Loe raamatut: «Franz Grillparzer»

Font:

Birthe Hoffmann / Brigitte Prutti

Franz Grillparzer

Neue Lektüren und Perspektiven

[bad img format]

Umschlagabbildung: Anselm Kiefer, Des Meeres und der Liebe Wellen, 2011, Mixed media and gynaecological instrument on photographic paper, 42 1/8 x 128 3/4 x 3 15/16 in. (107 x 327 x 10 cm), © Anselm Kiefer. Photo © White Cube (Charles Duprat)

DOI: https://www.doi.org/10.24053/9783772057267

© 2022 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetztes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor:innen oder Herausgeber:innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor:innen oder Herausgeber:innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich.

Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de

ISBN 978-3-7720-5726-7 (Print)

ISBN 978-3-7720-0176-5 (ePub)

Inhalt

  Einleitung

  Was tun mit dem Klassiker? Franz Grillparzer im Literaturmuseum der Österreichischen Nationalbibliothek Literatur

  „Wir haben’s gut gemeint, doch kam es übel“ – Geschichte als Groteske in Büchners Dantons Tod und Grillparzers Bruderzwist in Habsburg Dantons Tod als Metatheater der Geschichte Die Dialektik von Ordnung und Chaos in Ein Bruderzwist in Habsburg Lukrezia/Lukretia – zwischen libidinösen und revolutionären Energien „Aus eignem Schoß ringt los sich der Barbar“ – Die Inversion der Humanität Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht Literatur

 Touching Matters: Unstable Epistemologies in Grillparzer’s Kloster bei SendomirUncertain TimesCertainties UnsettledFraming UncertaintyGothic IntimaciesFraming and TransgressionGender and Knowledge: You Can Look, But Can You Touch?Creation and Procreation: Generating DoubtThe Secret WithinStaging RevelationSacrifice and VictimhoodFraming MasculinitiesCodaBibliography

 Sich am Tod versehen: Auf Abwegen zwischen Grillparzers Selbstbiographie und der Medea-TrilogieIIIIIILiteraturPrimärliteratur

 Hell und Dunkel in Grillparzers Goldenem Vließ: Schattierungen eines schillernden MotivsDramaturgie von Licht und Schatten: Zur bühnengerechten Symbolik eines raumzeitlichen WechselspielsMedea in Kolchis: Nachtgespenst und Lichtgestalt – Die Hauptfigur als Verkörperung einer strukturstiftenden und sinngebenden PolaritätMedea in Korinth: Schattendasein und paradoxe Wiedergeburt einer aufgeklärten Königin der NachtLiteraturPrimärliteratur

 Vom Ehedrama zum ‚Kampf der Kulturen‘: Grillparzers Trilogie Das goldene Vließ als Kritik an Essentialismus und EthnozentrismusKulturelle Denk- und Wahrnehmungsformen des FremdenDie kritische Dimension der TrilogieMedea als tragisches Opfer im ‚Kampf der Kulturen‘ – und die AlternativszenarienLiteraturPrimärliteratur

 „Die Welt, sie fühlt die Ordnung als Bedürfnis“: Grillparzers Ästhetik des Unverfügbaren im Kontext des FrührealismusSchwierige EpochenzuordnungUnverfügbare WirklichkeitPostidealistisches Subjekt„Der Teufel hole alle Theorien.“„Die Welt, sie fühlt die Ordnung als Bedürfnis“LiteraturPrimärliteratur

 Grillparzer von Frankreich aus betrachtet: Platz in der Literaturgeschichte, Aufführungen, ÜbersetzungenGrillparzer in der französischen Literaturgeschichte und GermanistikGrillparzer auf den französischen BühnenGrillparzer in französischer ÜbersetzungLiteraturÜbersetzungen von Grillparzers Dramen ins Französische

 Medea nach Grillparzer: Zur Semiotik des Pathologischen in den Inszenierungen Mateja Koležniks und Aribert ReimannsSemiotik des PathologischenGrillparzers Medea: Pathologische Manifestation & Neuerung eines klassischen StoffesAribert Reimann: Medea. Eine Oper in 4 Bildern.Mateja Koležnik: Medea, von Franz GrillparzerMedea nach GrillparzerLiteraturPrimärliteratur

