Loe raamatut: «Geist und Leben 3/2015»

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Inhalt

Heft 3 | Juli–September 2015

Jahrgang 88 | Nr. 476

Notiz

Geist – Wind – Energie

Simon Peng-Keller

Nachfolge

„Man muss drinnen und draußen stehen“. Christussehnsucht und Kirchenkritik bei Simone Weil

Cornelius Roth

Hugo Ball zwischen Dada und Katholizismus. Auswege eines Künstlers nach 1914

Reto Friedmann

Die Visionen der Maria von Oignies. Hochmittelalterliche Bibelimagination neu gelesen

Iris Geyer

Leidenschaften und geistlicher Weg. Einsichten des Johannes Cassian

Gabriele Ziegler

Nachfolge | Junge Theologie

Eucharistische Spiritualität bei Augustinus. Impulse für die zeitgenössische Praxis

Thomas Fries

Reflexion

Gender und Spiritualität. Überlegungen zu einem nicht selbstverständlichen Verhältnis

Sabine Pemsel-Maier

Philosoph und Christ. Zum 10. Todestag Paul Ricœurs

Franz Prammer

Diakonische Spiritualität. Annäherungen an eine Grundwirklichkeit geistlichen Lebens

Joachim Kittel

Fortschreibungen mystischer Poesie. Die Dichter Christian Lehnert und Andreas Knapp

Georg Langenhorst

Lektüre

Freundschaft im Angesicht des Friedens. Mein Briefwechsel mit Merton und Massignon

Herbert Mason

Franziskanische Akzente. Eine neue Buchreihe zu franziskanischer Spiritualität

Paul Zahner OFM

Buchbesprechungen

Impressum

GEIST & LEBEN – Zeitschrift für christliche Spiritualität. Begründet 1926 als Zeitschrift für Aszese und Mystik

Erscheinungsweise: vierteljährlich

ISSN 0016–5921

Herausgeber:

Deutsche Provinz der Jesuiten

Redaktion:

Christoph Benke (Chefredakteur)

Anna Albinus (Lektorats-/Redaktionsassistenz; Satz)

Redaktionsbeirat:

Bernhard Bürgler SJ/Wien, Margareta Gruber OSF/Vallendar, Stefan Kiechle SJ/München, Bernhard Körner/Graz, Simon Peng-Keller/Zürich, Klaus Vechtel SJ/Frankfurt, Saskia Wendel/Köln

Redaktionsanschrift:

Pramergasse 9, A–1090 Wien

Tel. 0043–(0)1–310 38 43–111/112,

redaktion@geistundleben.de

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Druck und Bindung: Friedrich Pustet, Regensburg

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Diesem Heft liegen folgende Prospekte bei:

Zeitschrift für katholische Theologie, Echter Verlag; Heller als Licht. Religiöse Lyrik im Echter Verlag 2015 Wir bitten um Beachtung.

Notiz
N

Simon Peng-Keller | Zürich

geb. 1969, PD Dr. theol., Dozent für Theologie der Spiritualität und Begleiter kontemplativer Exerzitien, Beiratsmitglied von GEIST & LEBEN

simon.peng-keller@theol.uzh.ch

Geist – Wind – Energie

Das Churer Rheintal, in dem ich Geist und Leben erstmals entdeckte, ist klimatisch stark von jahreszeitlich wechselnden Winden bestimmt. In den Frühlingsund Sommermonaten dominiert der Westwind: wohltuend an heißen Sommertagen, doch nicht selten auch forsch und ungemütlich. Die Spezialität des Herbstes ist der Föhn. Er bläst aus dem Süden heran und rückt dabei die Berge heran und lässt sie messerscharf aufleuchten. An warmen Herbsttagen vibriert alles in einem überklaren, beinahe unwirklichen Licht. In den ersten Jahren meines Christwerdens faszinierte mich diese Lichterfahrung auch deswegen, weil sie mir das Bergereignis der Verklärung vor Augen stellte. Das Wahrnehmen sättigte sich mit biblisch inspirierter Imagination. Heute faszinieren mich stärker der warme Südwind selbst und seine merkwürdige Wirkmacht. Wenn er mich an einem dieser hellen Tage sanft berührt, kommt es mir so vor, als bringe er mir eine Botschaft von jenseits der Berge, deren Sinn ich nur erahnen kann.

