GEGEN UNENDLICH 16

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GEGEN UNENDLICH 16
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Michael J. Awe & Andreas Fieberg (Hrsg.)

GEGEN UNENDLICH

Phantastische Geschichten

Ausgabe 16

AndroSF 135

Michael J. Awe & Andreas Fieberg (Hrsg.)

GEGEN UNENDLICH

Phantastische Geschichten

Ausgabe 16

AndroSF 135

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© dieser Ausgabe: März 2021

p.machinery Michael Haitel

Titelbild: Stefan Böttcher (»Lange vor unserer Zeit«)

Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda

Lektorat: Andreas Fieberg

Korrektorat: Michael Haitel

Herstellung: Schaltungsdienst Lange oHG, Berlin

Verlag: p.machinery Michael Haitel

Norderweg 31, 25887 Winnert

www.pmachinery.de

für den Science Fiction Club Deutschland e. V., www.sfcd.eu

ISBN der Printausgabe: 978 3 95765 234 8

ISBN dieses E-Books: 978 3 95765 861 6

Vorwort

Liebe Freunde des Fantastischen,

wenn es denn zutrifft, dass endlich gut wird, was lange währt – dann muss diese Ausgabe von GEGEN UNENDLICH vorzüglich sein … denn mehr als ein Jahr lang haben wir unsere Leser auf eine neue Nummer warten lassen. Wir sind allerdings überzeugt, dass sich das Warten gelohnt hat, und hoffen, dass die Lektüre für die überstandene Durststrecke entschädigt.

Dabei scheint eine Rückkehr zur Alltagsroutine in diesen verdrehten Zeiten kaum möglich. Vieles muss neu gedacht werden. Der in der fantastischen Literatur viel beschworene Riss in der Realität, durch den Albträume oder das Magische und das Übernatürliche in unser Leben treten, hat unversehens Gestalt angenommen.

Die Geschichte »Dann reißen wir aus« von Nicole Grom erreichte uns vor Ausbruch der Virenkrise, aber wie der Zufall es wollte, thematisiert sie eine Seuche, die die Menschheit über Jahrhunderte heimsuchte.

Wie in einem Zerrspiegel, der den Augenschein Lügen straft, zeigt sich ein anderer Blick auf unsere ach so vertraute Wirklichkeit. So gesehen kann man fantastische Geschichten auf neue Art ernst nehmen, und zwar besonders, wenn sie so gekonnt erzählt werden wie von den Autoren, die sich diesmal in GEGEN UNENDLICH zusammengefunden haben. Das Genre ist zeitgemäßer denn je. Auch diese Erkenntnis kann ansteckend sein.

Helga Anton-Beitz geht in »Momentum« der Frage nach, inwiefern naturwissenschaftliches Neuland die seelische Natur von Probanden beeinflussen kann, während Michael J. Awe seine Heldin, eine greise Astronautin, in »Die Passage« auf eine letzte Seelenreise schickt. Ein eindrückliches Stimmungsbild einer anderen menschlichen Heimat entwirft Lukas Vering in »137«. In Marjan Asgaris »Silver« gibt die Identität eines neuen Mitglieds einer Sprayergang Rätsel auf. Der Faszination von Clowns erliegt eine junge Reporterin in Ellen Nortens »Der Clown«. Oder ist es doch ganz anders? Wie etwa in Joachim A. Hagens »Das Ebenbild«: gleich und doch nicht dasselbe, Mensch oder nicht Mensch?

Alte Gewissheiten sind plötzlich infrage gestellt, vertraute Sicherheiten von heute auf morgen Makulatur. Ebenso geht es den Figuren in Luisa Henkes »Frostfreden«, die eine Begegnung im Sinne einer Aussöhnung zweier Welten erleben. In Helmut W. Mommers »Loris Wunderland« entfalten die unschuldigen Fantasien eines Kindes eine verheerende Dynamik, während in der boshaften Mär vom »Schneider« von Uwe Durst eine Frau ihren Mann bis aufs Blut quält. Der titelgebende Schausteller in Jana Grügers »Der Gaukler und die Hexe« muss für einen Moment des Zorns bitter büßen. In Kurt Tichys »Die Brille« fördern die neuen Augengläser eines Anwalts mehr zutage, als ihm lieb ist, während Telefonterror in Andreas Fiebergs »Aufwachen« die wohlverdiente Nachtruhe stört.