 Die Autorinnen und AutorenKurzbiographienAdressen

Einleitung

Das Werk Franz Grillparzers ist ein bemerkenswerter Fall verhinderter Rezeption, deren Ursachen sicher zum Teil in seiner Vereinnahmung für identitätspolitische Zwecke liegen. Der Status eines österreichischen Klassikers, mit dem impliziten oder expliziten Auftrag von Identitäts- und Sinnstiftung durch die vielen Krisen der Monarchie und der beiden österreichischen Republiken, scheint seinem Werk und seiner Wirkung eher abträglich gewesen zu sein. Bis in die 1990er Jahre hinein lässt sich in der Grillparzerforschung das Bild des Dramatikers als konservativer Verteidiger einer monarchischen Ordnung und einer quietistischen Weltsicht barocker Provenienz verfolgen, der von Anfang an auf verlorenem Posten steht. Der oft vereinfachte Befund einer Kritik an nationalistischen Strömungen in den Texten Grillparzers wurde in dieser Forschungstradition mit der These verbunden, Grillparzer hätte eine Kritik des neuzeitlichen Subjektivismus im weitesten Sinne geäußert. Ideengeschichtlich wurde Grillparzer somit als ein Verfechter einerseits überzeitlicher, humanistischer Werte, andererseits als der genaue Gegensatz zum deutschen Idealismus und zur protestantisch-preußischen Denkart stilisiert. Eine solche Lesart, die nach stabilisierbaren Philosophemen und ideologischen Positionen sucht, lässt sich aber nur unter Ausblendung einer Vielzahl von Textperspektiven durchführen, die dieser Eindeutigkeit widersprechen. Die dadurch hervorgerufenen Herausforderungen an die Leser:innen bzw. Zuschauer:innen dürften eine weitere Ursache seiner erschwerten Rezeption und seiner relativen Unbekanntheit sein. Sie sind aber zugleich ein Grund, weshalb man ihn heute wieder lesen sollte: Im Widerspruchsvollen, Ambivalenten und Paradoxen seines Schreibens scheint etwas einzigartig Reales auf. Grillparzers Figuren sind keine Charaktere, die irgendetwas repräsentieren sollen. Sie sind in ihrem Wesen unkoordiniert: Zwischen Denken, Sprechen und Handeln tun sich Abgründe auf. Sie sehnen sich nach Ordnung und Sinn, aber jede Ordnung ist zugleich grausam und kann schnell ins Chaos umschlagen – den Sinn muss jeder für sich selbst zurechtbasteln. Der Prozess der Geschichte, in den jeder unentrinnbar eingebettet ist, rollt unaufhaltsam über das Streben der Menschen hinweg – und doch trägt jeder eine persönliche Verantwortung für seine Taten. Für unser heutiges Geschichtsverständnis ist diese paradoxe Auffassung der Rolle des Subjekts in historischen Prozessen und Konstellationen, die weder das Subjekt aus der Verantwortung entlässt, noch idealistisch als autonom begreift, äußerst relevant.

Die für die Leser:innen besonders anspruchsvolle Verarbeitung historischer Stoffe in vielen von Grillparzers Dramen mag auch manchen Regisseur abgeschreckt haben, seine Kräfte an dem großen Dramatiker zu erproben, muss doch hinter dem Gewand des Historischen die zukunftsträchtige Analyse geschichtlicher Prozesse erst hervorgeholt werden. Ausgerechnet Thomas Mann, ein in vieler Hinsicht von Grillparzer weit entfernter Autor, hat vor 100 Jahren instinktiv ein untrügliches Gespür für die doppelbödige Sprache Grillparzers gezeigt. In seiner Huldigung für Grillparzer, zum fünfzigsten Todestag am 22. Januar 1922 in der Neuen Freien Presse veröffentlicht, heißt es:

Es gibt Plauderei, die heimlich Hochgesang, gibt das Pasquill, das in der Tiefe Verherrlichung ist, Feierlichkeit, unter der es kichert. Einen ähnlichen, man darf sagen: romantischen Zwiespalt empfand ich in Grillparzers Dichtung von jeher, einen solchen der Form und des Geistes. Jene mag man klassizistisch, ja bei kritisch-negativer Gesinnung epigonenhaft nennen; dieser ist dem Gefühl so menschlich-nahe, so zart-modern-lebendig, so durchdringend persönlich, daß das bei allem Zauber des Verses leicht museale Kleid des Jambendramas beinahe wie Ironie wirkt – auf mich, ich kann es nicht anders sagen.

