiter ihre Arbeitsplätze verließ, begann für Jonathan die Nachtschicht. Er musste noch einiges abarbeiten, was bis „close of business“, also heute noch, fertig zu sein hatte. Gerade als angehender Experte im Arbeitsrecht hätte er seinen Dienstvertrag genauer lesen sollen. Laut diesem galt hinsichtlich seiner Überstunden eine „all in“-Klausel. Und „all in“ hatte ihn die Kanzlei verschlungen.

Jonathan stand aus seinem Sessel auf und streckte sich. Er trat ins Zentrum des Stockwerks und ging durch die Kanzlei, als wäre es seine eigene – mit erhobenem Haupt und eingezogenem Bauch. Insgeheim hoffte er, so bald mit der Arbeit fertig zu sein, dass ihn das Reinigungspersonal nicht schon wieder frühmorgens aus seinem Büro vertreiben würde.

Die Anwesenheitspflicht

Tom Nietzsch lehnte sich in seinem Bürosessel weit zurück, warf eine Walnuss in die Luft und fing sie mit seinem Mund auf. Dann zog er seine Schuhe aus. Seine Krawatte und sein Sakko hingen längst am Bücherregal.

Jonathan ging an Toms Büro vorbei und hob den Arm ungelenk zum Gruß. Jonathan erinnerte Tom an einen Nussknacker, der laufen gelernt hatte. Das lag weniger an Jonathans steifem Gang, Tom aß derzeit einfach so viele Nüsse als Kraft- und Hirnnahrung. Tom nickte ihm verschmitzt zu. Als Jonathan vorbeigegangen war, schüttelte Tom den Kopf: Jonathan hatte sich in den letzten Monaten schrecklich gehen lassen. Sein Slimfit-Hemd tat sein Möglichstes, um nicht zu platzen. Tom notierte sich gedanklich, Jonathan demnächst vor versammelter Mannschaft zu fragen, ob er auch beim Stadt-Triathlon im Kanzlei-Team mitmachen würde.

Er schmunzelte, dann klatschte er in die Hände, um sich wieder zu konzentrieren. Er hatte es fast. So murmelte er vor sich hin: „Wenn Anlageberater vollständig aufklären, …“ Auf den Zehenspitzen drehte er sich mit seinem Sessel im Kreis. Er wiederholte: „Wenn Anlageberater vollständig aufklären, …“ Dann formte er mit den Lippen stumm den zweiten Halbsatz, ging den Reim im Kopf noch einmal durch, um ihn laut auszusprechen: „Wenn Anlageberater vollständig aufklären, dürfen sich Kunden nicht beschweren.“

Tom schrieb sich den Reim auf ein Post-It und holte seine Sporttasche unter dem Schreibtisch hervor. Sein Tagwerk war vollbracht. Er vertrat den zweitgrößten Mandanten der Kanzlei, ein Vermögensberatungsunternehmen, in einem Verfahren, das geschädigte Anleger angestrengt hatten. Für die nächste Verhandlung hatte er nach einem markigen Spruch gesucht, welcher die Angelegenheit einfacher erschienen ließ, als sie war. Da die Gegenseite sich auf richtige, aber komplizierte Rechtsausführungen verließ, vertraute er darauf, so simpel wie möglich zu bleiben und auch den einen oder anderen Reim zu platzieren. Reimende Formulierungen veredelten die schwachsinnigsten Argumente und befestigten die aussichtslosesten Standpunkte. Ihm spielte diese Taktik in die Hände, Tom äußerte nie ein Wort mehr, als nötig war.

Als er seine Sportschuhe aus seiner Tasche nahm, fiel sein Blick auf seine Armbanduhr. Er knurrte entnervt: Wie so oft hatte er nichts mehr zu erledigen, aber ins Fitness-Center konnte er trotzdem nicht gehen. In den Wirtschaftskanzleien dieser Welt hatte sich ein Gewohnheitsrecht herausgebildet: Wer nicht mit seiner Arbeit überfordert war, machte sie falsch oder zu wenig davon. Wer demnach abends nicht länger blieb, leistete fehlerhaft oder nicht genug. Tom hatte noch ein paar Stunden „Facetime“ vor sich. Sprich: Anwesenheit nur um der Anwesenheit willen.