Und ist es etwa ein Omen, dass sich zwischen diesen Buchdeckeln exakt 13 Geschichten versammeln? Wir sind nicht abergläubisch, aber es kann nicht schaden, auf der Hut zu sein. Meiden Sie Begegnungen mit schwarzen Katzen, schauen Sie unters Bett, bevor Sie sich schlafen legen, tragen Sie stets eine Maske und wahren Sie Abstand! Am sichersten ist es, wenn Sie sich mit Ihrer Lektüre an einen einsamen Ort zurückziehen. Das Einzige, was Sie dort erreichen wird, ist das Wunderbare einer anderen Wirklichkeit. In diesem Sinne wünschen wir gute Unterhaltung!

Die Herausgeber

Michael J. Awe & Andreas Fieberg

Bonn, im Februar 2021

Helga Anton-Beitz: Momentum

Der Kokon hängt in der Mitte der Halle. Eine silberne Hülle aus einem ultradünnen, metallischen Gewebe. Er wird festgehalten von spinnwebfeinen Fäden. Nachdem ich mich hineingelegt habe, werden sie den Kokon beschleunigen, tagelang, in einem ständig neu berechneten Rhythmus. Dann werden sie wegschmelzen, einer nach dem anderen, bis ich schnell genug bin und keinen Faden mehr brauche. Mein Anzug ist aus dem gleichen Gewebe. Er ist meine zweite Haut. Das muss so sein, für den Aufbau des Anti-Higgsino-Felds um mich herum.

Gestern wurden Fotos gemacht, Heldenfotos: Ich, vor der Flagge der World Arrow Association, bereit, Geschichte zu schreiben; rechts neben mir das Jahrtausendgenie Scott Preston, Physiker, Nobelpreisträger 2027, mit 35 Jahren, aus der Altersresidenz herbeigeschafft und zurechtgemacht, noch immer die intelligentesten Augen auf diesem Planeten; links neben mir Natascha Daniels, Chefingenieurin, ebenso genial, aber ohne jede Chance auf den Nobelpreis, was sie den Physikern, insbesondere Scott, nie verzeihen wird, lebt auf dem Campus in ihrem Büro; Salvatore Ferrano, Chefkoordinator, Mann der letzten Sekunde, hat nicht nur die großen und kleinen Katastrophen verhindert, sondern dank seiner Menschenliebe auch diverse Gewaltverbrechen des geballten Ehrgeizes auf dem Campus; Maria McCormick, Chefmedizinerin, klebt an mir, wie die Sensoren auf meiner Haut; Chef-PR in der zweiten Reihe, Chefjurist, Chef- … Ich habe gestrahlt, ich war schön, trainiert wie nie, die langen schwarzen Haare machten sich gut zum silbernen Glanz meines Anzugs. Ich habe mir nichts anmerken lassen, Logan.

Die Generatoren verstecken sich hinter Boden, Decke und Wänden. Es geht also um interstellare Reisen. Der Mensch überdauert diese, indem er in Stase versetzt wird. Durch Eintunken in eine schleimige Flüssigkeit oder durch Tiefgefrieren. Das haben wir in ungezählten Filmen gesehen. Aber so ist es nicht. Dafür hätte ich mich nicht hergegeben. Nein, das hier ist viel eleganter: Das Licht reist mit 300.000 Stundenkilometern, und würden wir auf der Spitze dieses Pfeiles stehen, wären wir nicht nur genauso schnell, für uns bliebe auch die Zeit stehen. Und das ist auch schon alles. Man beschleunige einen Menschen auf eine möglichst hohe Geschwindigkeit und er wird entsprechend langsam altern. Schickt man ihn hierzu in eine Kreisbahn, eine ziemlich kleine, dann kann man ihn dabei bequem in ein Raumschiff packen. Das Anti-Higgsino-Feld sorgt dafür, dass dieser Mensch sehr, sehr leicht und sehr, sehr schnell wird und trotzdem nicht auseinanderfliegt. Mit Bakterien hat das funktioniert. Mit Mäusen und Hunden auch. Jetzt bin ich an der Reihe.

