Fachbewusstsein der Romanistik

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I. Theorien und Methoden
Selbstdarstellungen der Romanistik während der Gründungsphase, um 1900 und nach 1988

Johannes Kramer

1 Die Aufgaben der philologischen Arbeit

Die Romanistik gehört zur Gruppe der neuphilologischen Fächer, die im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts entstanden, wie auch die Indogermanistik, die Germanistik und etwas später die Slavistik. Wenn man die Veröffentlichung des ersten Bandes der Grammatik der romanischen Sprachen von Friedrich Diez im Jahre 1836 als „Geburtsstunde“ der wissenschaftlichen Romanistik ansieht (Swiggers 2014, 48), so ist dieser Zweig der Wissenschaft etwa 180 Jahre alt, damit ein Menschenalter jünger als die Germanistik, wenn man deren Beginn mit dem ersten Band der Deutschen Grammatik von Jacob Grimm im Jahre 1819 ansetzen will, aber deutlich jünger als die Klassische Philologie, die mit den Forschungen der alexandrinischen Gelehrten am von Ptolemaios I. (367–283 v. Chr.) gegründeten Museion der Stadt begann (Pfeiffer 1970, 125–132) und die somit auf eine mehr als zweitausendjährige Geschichte zurückblicken kann.

Was man freilich mit der sprachlichen Arbeit an älteren Texten erreichen wollte, das hat sich seit der Zeit der Alexandriner nicht verändert: Man arbeitete sich an Texten wie den homerischen Epen ab, die lange vor der eigenen Zeit entstanden waren, in einer anderen gesellschaftlichen Umgebung und in verschiedenen literarischen Traditionen. Nach einer heutigen Einführung in die klassische Philologie gab es drei Hauptaufgaben:

Man musste versuchen, 1. In den Texten Echtes von Unechtem zu scheiden; 2. die Eigenheiten der fremden Sprachform festzustellen; 3. Schwierigkeiten des Textverständnisses zu klären“ (Jäger 1975, 11). Die Verständnisschwierigkeiten bei älteren Texten mussten in drei Bereichen überbrückt werden: „1. Es kann sich darum handeln, den authentischen Wortlaut des Textes zu ermitteln (Textkritik und Editionstechnik); 2. Es kann darum gehen, die Sprache des Textes zu verstehen bzw. zu erläutern (Lexikographie und Grammatik; sprachliche Kommentierung); 3. Es kann bei literarischen Texten auf ein angemessenes Verständnis des Textes als ein Stück Literatur ankommen (Interpretation). Dazu gehört auch die sachliche Klärung des Textes sowie seine Einordnung in den historischen Zusammenhang. (Jäger 1975, 12)

2 Klassische Philologie und Romanistik

Anfänglich wichen die Arbeitsansätze und die Antworten, die die Romanistik auf diese Fragen gab, kaum von denen der zeitgenössischen klassischen Philologie ab, obwohl traditionellerweise die Beziehung zwischen beiden Fächern nicht allzu eng gesehen wurde und wird und man eher den Akzent darauf legte, dass die Romanistik in einigem Abstand der Herausbildung der Germanistik folgte (Christmann 1985, 21). Dennoch war die Verwandtschaft mit der Latinistik unübersehbar: Die romanischen Sprachen stammen aus dem Lateinischen ab, wie man in der Klassischen Philologie die beiden Zweige Gräzistik und Latinistik behandelte, so waren die nach damaliger Auffassung sechs romanischen Sprachen ein würdiger Gegenstand für die Romanistik, die vergleichende und historische Komponente der neuen Sprachbetrachtung passte gut zur philologischen Untersuchung, die gerade modern wurde, und die Herstellung guter mittelalterlicher Texte vertrug sich bestens mit den altphilologischen Bemühungen und originalnahe „Urtexte“ – die Textkritik, mit der man zuverlässige Ausgaben von Dante, den altfranzösischen Texten, den Troubadourliedern oder den altspanischen Romanzen herstellen wollte, waren die natürliche Verbindung zwischen den Forschungsinteressen der alten klassischen Philologie und der neuen Romanistik (Christmann 1985, 13).