Man hört den Vergleich mit Schiller und Goethe noch heraus, wenn auch mit Sinn für den Gewinn, der mit der Differenz zur Weimarer Klassik einhergeht. Wie einige Beiträge zu diesem Band demonstrieren, ist der Bruch Grillparzers mit der idealistischen Tragödienästhetik der Goethezeit weitaus radikaler, als die teils noch klassizistische Form auf den ersten Blick vermuten lässt. Die illusionslose Beobachtung der Entwicklungen seiner Zeit, die er auch in die Zukunft extrapolierte, machte ihn in ästhetischer und politischer Hinsicht zu einem Ungleichzeitigen. Nur wenige seiner Zeitgenossen – wie etwa Georg Büchner und davor schon Heinrich von Kleist – waren bereit, die idealistische Art der Kontingenzbewältigung zu verabschieden, um so tief in den Abgrund der Dialektik von Ordnung und Barbarei zu blicken.

Viele neue Ansätze in der Literaturwissenschaft der letzten Jahrzehnte kommen den Herausforderungen durch das Doppelbödig-Bruchhafte in den Texten Grillparzers und einer Neubewertung seines Œuvres im Lichte aktueller Fragestellungen sehr entgegen. Die Implikationen der in der Forschung schon früh anerkannten Komplexität der Psychologie und Figurengestaltung, sowie die Aufwertung des Sinnlichen bei Grillparzer kann heute noch differenzierter beschrieben werden, u.a. durch affekttheoretische Ansätze und ein phänomenologisch geprägtes Interesse für das Nebeneinander verschiedener Wahrnehmungsformen.

Die Erweiterung der Hermeneutik durch Rezeptions- und Wirkungsästhetik hat den Blick für die vielen Leerstellen geschärft, die oft gegen die Selbstdarstellung der Figuren im Sinnhorizont der Leser:innen in Betracht gezogen werden müssen. Provozierend ist auch die Heterogenität der sprachlichen und dramatischen Register, darunter das Ineinander-Hinübergleiten bzw. Kippen von Tragik und Komik, Grauen und Groteske in den Texten Grillparzers, das in manchen Aspekten bereits auf die Dramatik nach 1945 vorausweist.

Auch Anregungen durch den Poststrukturalismus und die Dekonstruktion sind vielversprechend, um Grillparzers Analyse von Mechanismen der Macht, der Sprache und Identitätskonstruktionen unterschiedlicher Art herauszuarbeiten. Dies beinhaltet die Konstruktion von Gender, die bei Grillparzer an der kritischen Dekonstruktion von problematischen Männlichkeitskonstruktionen und der Gestaltung von Figuren jenseits der typischen Weiblichkeits- und Männlichkeitsdiskurse sichtbar wird. Nicht zuletzt trifft dies aber auch auf die Dekonstruktion von Alteritäts- und Nationalitätsdiskursen zu, wofür Grillparzer als Beobachter der komplexen Dynamiken im spannungsvollen transkulturellen Kontext der Habsburger Monarchie besondere Voraussetzungen hatte. Die durch poststrukturalistische Ansätze angeregten neuen Möglichkeiten der Aktualisierung seines Œuvres scheinen aber im Fall Grillparzers bei weitem noch nicht erschöpft zu sein.

Der vorliegende Sammelband verfolgt das Ziel, neue ertragreiche Wege der Analyse von Grillparzers Werk zu zeigen. Er enthält acht literaturwissenschaftliche Beiträge aus der internationalen Forschung und einen einleitenden Essay vom Direktor des österreichischen Literaturmuseums zur Praxis der Literaturvermittlung im 21. Jahrhundert am Beispiel Franz Grillparzers. Sein Anliegen geht weit über den Wunsch hinaus, einen großen europäischen Autor österreichischer Prägung anlässlich seines 150. Todesjahres zu würdigen. Er gibt einen Einblick in aktuelle Lektüren und Perspektiven, die das große, noch nicht eingelöste Potenzial dieses Autors neu zu entfalten suchen.