Ich bin ein gewöhnlicher Mensch: 25 Jahre alt, ohne Partner, keine Kinder, Grundstimmung gelangweilt, bereit, einen nicht genau zu beziffernden Teil meines Lebens zu überspringen. Ich bin durchschnittlich in Größe und Gewicht. Aber in einer Sache bin ich besonders und unterschied mich damit von allen anderen Bewerbern. Mein Masseschwerpunkt ist genau dort, wo er sein soll, in meinem Nabel. Und, was noch wichtiger ist, meine Körpermasse ist um diesen Schwerpunkt symmetrisch verteilt. Rechts und links, oben und unten, diagonal, die Masse ist immer gleich. Das macht die Beschleunigung einfacher und reduziert die benötigte Rechnerleistung. Es spart also eine Menge Geld. Die World Arrow Association konnte ihr Glück nicht fassen, und ich hatte den Job. Ich werde also die Erste sein, die mit nahezu Lichtgeschwindigkeit auf einer Kreisbahn mit einem Radius von 10 Zentimeter dahinrasen wird. Unglaubliche 500 Millionen Mal in der Sekunde werde ich diesen Kreis beschreiben. Gloria, die silberne, diffuse Wolke. Soweit der schöne Plan.

Aber du musstest ja dazwischenkommen, Chefmentor Logan. Deine Aufgabe war es, mir die Wissenschaft halbwegs begreiflich zu machen, die hinter all dem steckte. Du solltest mir erklären, was auf mich zukam und wie sich die Zeit im Kokon für mich anfühlen könnte. Aber das hat dir nicht gereicht. Ich hätte es wissen können. Du hast diese unergründliche Ruhe ausgestrahlt, bist damit durch die Hektik des Campus geschritten, wie Moses durch das Rote Meer. Ja, dank deiner weiß ich jetzt, wer das war. Dein Interesse an diesem neuartigen Zustand, den ich erfahren würde, war grenzenlos. Transzendental könne er werden, hast du gesagt, und musstest mir erklären, was das ist. Dafür würde es aber nicht reichen, im Kokon meine Herzschläge zu zählen, wie Maria geraten hatte. Ich müsste mich schon auf meine wahre Mitte konzentrieren. Und dann hast du mich in dieses Kloster geschleppt. Ich habe mich darauf eingelassen, Logan, habe mit den Mönchen über die alten Religionen diskutiert, habe meditiert und gelesen. Irgendwann hielt ich dieses sehr alte Buch mit dieser sehr kleinen Malerei in den Händen: Ein Mann in einem Himmelbett, viele Menschen stehen bei ihm, seine Augen sind aufgerissen, der Arm hängt schlaff über der Bettkante. Der Mund ist offen und aus ihm fliegt ein Engel heraus. Die Mönche sagten, das sei die Seele, die den Körper im Moment des Todes verlässt.

 

Die Generatoren laufen auf niedrigster Stufe. Die Anti-Higgsinos wehen durch mich hindurch, wie eine sanfte Brise. Natascha steht neben mir. Sie wird mich zum Kokon begleiten. Nicht, dass ich den Weg nicht alleine gehen könnte, aber die Wichtigkeit des Augenblicks verlangt es. Außerdem möchte sie ihr Stückchen Ruhm abhaben. Beim Kokon stehst du, Logan, hinter dir die breite Glasfront von Mission Control. Wenn wir bei dir sind, werden ein paar der Fäden von der Decke zu uns herunterkommen. Natascha wird sie an die richtigen Stellen meines Anzugs führen und die Halle verlassen. Du wirst mir die guten Wünsche der ganzen Menschheit überbringen und ebenfalls gehen. Dann werden die Generatoren hochgefahren. Ich werde langsam aufsteigen, oben angekommen in den Kokon gleiten, die Hülle wird sich an mich schmiegen und sich über mir schließen. Aber das, Logan, wird nur passieren, wenn du die Antwort für mich hast. Wir gehen los. Es kribbelt an meiner rechten Schläfe. Das kraniale Interface hat sich eingeschaltet.