Der Metaphorik des Windes wohnt ein kreatives Potenzial ein, das wunderbarerweise bis heute nicht aufgebraucht ist, obwohl die abendländische Geistesund Spiritualitätsgeschichte seit zweieinhalbtausend Jahren von seinem Honig zehrt. Unerschöpflich sind die Qualitäten der Luft und der Winde. Das eröffnet ein Spiel von Bezügen. Wo von Spiritualität gesprochen wird, steht jeweils ein Aspekt dieses metaphorischen Spektrums im Vordergrund. Nicht selten wird heute der energetische Bedeutungsaspekt betont. Spiritualität hat mit Energie zu tun, mit Kräften, die uns bewegen und bestimmen. In philosophischen Zusammenhängen wird meist stärker die Lichtmetaphorik und das inspirative Moment hervorgehoben. GEIST & LEBEN betont im Titel stärker den ersten Aspekt, den energetischen. Biblisch liegt die Rede GEIST & WAHRHEIT (Joh 4,24) ebenso nahe. Beide Aspekte, für die diese Leitworte stehen, sind gleichermaßen wichtig. Sie finden sich auch in der vorliegenden Ausgabe: Gottes Geist ist die vitalisierende Kraft göttlicher Gegenwart und ebenso der „Webmaster heilvoller Wahrheit“ (Kurt Erlemann).

Bestätigt sich aber, wenn man den Bildgehalt heutiger Rede von Spiritualität ins Auge fasst, nicht genau das, was in den letzten Jahren vielfach bemerkt und kritisiert wurde: dass es sich dabei um einen begrifflichen Container handelt, in den jeder und jede das hineinpacken kann, was ihm/ihr gerade in den Kram passt – oder vielleicht billig entsorgen möchte? Vor dem Hintergrund der Spiritualitätsgeschichte lassen sich in gegenwärtigen Spiritualitätskonzepten viele Reprisen entdecken. Das energetische und das weisheitliche Verständnis bilden darin zwei Hauptlinien. In bildhafter Sprache lassen sie sich besser zusammenhalten als in begrifflicher Sprache, in der es sich aufdrängt, scharf zwischen Geistigem und Körperlichem zu unterscheiden. Demgegenüber versteht die Bibel die Geist-Wind-Energie als verbindende Wirklichkeit. Sie ist materiell und immateriell zugleich – oder, als göttliche Leuchtkraft – jenseits dieser Unterscheidung. Was am heutigen Spiritualitätsbegriff beklagt wird, trifft damit, zumindest teilweise, bereits für die biblische Rede vom Geist zu. Sie dient als Gefäß für sehr Verschiedenes, gar für Gegensätzliches. Sie bezieht sich nicht allein auf Göttliches und Menschliches, sondern auch auf Widergöttliches und Unmenschliches. Dass damit eine Unbestimmheitszone eröffnet wird, mag beunruhigen. Doch gerade die Leerstellen sind das Erfolgsgeheimnis dafür, dass sich die Geistmetaphorik trotz intensivem Gebrauch bisher nicht verbraucht hat.