Wie kann man Grillparzer heute einem Publikum ohne literarische Vorkenntnisse vermitteln und zur Lektüre des scheinbar toten Klassikers anregen? – Darüber reflektiert Bernhard Fetz im ersten Beitrag dieses Bandes. Seine Bestandsaufnahme fällt zunächst negativ aus: es fehlt noch an einer modernen textkritischen Ausgabe des Werkes und einer entsprechenden Leseausgabe; der Missbrauch seiner Texte als Schullektüre zu identitätspolitischen Zwecken in den ersten Jahrzehnten der Zweiten Republik ist im österreichisches Bildungssystem noch nicht durch ein neues, offeneres und europäisch ausgerichtetes Interesse an Literatur ersetzt worden. Als Direktor des Literaturmuseums der Österreichischen Nationalbibliothek hat Fetz diese Ausgangssituation aber auch als Chance gesehen, neue Wege zu Grillparzer anzubieten. Sein Beitrag gibt einen anregenden Einblick in die Prinzipien hinter der Dauerausstellung im Wiener Grillparzerhaus, die im Falle des ‚Hausherrn‘ Grillparzers ihren natürlichen Ausgangspunkt im denkmalgeschützten Arbeitszimmer des Beamten Grillparzers nimmt. Von hier aus entfaltet sich eine multimediale Vermittlung des Autors, seines Werks und seines historischen Kontexts mit Hilfe von Comics, Touch-Screens, Hörstationen mit kommentierenden Nacherzählungen zentraler Werke durch zeitgenössische Autor:innen und Künstler. Über die Beschreibung der konkreten Ausstellung hinaus bietet der Beitrag von Fetz interessante Reflexionen zur zeitgemäßen Vermittlung auratischer Museumsgegenstände und zum Spannungsfeld zwischen Konstruktion und erneuter Infragestellung von literarischen Kanons. Als Kenner des grillparzerschen Werks deutet Fetz nicht zuletzt auch auf die vielen Anknüpfungspunkte für unsere Gegenwart hin, so z.B. seine subtilen Analysen von Machtmechanismen und Genderkonstruktionen.

Die Reihe der Textinterpretationen wird von Birthe Hoffmann eingeleitet, die für eine Neubewertung der Geschichtsdramatik Grillparzers im Lichte seiner postidealistischen Dramaturgie plädiert. Mit ihrer Lektüre des um 1850 verfassten, aber erst 1872 posthum uraufgeführten Geschichtsdramas Ein Bruderzwist in Habsburg, verfolgt sie die für Grillparzer zentrale Problematik des Perspektivismus und der Unauslotbarkeit menschlicher Handlungen, die hier mit der geschichtsphilosophischen Reflexion eng verbunden ist. So wird gezeigt, wie dieses Drama auf der Folie der Krise des Habsburgischen Reiches vor dem Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges geschichtliche Prozesse nach der Französischen Revolution reflektiert. Eingeleitet wird die Lektüre mit einem Vergleich mit Georg Büchners Dantons Tod, wodurch überraschende Affinitäten zwischen dem revolutionären Büchner und dem politisch eher konservativen Grillparzer aufgezeigt werden können im Hinblick auf Personengestaltung, Anthropologie und Dramaturgie. Anknüpfend an Helmut J. Schneiders Analyse der Differenzen der postidealistischen Tragödienästhetik Büchners zum Geschichtsdrama der Goethezeit kann somit auch Grillparzers Verabschiedung des Idealismus verdeutlicht werden. Beide Autoren reflektieren Dynamiken politischer Krisen, in denen die Idee des gesellschaftlich Guten in ein barbarisches Massentöten umschlägt, bei denen die Opfer jeden idealen Sinn verloren haben. Bei beiden Dramatikern entfesseln sich die Kräfte geschichtlicher Prozesse von denen, die in diese eingreifen wollten – gleichzeitig fokussieren sie auf die polyphone, gleichsam transpersonale Auseinandersetzung der Figuren mit den nun problematisch gewordenen Begriffen wie Recht, Wahrheit, Ethik und individuelle Verantwortung. Wie bei Büchner geht das geschichtliche Chaos bei Grillparzer vom unkoordinierten Wesen des Menschen aus, dem somit Autonomie, Freiheit und Selbsterkenntnis aberkannt wird. Das eindrucksvollste Beispiel dieser Problematik wird in Ein Bruderzwist in Habsburg in der psychisch extrem komplexen und labilen Figur Rudolfs II. gegeben. In ihm fallen Idee und Praxis auseinander, die Trennung von Mensch und Kaiserrolle bricht zusammen, als das Chaos des kommenden Krieges durch die Affekte Rudolfs beschleunigt wird. Die Idee einer humanen, alle Gegensätze überbrückenden Ordnung wird ebenfalls von Rudolf selbst vernichtet, als er – der gerade das Recht verbürgen sollte – seinen illegitimen Sohn Don Cäsar auf willkürliche und barbarische Weise verurteilt und ohne Gerichtsverfahren sterben lässt. Einzige Alternative zum paternalistischen Herrschaftskonzept der Habsburger bildet daher nur die vertragliche Sicherung von Bürgerrechten, die von den böhmischen Ständen und Bischof Klesel gefordert wird – eine heimliche Konzession des Juristen Grillparzers an die liberalen Kräfte seiner Zeit. Der unheimliche Schluss dieses wohl schwärzesten Stückes von Grillparzer mit seiner grotesken Mischung aus Tragik und Komik bezeugt, dass die Zukunft eher den Säuberungsideologen und Weltmetzgern gehörte.