Ihr alle könnt es sehen. Es zieht sich von meinem Ohr bis zur Mitte der Stirn und schließt am unteren Rand harmonisch mit dem Bogen meiner Augenbraue ab. Meine Gedanken sind jetzt auf Sendung, für die ganze Welt. Das ist okay, das ist auch für meine Sicherheit, denn schließlich kann ich während der Zeit im Kokon nicht sprechen und mich nicht bewegen. Und mit den Körperfunktionen lässt sich nichts mehr anfangen. Auch wenn du etwas anderes behauptest, Maria. Was willst du schon über ein Herz sagen, das in deiner Betrachtung gerade noch ein Mal in der Minute schlägt? Welche Informationen geben dir meine Blutwerte, wenn ich praktisch keinen Stoffwechsel mehr habe? Pack mich nicht so fest am Arm, Natascha, auch wenn ich nicht das denke, was vereinbart war: Ich freue mich, dass dieser historische Tag endlich … ich bin dankbar, dass ich das für die Menschheit … ich verspreche mein Bestes … Nein, ich denke für euch an letzte Woche. Wir haben für das Heldenfoto geprobt. Die Flagge war aufgestellt, auf den Boden waren Kreuze gemalt, damit wir sahen, wo wir uns hinstellen sollten. Keiner der Chefs hatte Zeit für diese Probe, nur eine Woche vor dem großen Tag. Also hat man einfach die Leute, die zufällig herumstanden und von ihrer Größe her passten, um mich herum drapiert. Das hätte funktioniert, wenn nicht einer der Statisten genau in diesem Moment einen Herzschlag bekommen hätte. Er fiel zu Boden, Geschrei, Durcheinander, Notruf, jemand kniete sich zu ihm hinunter. Ich sah zu, ich sah in seine aufgerissenen Augen, sah, wie er starb. Es geschah nicht vom Bruchteil einer Sekunde auf den nächsten. Es nahm Zeit in Anspruch, und Raum. Wie eine Welle, die sich am Strand überschlägt, wie eine Sternschnuppe, die verglüht, wie ein paar Flügelschläge. Natascha, du tust mir weh. Ich werde nicht in den Kokon steigen, hört ihr, ich werde nicht einsteigen, bevor ich nicht weiß, was mit meiner Seele dort drinnen passieren wird. Bleib doch nicht so plötzlich stehen, Natascha, du zerreißt noch den Anzug. Ich kann nichts dafür, Logan ist an allem schuld. Was sind das für Leute, die auf uns zukommen? Ihr habt Sicherheitspersonal hier drinnen? Das habt ihr mir nie gesagt. Keine Angst, ich werde nichts kaputtmachen. Ich werde nur nicht einsteigen. Maria, sag ihnen, dass ich ganz ruhig atme, sag ihnen, dass ich keine aggressiven Hormone im Blut habe. Ihr wolltet doch, dass ich die Sache verstehe. Ich weiß jetzt eben, dass mein Körper mit seiner Masse den Impuls der Beschleunigung aufnehmen wird. Glaubt mir, das hier ist kein Anschlag. Setzt euch wieder hin, in Mission Control, und nehmt die Hände von den roten Knöpfen. Von meiner Seele habt ihr nie gesprochen. Hat sie eine Masse und wird mit mir auf die Reise gehen? Oder hat sie keine und wird aus meiner Zeit herausfallen? Ihr müsst mich zu Logan lassen. Bitte, lasst uns weitergehen. Logan hat nach der Antwort gesucht. Scott, Sie sind alt genug, um mich zu verstehen. Sagen sie Natascha, sie soll weitergehen. Seht ihr denn nicht, dass Logan die ganze Zeit lächelt? Er kennt die Antwort. Und wenn doch nicht, dann werde ich mit den Sicherheitsleuten nach draußen gehen. Versprochen. Na endlich, danke Scott. Bin ich noch auf Sendung? Ihr sollt wissen, dass die Anti-Higgsinos durch mich hindurchwehen wie eine sanfte Brise. Nur noch ein paar Schritte. Ich freue mich, dass dieser historische Tag endlich gekommen ist. Ich bin dankbar, dass ich das für die Menschheit tun darf und ich verspreche, mein Bestes zu geben.

»Die Antwort, Logan!«

»42«, du lächelst, »Gramm.«

Michael J. Awe: Die Passage

Die Sterne spiegelten sich in den Augen der alten Frau, die reglos vor der transparenten Hülle der Außenwand stand. Die Uniform an ihrem immer noch aufrechten Körper war ihr nach all den Jahren im Weltraum zu einer zweiten Haut geworden. Ihr tiefes Blau verschmolz mit dem schwarzen Hintergrund des Alls. Für einen Moment stellte sie sich vor, wie sich das Sichtfenster ihres Raumes auflösen und das Vakuum sie in die eisige Stille hinaussaugen würde, wo ihr Körper Ewigkeiten umhertreiben konnte. Ein verschwindend kleiner Gegenstand zwischen den Sternen. Das Letzte, was sie wahrnehmen würde, wäre die absolute Geräuschlosigkeit, die alles Leben erstickte.

Ein leises Türsignal ertönte, dann glitt die Tür zu ihrem Raum auf.

»Kapitän«, erklang eine Stimme hinter ihr. Es war Ivan, der Chefmechaniker an Bord.

»Was gibt es?«, sagte sie, ohne sich umzudrehen. Sie verspürte einen Widerwillen, ihren Blick von der endlosen Weite abzuwenden.