Das frühe 19. Jahrhundert ist ja geprägt von der Romantik, und die Zugänglichmachung mittelalterlicher Textzeugnisse durch Ausgaben, Kommentare und Übersetzungen standen im Zentrum des Interesses. Friedrich Diez hatte, bevor er sich Grammatiken und Wörterbüchern widmete, 1821 ein Werk über Altspanische Romanzen veröffentlicht, und 1823 folgte Die Poesie der Troubadours. Man soll auch nicht vergessen, dass er 1863 eine Arbeit Über die erste portugiesische Kunst und Hofpoesie veröffentlichte und so die Aufmerksamkeit auf dieses oft vernachlässigte Randgebiet der Romanistik lenkte. Generationen von Studienanfängern sind durch die Chrestomathie de l’Ancien Français von Karl Bartsch in den Reichtum der altfranzösischen Literatur eingeführt worden, bevor diese Aufgabe 1921 vom Altfranzösischen Lesebuch von Karl Voretzsch übernommen wurde. Solange die Beschäftigung mit den altprovenzalischen (= altokzitanischen) Texten noch zum Kernprogramm der Romanistikstudien gehörte, lernte man die mittelalterlichen Texte durch die Chrestomathie provençale von Karl Bartsch kennen, bevor, was die Troubadour-Dichtungen anbetrifft, Texte und Nachdichtungen 1917 im Provenzalischen Liederbuch von Erhard Lommatzsch leicht aufzufinden waren. Bei diesen und bei vergleichbaren Ausgaben von Einzeltexten sieht man deutlich den Parallelismus zwischen den Aktivitäten der klassischen und der frühen romanischen Philologie: Man wollte zuverlässige Textausgaben verfügbar machen, und man wollte die „dunklen“ Stellen durch Einzelkommentare verständlich machen; Wortverzeichnisse und Kurzgrammatiken stellten das her, was man im Bereich der altphilologischen Zeugnisse durch die weit ausführlicheren Schulwörterbücher und Grammatiken zur Verfügung hatte. Ein Unterschied tat sich aber auf: Während es im 19. Jahrhundert noch zum normalen Handwerkszeug eines Latinisten gehörte, wissenschaftliche Abhandlungen auf Latein schreiben zu können, hatte man keine Fertigkeiten darin, altfranzösische oder altokzitanische Texte schreiben zu können, und selbst die Anfertigung einigermaßen korrekter neufranzösischer Texte brachte viele Romanisten an die Grenze ihrer sprachpraktischen Fähigkeiten.

Während die textkritische Arbeit an Ausgaben der antiken Zeugnisse zu einer Haupttätigkeit der klassischen Philologie wurde und die Erstellung von Kommentaren zu Einzelschriften für lange Zeit die Arbeit der Fachleute bestimmte, entwickelte sich die Romanistik in einer anderen Richtung: Herausgabe und Kommentierung der vor allem altfranzösischen Texte wurde zunehmend zu einer Art „Gesellenarbeit“ von begabten Studierenden, die damit zu beweisen hatten, dass sie die Grundzüge des historisch-philologischen Arbeitens beherrschten, bevor sie sich dann anderen Spezialgebieten zuwenden konnten. Typisch ist hier der Fall von Ernst Robert Curtius (1886–1956), der sich seinen Interessen für mittellateinische Literatur auf der einen Seite, als Spezialist für moderne französische Literatur auf der anderen Seite erst zuwenden konnte, nachdem er eine (mustergültige) Ausgabe der Quatre livre des Rois aus der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts veranstaltet hatte.