In den beiden nächsten Textlektüren des Bandes stehen zwei Prosagattungen im Mittelpunkt, denen der Dramatiker Grillparzer eher abgeneigt war und die er doch auf brillante und originelle Weise zu prägen verstand: das autobiographische Schreiben und die Novelle. In beiden schlägt sein besonderer Sinn für Dramatik durch, und in beiden betreten wir – in den Worten Imke Meyers – „epistemologisch instabiles Terrain“ und werden gezwungen, uns mit der Unverfügbarkeit der Wahrheit über menschliche Handlungen auseinanderzusetzen.

Imke Meyer zeigt, wie Grillparzer in seiner ersten und im Vergleich zum Armen Spielmann weit weniger bekannten Novelle Das Kloster bei Sendomir (1827) in den Gewändern des schauerromantischen Repertoires die Leser:innen einer komplex vermittelten Geschichte über Familienverfall, Betrug, Mord, Schuld und Sühne aussetzt, die sich am Ende – durch die bisher verborgene Doppelidentität des Binnenerzählers – wie ein Bumerang gegen die Glaubwürdigkeit des Erzählten kehrt. Meyer nimmt die Herausforderung durch diese schockartige Destabilisierung des Narrativs auf und liest die Novelle neu als die Inszenierung einer Wahrheitskonstruktion durch den Binnenerzähler, die mit Hilfe eines Frauenopfers fragile und fragwürdige Männlichkeitskonstrukte einer homosozial-paternalistischen Welt stabilisieren soll. In ihrem eingehenden und zugleich kultur- und ideengeschichtlich tief eingebetteten close reading deckt Meyer auf, wie in der Novelle durch das Fehlen einer eindeutigen Wissensgrundlage und die subjektiv-affektive Prägung der Wahrnehmung auf mehreren Ebenen ein Kampf zwischen zwei Epistemen stattfindet, der die Novelle in den ideengeschichtlichen Auseinandersetzungen der Spätaufklärung und des beginnenden 19. Jahrhunderts verortet. Die Fronten in der Novelle gehen somit zwischen einer männlich konnotierten, visuellen Wahrnehmung, die in der Aufklärung mit dem Primat rationaler Erkenntnis verbunden ist, und einer weiblich bzw. tierisch konnotierten, haptischen Erkenntnis, die neben der rationalen koexistiert und die distanzierte Wahrnehmung herausfordert. In der erfolglosen Suche der Leser:innen nach einer sicheren Beurteilung der in der Novelle verhandelten Zusammenhänge und Schuldfragen wird der Zusammenhang von visueller Wahrnehmung, haptischer Erfahrung und Sinnkonstruktion beleuchtet und reflektiert. So ist Grillparzers Handhabung von Konventionen der Schauernovelle äußerst modern: Weder kann der Erzähler die Wahrheit des Erzählten verbürgen, noch kann der Rahmen das Unerhörte des Inhalts aufheben und eingrenzen, sondern wird immer wieder gesprengt und lässt die Leser:innen auf instabilem Terrain zurück.