»Das sollten Sie sich einmal angucken«, antwortete Ivan. »Wir haben einen blinden Passagier.«

Neben der breiten Gestalt ihres Chefmechanikers stand ein Mädchen von vielleicht vierzehn Jahren, in dicke, robuste Sachen gehüllt, die ihr alle eine Nummer zu groß waren. Ihr strähniges, schwarzes Haar ließ erkennen, dass sie lange kein Bad mehr gesehen hatte. Der Kapitän überschlug im Kopf ihren jüngsten Landaufenthalt, der auf Deleria 4 vor knapp drei Wochen gewesen war. Einer der letzten bewohnten Planeten vor der Passage.

Sie fixierte das Mädchen, das unter ihrem Blick nervös wurde. Mit einem Wink gab sie dem Chefmechaniker zu verstehen, dass er sie allein lassen sollte. Mit ruhigen Schritten ging der Kapitän zu einem altmodischen Holztisch, der an der Kopfseite des Raumes stand.

»Mein Name ist Shavon«, sagte sie. Ihr Name kam ihr ein wenig schwerfällig über die Lippen, da sie meistens nur als der Kapitän bezeichnet wurde. Sie nahm eine Porzellantasse zur Hand, deren Form und Dekor von vergangenen Zeiten zeugten. Das Licht von der Decke blitzte für einen Moment auf den silbernen Abzeichen an ihren Unterarmen.

»Du bist an Bord der Ikarus.«

Sie goss Tee in die Tasse. Das Mädchen stand wie angewurzelt neben der Tür und beobachtete jede ihrer Bewegungen. Ihr Haar war von so einem tiefen Schwarz, dass es im Schein der Deckenbeleuchtung bläulich schimmerte.

»Damals hatten die Namensgeber der Raumschiffe noch Humor!«

Der Kapitän nahm einige Butterkekse aus einer verzierten Keksdose und legte sie auf einen Teller. Der Blick des Mädchens verharrte auf dem Gebäck.

Der Kapitän machte eine einladende Geste auf den freien Stuhl ihr gegenüber und nahm am Tisch Platz. »Weißt du, was man früher mit blinden Passagieren gemacht hat?«, begann sie beiläufig und schenke sich ebenfalls von dem schwarzen Tee ein. »Zu der Zeit, als die Schiffe noch die Meere der Erde befuhren, warf man ungebetene Gäste ins Wasser und überließ sie ihrem Schicksal. Oder man kielholte sie.«

Die Augen des Mädchens weiteten sich und ihr schmaler Brustkorb unter der groben Kleidung hob und senkte sich sichtbar.

»In heutigen Zeiten muss sich der Kapitän allerdings mit der Luftschleuse begnügen.«

Das hagere Gesicht der Offizierin glich einer ausgehärteten Maske aus Lehm, in die man Muster geritzt hatte. Ihr kurzes graues Haar, das sie wie ein Mann trug, war in der schwachen Beleuchtung des Raumes ein heller Fleck.

»Das All ist ein unwirtlicher Ort«, sagte sie und griff nach dem Sahnekännchen. »Glaube mir, wir Menschen haben hier nichts verloren.« Sie winkte den blinden Passagier heran. »Komm her, Kleines! Stell dich nicht so an!«

Die Lippen des Mädchens pressten sich aufeinander. Ohne sie anzusehen, nahm das Kind ihr gegenüber Platz.

»Du bist stumm«, sagte der Kapitän. Es war eine Feststellung, keine Frage.

Das Mädchen zog aus ihrer Jacke ein Büchlein aus Papier und schrieb mit einem Stift einige Buchstaben hinein. Mit schmutzigen Händen schob sie das dünne Heft über den Tisch. Die alte Frau beugte sich nach vorne und las: Aline.

»Ein schöner Name!« Der Kapitän berührte mit den Fingerspitzen das Papier. »Und ein schönes, altes Material.«

Aline schielte heimlich zu dem Keksteller hinüber und der Kapitän schob ihr den Teller hin. Zögernd nahm das Mädchen einen Keks und biss hinein.

»Aber was machen wir nun mit dir?«

In der einsetzenden Stille war das Kauen Alines deutlich zu hören. Sie zog wieder das dünne Heft hervor und schrieb in kleinen Druckbuchstaben etwas unter ihren Namen.

»Wirfst du mich nach draußen?«, las der Kapitän.