3 Die Romanistik im Gefüge der Universitäten des 19. Jahrhunderts

Die eigentlichen wissenschaftlichen Höhepunkte der neuen Romanistik bildeten sich auf anderen Gebieten als im Bereich der Ausgaben von Einzeltexten heraus. Die Universitätsgeschichte in den deutschsprachigen Ländern hatte dazu geführt, dass sich ein tiefer Graben zwischen den Altphilologen, die einer allgemein wertgeschätzten Kategorie der Geisteswissenschaften angehörten, und den sogenannten modernen Philologen oder Neuphilologen, die mühsam um ihre Anerkennung rangen, auftat. Bei der Neukonstituierung der Universitäten 1810, die mit dem Namen Wilhelm von Humboldt verbunden zu sein pflegen, bekam die Altphilologie ganz selbstverständlich zwei Professuren in klassischer Philologie (Friedrich August Wolf, 1759–1824; August Boeckh, 1785–1867), während die erste ordentliche Professur für Romanistik in Berlin erst 1870 für den Schweizer Adolf Tobler (1835–1910) eingerichtet wurde, der seit 1867 Außerordentlicher Professor dort war. Für die vorangehende Zeit kann man natürlich nicht davon ausgehen, dass man sich nicht mit den modernen Sprachen abgab, aber das erfolgte meist nicht auf der normalen professoralen Ebene. Zuständig waren vielmehr die sogenannten Sprachmeister (frz. maîtres), die prinzipiell aus der schulischen Tradition stammten, wo sie für die Vermittlung von Sprachkenntnissen (und gesellschaftlichen Verhaltensformen) an die fortgeschrittenen Schüler verantwortlich waren (Schöttle 2015, 89). Vom 17. und 18. Jahrhundert an gab es Sprachmeister auch im Umfeld der akademischen Ausbildung, und da man mit der Vergabe des Titels Professor oft freigiebig umging (Kramer 2018a, 9), gab es unter den Sprachmeistern auch Träger dieser Bezeichnung. Eine Zeitlang gab es noch Professoren „alten Stils“ und Professoren „neuen Stils“ nebeneinander (Kramer 2018a, 10), bevor die Sprachmeister spätestens in den achtziger Jahren von der Bildfläche verschwanden.

Die neue „wissenschaftliche Neuphilologie“ konnte sich auf programmatische Schriften berufen, die in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts erschienen. Hier ist zunächst der früh verstorbene Karl W.E. Mager (1810–1858) zu nennen, der Begründer des Realschulwesens, der wohl den Begriff „moderne Philologie“ erfunden hat und deren drei Bestandteile „Kritik, Exegese und Theorie der Dichtkunst und Beredsamkeit“ festlegte (Swiggers 2014, 45). Adelbert von Keller (1812–1883), der sich besonders als Editor mittelalterlicher Texte einen Ruf erworben hat, hat in einer „Inauguralrede“ die Beschäftigung mit Sprache und Literatur als Aufgabe der modernen Philologie festgelegt (Swiggers 2014, 45) und die historisch-vergleichende Untersuchung des romanischen Sprachstammes als Zukunftsprogramm herausgearbeitet (Christmann 1985, 17). Carl August Friedrich Mahn (1802–1887) plaidierte schießlich 1863 für ein umfassendes Programm der romanischen Philologie: „L’auteur, qui fut le maître de Karl Bertsch, y plaide pour une organisation scientifique de la philologie moderne, dont le domaine englobe l’histoire littéraire, la grammaire historico-comparative, la grammaire de l’état actuel d’une langue et l’explication des auteurs“ (Swiggers 2014, 45).

 

Diese theoretischen Überlegungen hatten inzwischen auch ihren Einzug in die universitäre Praxis gehalten, wenn auch unter dem hinhaltenden Widerstand der Klassischen Philologen, die ihre wirkliche oder vermeintiche Vorrangstellung gefährdet sahen: Der Vorreiter ist der Dante-Spezialist Ludwig Gottfried Blanc (1781–1866), der 1822 in Halle an der Saale zum Professor für romanische Sprachen und Literaturen ernannt wurde, Friedrich Diez folgte in Bonn 1823, Adelbert von Keller 1841 in Tübingen, Konrad Hofmann 1853 in München und Karl Bartsch 1858 in Rostock (Swiggers 2014, 45).