Die Unausdeutbarkeit von Schuldfragen und kausalen Zusammenhängen steht im Beitrag Eva Geulens ebenfalls im Mittelpunkt. Ihre Suche nach Zusammenhängen zwischen der Selbstbiographie und der Dramentrilogie Das goldene Vließ fängt mit der Charakterisierung der Besonderheiten jenes oft gelobten autobiographischen Fragments an, das erst posthum unter dem Titel Selbstbiographie an die Öffentlichkeit gelangte. Durch ihre Auseinandersetzung mit Grillparzers verschleiernd-verschweigender Darstellung familiärer Verhältnisse, die zugleich bizarre Züge aufweist, greift Geulen zwei zentrale Merkmale von Grillparzers Schreiben auf, die auch auf seine Dramatik zutreffen: Einerseits die grotesk-unheimliche Mischung bzw. Überblendung von Tragik, Grauen und Komik, andererseits die Verschleierung vom Agens, was eindeutige Schuldzuschreibungen und Rekonstruktionen eines Kausalnexus erschwert. Ausgehend vom grotesken Bild der hinter ihrem Bett in stehender Todesstarre aufgefundenen Mutter, welches in der Forschung meist übergangen wurde, nimmt Geulen über den ‚Abweg‘ der persönlichen Lektüre, bei der diese Stelle unvergesslich mit der scheintoten Madame Sauerbrot bei Wilhelm Busch verschmilzt, die Leser:innen mit auf die Suche nach möglichen Spuren der in der Selbstbiographie dargestellten Ereignisse in der Vließ-Trilogie, deren Entstehungsprozess vom Tod der Mutter eine Zeitlang unterbrochen wurde. Bei dieser Suche geht es aber nicht um eine biographische Lesart der Tragödie, sondern eher um die Analyse von strukturellen Gemeinsamkeiten. Auf diesem Weg werden die auch in der Dramentrilogie ins Dunkel gehüllten Todesarten und -ursachen (insbesondere der Pelias-Figur) deutlich. Die dadurch erreichte Verkomplizierung der Schuld- und Rachefragen wird nicht nur als Versuch betrachtet, sich deutlich von älteren Vorlagen abzuwenden – nach Geulen könnte die Entdramatisierung der Tode und Todesarten in der Dramentrilogie, die keinen dramatischen Knoten mehr binden können, auch als ‚realistische‘ Wendung des Dramas gesehen werden.

Daran anschließend widmen sich die beiden folgenden Beiträge von Gilles Darras und Fabiola Valeri ganz der Lektüre von Grillparzers Vließ-Trilogie, die in den letzten Jahren immer stärker ins Zentrum des internationalen Forschungsinteresses gerückt ist und wegen der Brisanz ihrer Themen auch auf den deutschsprachigen Bühnen neuerdings häufig zu sehen war. Ihre Aktualität in der Forschung und auf dem Theater unterstreicht die Relevanz von Grillparzers Dramatik für die Auseinandersetzung mit kulturellen Differenzen und Konflikten in der globalisierten Gesellschaft des 21. Jahrhunderts.