Der Kapitän beobachtete das zierliche Ding in den zu großen Klamotten, die sie nervös ansah. »Warum bist du hier?«

Aline schüttelte den Kopf.

»Du weißt es nicht oder du möchtest es mir nicht sagen?«

Das Mädchen starrte auf ihre Hände und rührte sich nicht mehr. Ihr langes schwarzes Haar bedeckte ihr schmales Gesicht. Die alte Frau lehnte sich im Sessel zurück und betrachtete Aline über den Rand der Tasse hinweg. Vierzig Jahre hatte sie auf Schiffen im All verbracht und nie war ein blinder Passagier an Bord gewesen. Nicht einer. Und jetzt tauchte dieses dünne Geschöpf in zu großen Klamotten auf, schmutzig und stinkend … Es kam ihr bedeutsam vor.

»Erst mal bleibst du an Bord. Notgedrungen …«

Aline schaute auf.

»Und ich schlage eine Dusche vor …«

Das Mädchen roch am Ärmel ihres Pullovers, die blassen Wangen hatten etwas Farbe bekommen.

»Iss erst mal! Den Rest erledigen wir später.«

Aline schnappte sich einen weiteren Keks und stopfte ihn sich in den Mund. Der Kapitän fragte sich, von was das Kind die letzten drei Wochen gelebt hatte? Ruhig sah sie Aline dabei zu, wie sie ein Plätzchen nach dem anderen verdrückte. Die Weite des Alls und das Alter hatten sie Geduld gelehrt. Erst als der ganze Teller leer war, griff das Mädchen nach der Tasse und trank sie in hastigen Zügen.

»Weißt du eigentlich, wohin die Reise geht, Kleines?«

Aline erstarrte mitten in der Bewegung.

»Das ist meine letzte Fahrt, mein Kind«, sprach der Kapitän. »Du hast dir einen merkwürdigen Zeitpunkt ausgesucht, um zu uns zu stoßen!«

Ein akustisches Signal ertönte aus einem Lautsprecher an der Decke und Aline zuckte zusammen. »Kapitän«, erklang eine Stimme »Wir sind da!«

Eine Weile blieb die alte Frau sitzen und beobachtete das Mädchen, als wäre nichts vorgefallen. Dann erhob sie sich und zog die Uniformjacke zurecht. »Ich glaube, das sollten wir uns ansehen!«

Als sie mit Aline die Brücke betrat, konnte sie die Neugierde in den vertrauten Gesichtern erkennen. Die meisten dienten seit zwanzig Jahren unter ihr, sie hatten vieles gesehen und gehört, aber ein blinder Passagier stellte eine kleine Sensation an Bord dar.

Auf dem holografischen Display an der Stirnseite des Raumes erschien das Bild eines winzigen Himmelskörpers. Während sie alle auf den unscheinbaren Fleck schauten, spürte der Kapitän die Anspannung der Mannschaft. Es war ein kurzer Zwischenstopp, bevor sie die Passage nahmen. Viele Schiffe hielten hier, ehe sie ins Ungewisse sprangen. Und doch war es mehr als das. Eine Legende unter den Sternenfahrern.

»Schau dir diesen armseligen Felsbrocken an«, sagte der Kapitän zu Aline. »Kaum groß genug, damit unser Schiff landen kann. Aber er beherbergt einen der heiligsten Orte des bekannten Universums.«

Der Kapitän sah die Spiegelung des Planeten in den dunklen Augen des Mädchens. Was für eine seltsame Kombination, dachte sie. In dem Moment wusste sie, was sie zu tun hatte.

»Du kannst mich begleiten!«, sagte sie.

Das Mädchen starrte den grauen Fleck auf dem Display an.

Die Landedüsen des Sternenschiffes wirbelten hellen Staub auf, als es inmitten der öden Steinlandschaft aufsetzte. Noch während der Antrieb erlosch, eilte der Kapitän mit schweren Schritten durch die Gänge, das Mädchen dicht hinter ihr, und ließ die schweigsame Mannschaft zurück. Sie war nie ein Freund überflüssiger Worte gewesen und es gab nichts mehr zu sagen. Als sie mit Aline nach draußen trat, standen sie unter einem üppigen Sternenhimmel.

 

»Dort«, sagte der Kapitän und deutete auf einen entfernten Klecks in der tiefen Schwärze. »Da hinten befindet sich die Erde. Ich bin so weit weg von ihr, wie ich es noch nie war.«

Aline zeigte zum Himmel, rieb sich über die Arme und machte eine fragende Geste.