Um auszudrücken, dass er es hasste, trotz getaner Arbeit Büropräsenz zeigen zu müssen, schrieb er eine E-Mail an seine Kollegen aus dem Team „Dispute Resolution“, welches auch liebevoll „Streitabteilung“ bezeichnet wurde. Die Nachricht bestand aus einem Smilie, das Kaffee trank. Gäbe es „Emoticons“ nicht seit mehreren Jahrzehnten, der wortkarge Tom hätte sie eigens erfunden. „Er drückte auf „Senden“. Während die Nachricht die Runde machte, fielen ihm aus seinen Augenwinkeln die Lichter eines Helikopters auf, der durch den Abendhimmel draußen vorbeizog.

Die Streitabteilung

Dion trommelte gespannt mit den Fingern auf seinen Schreibtisch. Er hatte die Kamera-Feeds von den Bildschirmen der streitigen Juristen nebeneinander aufgereiht. Nun hatte er eine Galerie künstlich angespannter Gesichter vor sich. Sie zeigten erst wahre Emotion in dem Moment, als Toms Nachricht bei ihnen einlangte. Die Mienen verzogen sich zu Fratzen der Verachtung, um sogleich wieder in vorgetäuschte Gedankenversunkenheit zu verfallen.

Dion konnte vieles, aber nicht Gedanken lesen. Doch ihre Überlegungen waren offenkundig: Natürlich würden sie nicht auf einen Kaffeeplausch gehen. Sie saßen abends und nachts nicht im Büro, um Spaß zu haben. Sie saßen abends im Büro, um so zu tun, als würden sie arbeiten. Sie wollten Karriere machen. Vorläufig war es hauptsächlich eine in Schauspielerei.

Schauspieler. Die kannte Dion. Daher sah er in einem der Gesichter auch echte Fokussiertheit. Es zeigte keinerlei Regung angesichts der E-Mail. Es war die ungerührte Miene von Larissa Hartinger.

Kürzlich hatte sie die Anwaltsprüfung bestanden und betraute nun die „Abbaugesellschaft“ in prozess- und insolvenzrechtlicher Hinsicht. Der Ziegelfabrikant war ein Selbstbedienungsladen für die Politik und dessen Freundeskreis gewesen. Und nun waren die gleichen Politiker (a.D.) in beratender Funktion für die Gläubiger tätig, welche ihre Schulden einforderten – notfalls auch gerichtlich. Beratungshonorare und Anwaltskosten erhöhten die Geldbeträge, die im Spiel waren, so als liefe ein Taxameter immer weiter und weiter.

Auf der einen Seite des Schlachtfelds stand die Gläubiger-Meute, auf der anderen Seite Larissa. Dank der beratenden Ex-Politiker hatten die Geldgeber einen Vorteil, wenn auch nur einen geringen. In Larissas Lebenslauf gab es keine Kinkerlitzchen wie Auslandsstudien oder einen Doktortitel: Auf das Studium im Eiltempo folgte das Gerichtsjahr, dann die Konzipientenzeit und zum frühestmöglichen Termin die Anwaltsprüfung. Sie wusste, was sie sie wollte und was sie konnte. Sie ließ sich von nichts und niemandem ablenken. Deshalb zählte sie zu den „Besten der Besten der Besten“.

Nachdenklich strich Dion über seinen Backenbart. Es war Zeit, auf dem Gleis, auf dem Larissas Leben dahinlief, eine Weiche umzustellen. Dion fälschte eine E-Mail an sie: Der Vorstandsvorsitzende der Abbaugesellschaft erteilte ihr einen Auftrag, der aus der Reihe fiel.