Gilles Darras unternimmt eine Erörterung der zentralen Hell-Dunkel-Motivik im Goldenen Vließ und bespricht ihre Funktion im Rahmen von Grillparzers symbolischer Dramaturgie. Seine Lektüre des Dramentextes und der szenischen Konfiguration demonstriert die enge Verschränkung von Ästhetik und Psychologie in der „bahnbrechende[n] Bearbeitung des Medea-Mythos“ in der Trilogie mit ihrem Wechselspiel von Licht und Schatten und der Polarität von Tag und Nacht. Bei Grillparzer ist diese konstitutive Polarität seiner These zufolge am nachdrücklichsten in der schillernden Medea-Figur selbst verkörpert, die sich allen essentialistischen Identitätszuschreibungen und jeder hermeneutischen Vereindeutigung entzieht. Als eine radikal transgressive und transkulturelle Figur demontiert sie die Xenophobie und den Manichäismus in der Selbst- und Fremdwahrnehmung der anderen Kolcher sowie der Griechen. Darras unterstreicht die konstitutive Ambivalenz und die kritische Dimension von Grillparzers Medea mit seiner Bezeichnung für sie als aufgeklärte Königin der Nacht, und er rückt sie in die Schwesternschaft einer mehrfachen Nähe zu anderen mythischen Gestalten im modernen deutschsprachigen Drama zwischen Weimarer Klassik und Wiener Moderne, nämlich Goethes Iphigenie, Kleists Penthesilea and Hofmannsthals Elektra. Neue Einsichten bringt auch seine tiefenpsychologische Lektüre der traumatischen Höhlenszene in den Argonauten und die Diskussion ihrer Wiederkehr in den Bildern der Medea.

Konzentriert sich Gilles Darras in seiner präzisen Lektüre auf wichtige leitmotivische Verknüpfungen in der Dramaturgie und Bildersprache der Vließ-Trilogie, so rückt Fabiola Valeri in ihrem diskurskritischen Beitrag die interkulturelle Konfliktkonstellation und die zeitgenössischen Alteritätsdiskurse in den Blick, die in Grillparzers moderner Adaption des Argonauten- und Medea-Mythos ästhetisch verhandelt werden. Sie tut dies aus der Perspektive der interkulturellen Literaturwissenschaft, deren Theoriegeschichte und dynamisch-hybriden Kulturbegriff die Einleitung zu ihrem Aufsatz knapp referiert. Das Kulturkontakt-Szenario in Grillparzers Trilogie betrachtet sie parallel zu anderen neueren Deutungen unter dem Vorzeichen der scheiternden Interkulturalität, sieht darin aber keinen geschichtsphilosophischen Pessimismus oder eine resignative Kulturkritik ihres Verfassers am Werk, sondern ein innerdramatisches Versagen auf der Figurenebene, das Grillparzer in seiner Trilogie mit dramaturgischen Mitteln kritisch exponiert und transzendiert. Das Augenmerk in ihrem ersten Analyseschritt liegt auf den kulturell geprägten Mustern der Selbst- und Fremdwahrnehmung auf Seiten von Grillparzers Figuren, die in ihren essentialistischen und ethnozentrischen Denk- und Wahrnehmungsmustern geläufige zeitgenössische Diskursmuster um 1800 von eigen versus fremd repräsentieren und reproduzieren. Es ist ein heterogener Mix aus diskursiven Versatzstücken der Winckelmannschen Ethno-Ästhetik, von kolonialen Topoi der Reiseliteratur und geschichtsphilosophischen Theoremen, deren sich die Dramenfiguren hier bei Grillparzer bedienen, um das jeweils Andere bzw. die Anderen zu stigmatisieren und die eigene kulturelle Überlegenheit zu behaupten. In ihrem zweiten Analyseschritt demonstriert Valeri, wie Grillparzers Trilogie die ethnozentrische Perspektive seiner Figuren auf vielfache Weise destabilisiert und dekonstruiert, nicht zuletzt durch die zahlreichen transkulturellen Parallelen und die Transgressionsfiguren auf beiden Seiten. Was im Umfeld des erstarkenden Nationalismus in der post-napoleonischen Ära fast wie eine literarische Antizipation der plakativen politikwissenschaftlichen These vom „Kampf der Kulturen“ im Sinn von Samuel P. Huntington erscheinen könnte, ist de facto die hellsichtig vorwegnehmende Kritik eines solchen antagonistischen Denkens in der markanten dramatischen Auseinandersetzung mit Alteritätsdiskursen um 1800.