»Das stimmt!«, antwortete der Kapitän. »Keine Sonne! Und doch erfrieren wir nicht. Du bist sehr schlau.«

Aline atmete tief ein und klopfte auf ihre Lungen.

»Die Atmosphäre und die Schwerkraft des Planeten sind künstlich, aber niemand weiß, wie es gemacht wird. Man sagt, dass sich die Lebensbedingungen hier an die Besucher anpassen, sodass jeder die Möglichkeit hat, das heilige Buch zu sehen.«

Das Mädchen blickte skeptisch. Das hätte sie, wie die alte Frau dachte, in ihrem Alter auch getan. Als Kind hatte sie an Wunder und all die Phänomene geglaubt, die die Naturgesetze nicht erklären konnten. Das war der Grund gewesen, warum sie die Offizierslaufbahn angestrebt hatte. Sie wollte irgendwann ins All starten und das Unerklärliche mit eigenen Augen sehen. Aber als es endlich so weit war, war von den Vorstellungen ihrer Kindheit nicht mehr viel übrig geblieben.

In einiger Entfernung befand sich ein hohes Gebäude, in dessen Fenster ein schwacher Schein glomm. Es war das einzige sichtbare Bauwerk in der öden Wüstenlandschaft. Der Kapitän sah sich nach der Ikarus um. Die vertrauten Umrisse des Raumschiffs hatten ein schwarzes Loch in den Sternenhimmel gestanzt. Sie spürte die Blicke ihrer Mannschaft, die ihr ein halbes Leben lang gefolgt war.

Seite an Seite mit Aline ging sie auf das Heiligtum zu. Der stechende Schmerz in ihrem Unterbauch machte sie kurzatmig, aber sie hatte gelernt, mit ihm auszukommen. Der Boden leuchtete schwach im Glanz der Sterne.

Sie waren nicht lange gegangen, da schälten sich die Umrisse einer Gestalt aus der Dunkelheit. Zuerst hatte der Kapitän an eine Sinnestäuschung gedacht, aber bald konnte sie eine Kutte erkennen, deren Kapuze wie der übergroße Kopf eines Jungvogels wirkte. Langsam bahnte sich die Gestalt einen Weg zwischen den Steinen entlang, verschwand kurz in einer Senke und tauchte schließlich mit ihrem gemächlichen Schritt oben wieder auf. Als sie vor ihnen stehen blieb, stellte sie sich als schlanker Mann von unbestimmbaren Alter heraus, dessen bloße Füße in schlichten Sandalen steckten. Seine graue Robe besaß die Farbe der Steinwüste. Er schob seine Kapuze zurück und sah sie mit unergründlich schwarzen Augen an. »Seid Ihr gekommen, um das Buch der Sterne zu sehen?«

Der Kapitän nickte und legte die Hand auf die Schulter von Aline. »Wir haben einen weiten Weg hinter uns.«

»Folgt mir!«

Langsam ging der Mönch vor ihnen her. Sie passten sich seinem gemächlichen Schritttempo an, während sich ihre Augen allmählich an die Dunkelheit gewöhnten. Der Kapitän betrachtete den Mönch und fragte sich, ob er nur ihnen wie ein Mensch erschien oder ob er wirklich einer war? Unter den Sternenfahrern erzählte man sich, dass die Hüter des Heiligtums von Menschen abstammten, die vor langer Zeit die Erde verlassen hatten. Mehrere Generationen lang sollen sie durchs All gestreift sein, bis sie hier ankamen, kaum noch eine Handvoll Individuen. Sie errichteten das Gebäude mit ihren bloßen Händen.

Während sie einen sanften Abhang hinuntergingen, zog Aline erschrocken die Luft ein und zeigte mit der Hand nach vorn.

Mehrere Gestalten verließen gerade das hohe Gebäude. Aline sah mit schreckgeweiteten Augen zu den Skeletten hinüber, deren bleiche Knochen sich deutlich in der Dunkelheit abzeichneten.

»Es heißt«, flüsterte der Kapitän dem Mädchen zu, »dass der Mönch ewig lebt, aber das ist nicht wahr. Er lebt nur sehr lange. Eines Tages muss auch er sterben und dann … Nun, das wirst du bald sehen.«

Sie kamen an einem Hang vorbei, in dem der Eingang einer Höhle lag. Eines der Skelette trat mit einem Tablett heraus und ging direkt auf sie zu. Aline wich ein wenig zurück. Die bleichen Knochen schimmerten, wie mit einer klaren Flüssigkeit eingerieben, und als es vor ihnen stehen blieb, brachte es den Duft von Weihrauch mit sich. Auf dem Tablett standen zwei irdene Becher.