4 Romanische Sprachwissenschaft in der Anfangsphase der Romanistik

Was die Neuphilologie prinzipiell von der Altphilologie unterschied, war die gleichwertige Behandlung der Sprach- und der Literaturwissenschaft. Die Altphilologie hatte die historisch-vergleichende Sprachwissenschaft weitgehend an die Indogermanistik abgegeben, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ihre erste Blüte erlebte, und sie war so weitgehend zu einer reinen Literaturwissenschaft mit sprachpraktischen Bestandteilen („Stilübungen“) geworden. In der Romanistik bestimmte das Verhältnis der acht romanischen Schriftsprachen zum gut bekannten Latein die Aktivitäten der ersten Wissenschaftsgeneration: Zwischen 1831 und dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges erfolgten die maßgeblichen Veröffentlichungen von Friedrich Diez und von seinem geistigen Erben Wilhelm Meyer-Lübke (1861–1936). In ihren gesamtromanischen Studien ging es prinzipiell darum, wie sich aus einer gemeinsamen lateinischen Basis eine Vielzahl romanischer Weiterentwicklungen ergeben konnten. Friedrich Diez verfolgt auf romanischem Gebiet die Erkenntnisse, die Franz Bopp auf indogermanischem Gebiet und Jacob Grimm in der Germanistik erzielt hatten, und Wilhelm Meyer-Lübke verfolgte die Ansätze der junggrammatischen Schule mit romanischem Material. Das Material ist in beiden Fällen eine historische Grammatik und ein etymologisches Wörterbuch: Zwischen 1836 und 1843 veröffentlicht Diez die drei Bände seiner Grammatik der romanischen Sprachen, denen im Jahre 1869 die dritte Auflage des ersten Bandes folgt, in der zum ersten Male klar zwischen Erbwörtern und gelehrten Elementen unterschieden wird. Durchgeführt wird eine dreifache Gliederung der romanischen Schriftsprachen: Im Osten das Rumänische (Walachische) und das Italienische, im Westen das Spanische und das Portugiesische, im Norden das Französische und das Okzitanische (Provenzalische). Freilich zeigt diese Grammatik durchaus noch die typischen Erscheinungen einer Erstlingsarbeit:

L’aspect comparatif se limite encore trop souvent à la juxtaposition de formes (le troisième volume a une allure trop comparative), et l’aspect historique n’est pas sans failles non plus: Diez estime que l’évolution linguistique est faite de processus dont les uns sont réguliers et les autres irréguliers, et très souvent il ne parvient pas à reconnaître le conditionnement linguistique des processus évolutifs. (Swiggers 2014, 48)

Ein Etymologisches Wörterbuch der romanischen Sprachen folgt 1853 und kennt mehrere Neuauflagen. Dieses Wörterbuch muss mit Umsicht benutzt werden: Wörter, deren Herleitung in den Augen von Diez offenkundig ist, wurden nicht aufgenommen. Die Wörter sind aufgeteilt nach den „gemeinromanischen Wörtern“, wo die italienischen Wörter das Stichwort bilden, gefolgt von den spanischen und französischen Formen; eine zweite Abteilung umfasst „Wörter aus einzelnen Gebieten“, in der Reihenfolge italienisch, spanisch, französisch.

Der walachischen in der fremde erzogenen, mit den übrigen nicht aufgewachsenen tochter der römischen mutter habe ich keine eigene stelle eingeräumt, sie nur zur vergleichung zugelassen, nicht anders als die churwälsche. Die volksmundarten […] habe ich überall zu rathe gezogen, so weit die mir gestatteten hülfsmittel ausreichten, ihnen auch zuweilen beispiele halber kleine artikel vergönnt“ [IX-X]. (Diez 1853, S. IX-X)

Wenn also das etymologische Wörterbuch schwer zu benutzen ist und die Auswahl der romanischen Wörter als recht subjektiv bezeichnet werden muss, so ist doch mit Pierre Swiggers (2014, 49) festzuhalten, dass es sich um eine „réalisation remarquable“ handelt, „par la masse des matériaux réunis, par le souci de méthode et l’attitude prudente de l’auteur, enfin par la présence d’ouvertures à l’histoire sémantique des mots et à des problèmes d’onomasiologie (avant la lettre), ce qui renforce le caractère plus ‚narratif‘ (et lisible) des articles du dictionnaire“.