Antonio Roselli erörtert in seinem Aufsatz zentrale Aspekte von Grillparzers Ästhetik im Kontext des Frührealismus, den er mit Ulrich Fülleborn und Monika Ritzer als eine von Grillparzer und wichtigen Vormärz-Autoren wie Grabbe, Büchner und Heine geteilte „gemeinsame Problemlage“ beschreibt, was das krisenhafte Verhältnis zur Wirklichkeit anbelangt. Der Begriff verzeichnet die stilistische Pluralität ihrer Literatur als Pendant dieses Krisenbewusstseins angesichts der Unverfügbarkeit der Wirklichkeit, nicht als ästhetischen Mangel, und er vermeidet die geläufigen Schwierigkeiten in der Zuordnung von Grillparzers Werk im Rahmen geschlossener Epochenkategorien. Entstehungsphasen, Veröffentlichungs- und Aufführungsdaten fallen bei Grillparzer häufig weit auseinander, wie Roselli in seiner Einleitung am Beispiel von Libussa erinnert. Er erläutert die an den Veränderungen der Zeitsemantik orientierte historische Typologie der Wirklichkeitsbegriffe bei Hans Blumenberg, dessen vierter von vier Wirklichkeitsbegriffen ebenfalls auf die schiere Faktizität (das „factum brutum“) einer unverfügbaren Realität zielt, und mit Bezug auf Fülleborn, der sie mit Blick auf die Zeitgestaltung in Grillparzers Dramen beschrieben hat. Unverfügbar wird im Zuge des äußeren Begründungsdefizits und der gesteigerten Kontingenzerfahrung nach 1800 auch das Subjekt für sich selbst, wie Roselli im folgenden Abschnitt seines Beitrags expliziert, der zur Beschreibung dieser Tatsache auf den Begriff der negativen Anthropologie und der postidealistischen Subjektivität rekurriert. Seine weiteren Ausführungen gelten den ästhetischen Implikationen zu diesem Krisenbefund in Grillparzers unsystematischer und antisystematischer Ästhetik und seiner Kritik des Systemdenkens generell sowie der Problematik der Ordnungsvorstellungen in seinem Œuvre. Er zeigt, was die ästhetische Evidenzerfahrung bei Grillparzer ausmacht, und illuminiert das zentrale Bild von der „Körperlichkeit der Poesie“ und den sprachlich geschaffenen Erfahrungsraum, den dieses Bild eröffnet.

Die beiden Beiträge von Marc Lacheny und Barbara Bollig zur internationalen Grillparzer-Rezeption in Frankreich und zur neueren Adaption seiner Stücke auf deutschsprachigen Bühnen im 21. Jahrhundert unterstreichen abschließend noch einmal den Gegenwartsbezug des ganzen Bandes.

Marc Lacheny präsentiert einen Aufriss zur französischen Grillparzer-Rezeption in der Literaturwissenschaft und im Theater sowie zu den Übersetzungen seines Œuvres. Der historische Befund ist eher dürftig, wie sein informativer Überblick zeigt, denn Grillparzer war in der Vergangenheit weder in den französischen Literaturgeschichten noch auf dem Theater besonders häufig vertreten, und wenn dann in einigen wenigen Inszenierungen und Gastspielen in deutscher Sprache. Die französische Germanistik hat ihn in erster Linie als exemplarischen Österreicher betrachtet, mit Blick auf das literarische Vorbild von Weimar und als literarischen Erben einer barocken Tradition – am wirkungsvollsten und nachhaltigsten im einflussreichen Werk von Roger Bauer. Das gemeinsame Ziel trotz methodologischer Differenzen war die Bestimmung der kulturellen Besonderheiten der österreichischen Literatur. Weitere Impulse für die französische Forschung haben die verschiedenen Grillparzer-Jubiläen und Gedenktage geboten; die aufregendsten Entwicklungen aber sind neueren und neuesten Datums und umfassen eine jüngere Generation von Austriazist:innen, zu denen neben Jacques Lajarrige und Éric Leroy du Cardonnoy auch der Verfasser des vorliegenden Beitrags zählt. Ein Mittelpunkt der neueren französischen Forschung und Literaturvermittlung betrifft Grillparzers Goldenes Vließ. Es war Gegenstand von mehreren Tagungen und einigen wichtigen Veröffentlichungen, wie Lacheny dokumentiert. Im Herbst 2017 erschien auch die mit dem renommierten Prix-Nerval-Goethe ausgezeichnete französische Übersetzung von Grillparzers antiken Dramen von Gilles Darras, die die Möglichkeiten einer breiteren Rezeption Grillparzers auf französischen Bühnen eröffnet.

€62,40