Das belegt auch das vorliegende Heft. Aufmerksame Leserinnen und Leser werden auf den folgenden Seiten nicht allein auf die Gender-Frage stoßen, die sich im Zusammenhang der göttlichen Geistkraft stellt, sondern ebenso beide Leitdimensionen der Geistmetaphorik entdecken: die energetische und die weisheitliche. Mit Blick auf Maria von Oignies, Christian Lehnert und Andreas Knapp wird die Kraft von Bildern und poetischen Bildworten vergegenwärtigt, im Ausgang an Johannes Cassian die Kraft der Leidenschaft. Auf der anderen Seite geht es um weisheitliche Denkformen im 20. Jahrhundert, für welche die Namen Simone Weil und Paul Ricœur stehen. Der Name Hugo Balls schließlich, steht für eine originelle Synthese, die im Rückgriff auf Dionysius Areopagita demonstriert, wie altehrwürdige spiritualitätstheologische Traditionsbestände sich in Krisensituationen plötzlich als Ressourcen widerständigen Denkens und Schaffens entpuppen.

NNachfolge

N

Cornelius Roth | Fulda

geb. 1968, Priester, Professor für Liturgiewissenschaft und Spiritualität an der Theol. Fakultät Fulda

roth@thf-fulda.de

„Man muss drinnen und draußen stehen“
Christussehnsucht und Kirchenkritik bei Simone Weil

Eine Hinwendung der Kirche zu jenen, die am Rand stehen, an der Peripherie der Gesellschaft und der Kirche, hat Papst Franziskus seit seinem Amtsantritt häufig angemahnt. Er selbst überschreitet mit seinen Aussagen immer wieder die Grenzen der Kirche und geht auf Außenstehende zu. Zeit ihres Lebens verstand sich auch die französische Philosophin, Soziologin und Mystikerin Simone Weil (1909–1943)1 als jemand, der an der Schwelle der Kirche steht, „am Schnittpunkt des Christentums mit allem, was es nicht ist“, und zwar aus Liebe zu allem, was außerhalb von ihr liegt: „Immer bin ich genau an dieser Stelle geblieben, auf der Schwelle der Kirche, ohne mich zu rühren, unbeweglich, ἐν ὐπομονᾖ (ein wie viel schöneres Wort als patientia!); nur dass nunmehr mein Herz, wie ich hoffe für immer, in das Allerheiligste versetzt worden ist, das auf dem Altar ausgesetzt ist.“2

Es hat den Anschein, dass es bei ihr manchmal mehr ein Hin- und Herpendeln bzw. ein Überschreiten der Grenzen als das gläubige Ausharren an einer Schwelle ist. Denn in vielen Ausführungen zu ihrer Christusmystik überschreitet sie eindeutig die Schwelle zur Kirche hin und begibt sich in die Fußspuren großer Heiliger (v.a. Franz von Assisi und Johannes vom Kreuz). In anderen Gedanken wiederum steht sie offensichtlich ganz außerhalb der Kirche und des Christentums, betrachtet sie gleichsam von außen als Institution, die totalitäre Züge hat und nur de jure, aber nicht de facto katholisch ist, weil sie Menschen anderer Meinung verfolgt und v.a. keinen Sensus für die göttlichen Spuren außerhalb ihrer institutionellen Verfasstheit entwickelt hat. An Gustave Thibon kann sie deshalb schreiben: „Für den Augenblick wäre ich eher geneigt, für die Kirche zu sterben als in sie einzutreten – falls sie es nächstens nötig hätte, dass man für sie stirbt. Sterben, das verpflichtet zu nichts, wenn ich so sagen darf; es schließt keine Lüge ein.“3

Auch wenn man nicht der Versuchung erliegen sollte, bei Weil das oberflächliche Schema: „Gott/Christus ja – Christentum/Kirche nein“ anzuwenden, scheint sie in gewisser Weise immer wieder einen Keil zwischen Gott und Jesus Christus auf der einen und dem von der Macht korrumpierten Christentum und der Kirche auf der anderen Seite zu treiben. Sie liebt Christus über alles und begeht im Gedanken an das Kreuz, wie sie selber schreibt, die „Sünde des Neids“ (UG 69). Dem institutionalisierten Christentum hingegen steht sie skeptisch bis ablehnend gegenüber – es sei denn, man betrachtet die Kirche als Bewahrerin der Sakramente, in denen auch für Weil das göttliche Heil liegt.4 So wird sie mitunter sogar als Kirchenlehrerin und Heilige interpretiert, die das „Draußen (…) ins Herz der Kirche hereingeholt“ hat, v.a. wenn man annimmt, dass sie kurz vor dem Tod doch noch von ihrer Freundin Simone Deitz getauft wurde.