Der begabteste Schüler von Friedrich Diez war zweifellos der früh verstorbene August Fuchs (1818–1847), der in seinem posthum veröffentlichten Werk über Die romanischen Sprachen in ihrem Verhältnisse zum Lateinischen die Einheit zwischen Latein und Romanisch darin sah, dass das gesprochene Latein im Romanischen seine natürliche Weiterentwicklung erlebte und dass es sich dabei nicht um eine Dekadenz der eigentlich vollendeten Sprache Latein, sondern um die Weiterentwicklung der lateinischen Umgangssprache zu einer Sprachform größerer Klarheit handele.

Ein wichtiges Bindeglied zwischen Diez und Meyer-Lübke stellt Gustav Körting (1845–1913) dar, nicht weil er wissenschaftlich große Neuerungen durchgeführt hätte, sondern weil er in seinem Lateinisch-romanischen Wörterbuch (1890) von den (oft rekonstruierten) Etyma ausging, die er durchgehend nummerierte.

5 Die Blüte der Romanistik vor dem Ersten Weltkrieg

Wilhelm Meyer-Lübke stellte den Werken von Friedrich Diez parallele Neufassungen auf dem Stand der damaligen Junggrammatiker mit ihren unausweichlichen Gesetzen an die Seite: Die vierbändige Grammatik der romanischen Sprachen (1890–1901) und das Romanische Etymologische Wörterbuch (1911; 1935) bilden auch heute noch ein Nachschlagewerk für jeden Romanisten, seine Einführung in das Studium der romanischen Sprachwissenschaft (1901; 1920) war für Generationen das Referenzwerk für Studienanfänger und ist in ihrem Materialreichtum bis heute unübertroffen.

Le modèle néo-grammairien, basé sur le couple „loi phonétique/actions analogiques“, est manié avec flexibilité, non seulement à cause de l’interprétation large des faits analogiques, mais aussi par l’inclusion de processus explicatifs comme le croisement, la réfection, la „réanalyse“. (Swiggers 2014, 51)

Einführungen in die Romanistik bildeten zu Anfang des 20. Jahrhunderts das Gerüst der wissenschaftlichen Bemühungen. Es ging hier von Werken mit Basiswissen wie die zwei schmalbrüstigen Göschen-Bände zur Romanischen Sprachwissenschaft bis zu enzyklopädischen Darstellungen wie die drei Lexikonbände des Grundrisses der romanischen Philologie von Gustav Gröber (1888–1902; zweite Auflage von Band I 1904–1906). Die erste Auflage hatte einen Absatz von über tausend Exemplaren, sehr viel für die damalige Zeit. Günter Holtus, der den Grundriss mit dem ein Jahrhundert später erschienenen LRL verglichen har, hat herausgearbeitet, dass sich die romanische Philologie am Ende des 19. Jahrhunderts „vornehmlich mit den nicht mehr unmittelbar verständlichen Zeugnissen vergangener Zeiten“ zu beschäftigen habe (Holtus 1997, 378), während des LRL weniger geschichtlich orientiert sei und „die romanischen Sprachen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung der diachronischen wie der synchronischen Betrachtungsweise“ behandeln müsse (Holtus 1997, 385) – also ein viel umfassenderes Informationsziel, aber natürlich war der literaturwissenschaftliche Teil von Gröbers Grundriss ersatzlos gestrichen worden.