Ein Kaffee am Abend

Tom stand alleine am Stehtisch in der Kaffeeküche. Per Smartphone sandte er einen Totenkopf an seine Team-Kollegen. Dann nahm er sich Kaffee und fischte einen grünen Apfel aus dem Obstkorb. Mit der freien Hand durchstöberte er die Lesezeichen in seinem Smartphone-Browser: Er recherchierte gründlich, er wollte bei nächster Gelegenheit am anderen Ende der Welt Bungee-Springen.

Larissa hetzte vorbei: Mit einer Hand tippte sie auf ihr Smartphone-Display, in der anderen hielt sie eine Dose „Red Bull“. Tom biss in den Apfel, kräftig und lautstark wie in einem Werbespot für Zahnpasta. Mit fahrigen Augen blickte sie auf und hauchte ertappt: „Oh.“ Ihr Telefon zog sie vorwärts wie eine Wünschelrute, ihre guten Manieren hielten sie zurück. So als wandte sie große Kraft auf, nicht weiterzugehen, gesellte sie sich zu Tom.

„Der Mandant ist mühsam“, brummte sie. Tom hob die Schultern, wie um ihr beizupflichten und zu sagen: „Das sind sie immer.“ Larissa trank ihr „Red Bull“, das fast voll war, in einem Zug aus. „Unglaublich mühsam. Die Abbaugesellschaft eben. Eine Katastrophe jagt die andere.“ Mit ihren Händen fuhr sie mehrmals über ihre aschblonden Haare. Sie waren straff zu einem hoch sitzenden Pferdeschwanz zurückgebunden. Es wirkte, als wollte sie einzelne Haare einfangen, die sich befreit hatten. „Der Auftrag ist derart rätselhaft. Wir durchstöbern sogar das Archiv nach alten Akten.“

Tom fragte: „Wen meinst du mit ‚wir‘?“

„Den Praktikanten.“

Toms Mundwinkel zuckten. Er wusste selbst nicht, ob es der Ansatz eines Lächelns war oder eine kurze Regung der Abneigung. Er war sich unsicher, ob sie einen Witz machen wollte. Larissa verwirrte ihn. Nicht nur in dieser Hinsicht.

Ein süffisantes Pfeifen riss ihn aus seinem Grübeln.

Die Ratten

Stephan Edel näherte sich triumphierend. Er stemmte drei dicke Akten über seinen Kopf. Staub und feinste Papierschnipsel rieselten auf die Schultern seines marineblauen Marken-Sakkos herab.

Stephan kam an drei Abenden in der Woche in die Kanzlei. Er war immer „overdressed“. Da er der Praktikant für alles war, hätte er eine fleckige Latzhose anhaben können, doch er sah aus, als würde er beim Fernsehgericht auftreten. Er trug seine Nadelstreifenanzüge nie ohne Krawatte und dazu immer ein seidenes Stecktuch in der Brusttasche. Schuhe, Gürtel und Ledertasche stammten aus Italien und waren im Farbton penibel aufeinander abgestimmt. Seine Manschettenknöpfe waren Paragraphenzeichen aus Edelstahl. Niemand wusste, was er außerhalb der Kanzlei tat. Stephan verwies immer wieder darauf, dass seine letzte Prüfung kurz bevorstand. Das sagte er seit gut zwei Jahren.

Mit stolzem Grinsen legte Stephan die Akten vor Larissa. Sie wies auf ihr Büro. Während er die Akten zu ihrem Schreibtisch trug, fragte er: „Ist der Vorstand wieder unvernünftig? Soll ich mit ihm reden?“ Stephan machte sich auf schallendes Gelächter gefasst, doch Larissa gab ihm eine Antwort, die ihm fast kollegial vorkam.

„Könnten diese Menschen ihre Probleme durch Reden lösen, bräuchten sie uns nicht.“

Stephan nickte. Er fühlte sich kurz wie einer von ihnen. Dann erinnerte er sich, dass er heute noch eine Spezialaufgabe für den Partner aus dem Arbeitsrecht erledigen musste. Er ging zur Anrichte und holte den Transportkäfig unter dem Spülbecken hervor. Der Futter-Ratte ging es gut.