Im Folgenden soll zunächst die Gottesliebe bzw. Christussehnsucht Weils thematisiert werden, denn ihre eigenen mystischen Erfahrungen, die auch von liturgischen Erfahrungen geprägt waren, bilden den Hintergrund, vor dem dann in einem zweiten Teil die Kirchen- und Christentumskritik zur Sprache kommen kann. Hier zeigt sich bei ihr eine eigenartige Widersprüchlichkeit, die nicht ganz aufgelöst, aber doch für heutige Diskussionen fruchtbar gemacht werden kann.

Berührungen mit Christus

Obwohl Simone Weil bis zu ihren ersten Erfahrungen mit Christus nie irgendwelche Mystiker(innen) gelesen hatte, beschreibt sie ihre Gotteserfahrung in einer Sprache, die an die mystische Tradition der Kirche anknüpft.5 Näherhin sind es zunächst drei „Berührungen“ mit dem katholischen Glauben, drei im weitesten Sinn liturgische Erfahrungen, die sie besonders bewegt haben und von denen sie ihrem geistlichen Begleiter Pater Perrin in einem Brief berichtet.6 Die erste Erfahrung machte sie im Sommer 1935 in einem kleinen portugiesischen Dorf am Patronatsfest, an dem die Frauen der Fischer mit brennenden Kerzen in den Händen in einer Prozession um die Boote zogen und altüberlieferte Gesänge anstimmten, die Weil beinahe das Herz zerrissen. „Niemals habe ich etwas so Ergreifendes gehört, außer dem Gesang der Wolgaschlepper. Dort hatte ich plötzlich die Gewissheit, dass das Christentum vorzüglich die Religion der Sklaven ist“ (UG 49). Eine zweite Erfahrung erzählt sie, die ihr 1937 in Assisi in der kleinen Kapelle in Santa Maria degli Angeli widerfahren ist, wo „etwas, das stärker war als ich selbst, mich zum ersten Mal in meinem Leben auf die Knie zu werfen“ zwang. Schließlich ist als spezifisch liturgische Erfahrung der Aufenthalt in Solesmes in den Kar- und Ostertagen 1938 zu nennen. Trotz bohrender Kopfschmerzen empfand sie in dem Kloster die „unerhörte[ ] Schönheit der Gesänge und Worte“ als eine „reine und vollkommene Freude“. Die schmerzende Anstrengung der Aufmerksamkeit führte sie zudem tief in die Passion Christi hinein und ermöglichte ihr, „die göttliche Liebe durch das Unglück hindurch zu lieben“ (UG 49).

In Solesmes begegnete ihr auch ein junger Engländer, der sie auf ein Gedicht des englischen Dichters George Herbert aus dem 17. Jh. mit dem Titel Love aufmerksam machte. Im Zusammenhang mit diesem Text berichtet sie von einer mystischen Erfahrung im engeren Sinn: „Einmal, während ich es sprach, ist (…) Christus selbst herniedergestiegen und hat mich ergriffen“ (UG 50). Es war für Weil eine „wirkliche(n) Berührung, von Person zu Person, zwischen dem menschlichen Wesen und Gott (…) Im Übrigen waren an dieser meiner plötzlichen Übermächtigung durch Christus weder Sinne noch Einbildungskraft im geringsten beteiligt; ich empfand nur durch das Leiden hindurch die Gegenwart einer Liebe gleich jener, die man in dem Lächeln eines geliebten Antlitzes liest“ (UG 50f.). Später beschreibt Weil noch eine weitere tiefe spirituelle Erfahrung, und zwar im Zusammenhang mit dem von ihr so geliebten und regelmäßig auf Griechisch gebeteten Vater Unser: „Mitunter reißen schon die ersten Worte meinen Geist aus meinem Leibe und versetzen ihn an einen Ort außerhalb des Raumes, wo es weder eine Perspektive noch einen Blickpunkt gibt (…) Mitunter auch ist während dieses Sprechens oder zu anderen Augenblicken Christus in Person anwesend, jedoch mit einer unendlich viel wirklicheren, durchdringenderen, klareren und liebevolleren Gegenwart als jenes erste Mal, da er mich ergriffen hat“ (UG 54f).