Gröbers anspruchsvolles Werk, an dem 27 Mitarbeiter beteiligt waren, war nicht unbedingt auf Anhieb von Anfängern zu lesen, so dass ein eher auf ein studentisches Publikum ausgerichtetes Einführungswerk wie das Handbuch der romanischen Philologie von Gustav Körting eine weiter reichende Wirkung hatte, die über den engen Kreis der Spezialisten im engeren Sinne hinausging. Dadurch, dass bei Gustav Körting, der sein Werk allein geschrieben hat, Grundfragen wie die Definition der Philologie, die Geschichte der Romanistik, Sprache und Schrifttum, Latein und Romanisch, Wahl der Studienfächer (Zweitfach Latein und nicht etwa Englisch), praktische Beherrschung romanischer Sprachen, Privatlektüre, „Neuphilologische Vereine“ besprochen werden, kann man die Breitenwirkung dieser Einführung gar nicht hoch genug einschätzen; besonders Eltern von studierwilligen Jugendlichen und Lehrer der oberen Gymnasialklassen werden ihre Beratungen oft am diesem Werk von Gustav Körting ausgerichtet haben.

In der Zeit kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges hatte die Romanistik in den deutschsprachigen Ländern den Höhepunkt ihrer Breitenwirkung erreicht, und von den wichtigen Werken etwa von Friedrich Diez oder Wilhelm Meyer-Lübke gab es französische und italienische Übersetzungen, so dass diese Arbeiten auch international zugänglich waren.

6 Die Romanistik zwischen den beiden Weltkriegen

Es ist hier nicht der Ort, die weitere Geschichte der Romanistik zu skizzieren. Neu hinzukamen die Sprachgeographie, die Etymologika der romanischen Einzelsprachen, die verschiedenen strukturalistischen Schulen, die generativen Ansätze im Gefolge von Noam Chomsky, die Soziolinguistik, die angewandte Linguistik, die Textlinguistik und die Pragmatik, um nur einige hervorstechende Bereiche zu nennen (Kramer/Willems 2014). Es ist auffällig, dass die Epoche der Erneuerung der Romanistik sich nicht in gewichtigen Gesamtdarstellungen dieser Wissenschaft niederschlug: Es gab natürlich weiterhin Darstellungen der Romanistik als Wissenschaftszweig, aber das waren meist Neubearbeitungen von Werken aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, etwa Die romanischen Literaturen und Sprachen von Heinrich Morf und Wilhelm Meyer-Lübke (1925), womit ein umfänglicheres Werk von 1909 aktualisiert wurde.

Insgesamt gelangten die Länder, in denen die Kernbereiche der Romanistik intensiv betrieben wurden, sukzessive unter den Einfluss von rechtsgerichteten politischen Diktaturen: 1923 breitete sich der Faschismus über Italien aus, das hatte aber abgesehen vom zunehmend pompösen Stil der Abhandlungen wenig inhaltliche Auswirkungen auf die Romanistik, und Spanien war zu sehr mit sich selbst beschäftigt, als dass der Sieg der Franco-Allianz von 1936 Auswirkungen auf die Romanistik gehabt haben könnte. Anders war es in Deutschland, das ab 1933 im Sumpf des Nationalsozialismus versank. Schon 1933 wurden aus rassischen oder politischen Gründen 10 Professoren entlassen, das Französische war in der „Deutschen Oberschule“ seit 1935 kein Pflichtfach mehr, die Restromanistik geriet in den Sog der Rassenkunde und der Wesenskunde, Forschungen zur Völkerwanderungszeit wurden zu Abhandlungen über den Wettkampf zwischen romanischen und germanischem Volkstum (Romania Germanica von Ernst Gamillscheg [1887–1971], Verfasser des Romanistik-Artikels in der Hitler-Festschrift von 1939). Die Romanistik war freilich kein politisch bedeutsames Fach, und so konnte man immer noch unverdächtige Spezialbereiche finden, um den politischen Ansprüchen des Nationalsozialismus auszuweichen (Kramer 2008), und insgesamt kam „die deutsche Romanistik, gemessen an anderen Disziplinen, noch einmal glimpflich davon“ (Hausmann 1989, 47), freilich als auf das Essentielle zurückgeführtes Schrumpffach ohne Gefolgschaft in der jüngeren Generation.