Der Kapitän nahm die beiden Becher, einen davon reichte sie an das Mädchen weiter, das misstrauisch an dem blutroten Inhalt schnupperte. Die alte Frau trank den schweren Gewürzwein in einem Zug aus. Das Aroma breitete sich in ihrem Mund aus. Trauben, dachte der Kapitän. Muskat. Zimt. Und irgendetwas Süßes.

Aline nippte an dem Wein und schüttelte sich. Das Skelett wartete, bis sie ihre Becher wieder auf das Tablett gestellt hatten, und entfernte sich ohne ein Wort. Das Mädchen ließ das Wesen nicht aus den Augen.

Der Mönch blickte Aline fragend an.

»Das Mädchen ist stumm«, sagte der Kapitän.

Der Mönch musterte das Mädchen und wandte sich ab. Schweigend ging er weiter voran zu dem Gebäude.

Aline wäre beinahe gestolpert, weil sie sich immer wieder umblickte, und stieß den Kapitän fragend an.

»Man sagt«, erklärte die alte Frau, »dass ein Mönch nach seinem Tod weiterhin dem Heiligtum dient. Was du hier siehst, sind alles seine Vorgänger. Sie kümmern sich um die Instandhaltung des Gebäudes und die Versorgung des Mönchs. Es sind die stummen und dienstbaren Geister dieses Ortes.«

Der Mönch ging langsam voran. Das Gebäude vor ihnen wurde allmählich größer, war aber immer noch undeutlich zu erkennen. Seine Umrisse verschwammen vor dem Grau der Steinwüste.

Als Mädchen war der Kapitän häufig in einen nahe gelegenen Wald gegangen und schon etliche Meter, bevor sie zwischen den ersten Bäumen stand, hatte sie eine Veränderung der Luft wahrgenommen, als würde sie in eine andere Atmosphäre eintauchen. An heißen Tagen war es wie der Aufenthalt am Ufer eines Sees gewesen, dessen Wasser ihren Körper kühlte und ihre Lungen reinigte. Während sie dem Heiligtum näherkam, hatte sie dasselbe Gefühl. Mit einem Schlag war sie wieder ein elfjähriges Mädchen in den Wäldern Nordenglands. Alles um sie herum veränderte sich, als würden die Dinge eine andere Nuance erhalten oder als wäre ihr Blick auf die Umgebung ein anderer, sie vermochte es nicht zu sagen.

Dann ist es also wahr, dachte sie.

Das heilige Gebäude war alt und verwittert. Es war nicht sonderlich groß, viel kleiner, als seine Bedeutung erwarten ließ, und aus demselben grauen Gestein wie die Landschaft. Wie direkt aus dem Boden gewachsen, dachte die alte Frau. Die oben abgerundete Tür bestand aus einem durchscheinenden Material und war von Raben bedeckt, die mit ausgebreiteten Flügeln in das Gebäude strebten. Der milchige Verlauf der Tür brach das Licht aus dem Inneren und erinnerte den Kapitän an einen Wasserfall, der plötzlich erstarrt war.

Sie wusste, dass die Tür nur für sie so aussah. Es gab unzählige Berichte darüber. Die alte Frau musterte die Raben, die in den Wäldern ihrer Kindheit allgegenwärtig gewesen waren. Ihr heiseres Krächzen und der kluge Blick, wenn man unter den Baumkronen entlangging, die Geschichten, die man sich von ihnen erzählte, weitergegeben von der Mutter an die Tochter und vom Vater an den Sohn. Der Anblick der Vögel brachte etwas zum Klingen in ihr. Sie legte die Hand auf die Außenseite der Tür, die keinen Griff hatte. Alte Worte stiegen in ihr auf.

»Der Regen bildete eine Tür für mich und ich trat hindurch.«

Nachdem die Worte in der klaren Luft verklungen waren, gab die Tür unter ihrer Berührung nach. Die alte Frau betrachtete ihre Finger, die halb in das vormals diamantharte Material eingesunken waren. Der Wein?, überlegte sie. Irgendwelche psychotropen Substanzen? Das schwere, süße Getränk war ihr zu Kopf gestiegen und alles wirkte ein wenig unscharf. Sie zog die Finger heraus und ließ sie wieder in die Tür gleiten, die keinen Widerstand bot. Es kam ihr nicht vor wie ein Taschenspielertrick.