Bei aller Sympathie Weils für die Spiritualität Indiens und Chinas und deren gegenstandslosen Meditationspraktiken wird hier deutlich, dass sie selbst durchaus durch „Vehikel“ aus dem christlichen Traditionsraum wie die Liturgie, ein abendländisches Gedicht oder eben das Vater Unser zu ihren mystischen Erfahrungen geführt wurde, an deren Authentizität kaum ein(e) Weil-Forscher(in) zweifelt. Berühmt ist besonders der Prolog genannte Text, der in die Zeit zwischen der ersten mystischen Erfahrung in Solesmes und der Reflexion der weiteren personalen Christusbegegnungen in der Folgezeit (u.a. in Marseille) liegen muss. Ihrer Mutter gegenüber soll Weil diesen Prolog mit der Bemerkung übergeben haben, sie wünsche, dass dieser Text als erster erscheine, sollte von ihr jemals etwas veröffentlicht werden. Das zeigt die Bedeutung, die Weil selbst dieser Erfahrung zumaß. Im Stil der Liebesdialoge, die an das Hohelied und die Schriften der mittelalterlichen Frauenmystik erinnern, berichtet sie darin über ihre intime Beziehung zu Gott bzw. Jesus Christus.7

Kennzeichnend für Simone Weil ist – neben der Christozentrik –, dass sie diese Erfahrungen mit ihrer eigenen spezifischen Situation und ihrem Denken als „ungetaufte Christin“ verbindet. Die Sehnsucht nach der (nur geistig empfangenen) Kommunion und ihre Liebe zum gesamten Universum treten aus solchen Texten deutlich hervor. Gleichzeitig geht sie über die rein äußere Beschreibung ihres Erlebnisses hinaus und schaut auf die Berührung Gottes mit der Welt. Hier kommt ihr zutiefst sakramentales Denken ins Spiel. Sakramente sind für Weil „Augenblicke der Ewigkeit“, das Band der Übereinkunft zwischen Gott und Mensch, wirkliche Berührungen Gottes mit der Welt, die sich besonders in der Schönheit zeigen. Ja, es gibt bei ihr so etwas wie eine „reale Gegenwart Gottes in allem, was schön ist.“ Sie nennt es „Sakrament der Bewunderung“.8 Auch die Freude, welche die Seele als Zustimmung zur Schönheit der Welt empfindet, kann für sie als Sakrament bezeichnet werden. Franz von Assisi war in diesem Sinn für Weil ein zutiefst sakramentaler Mensch.

Wenn Weil von Sakramenten spricht, geht sie somit über die sieben in der katholischen Kirche bekannten Sakramente hinaus. Der Heilige Geist soll die ganze Schöpfung entflammen. „Warum“ – so fragt sie einmal – „gibt es eigentlich kein Sakrament, dessen Materie das Feuer ist?“9 Interessant ist auch die sakramentale Bedeutung, die sie dem vertrauten freundschaftlichen Glaubensgespräch zuschreibt. „Warum wird die Zusammenkunft von zwei oder drei Christen in Christi Namen nicht als Sakrament gesehen?“10 Ein solches vertrautes Gespräch „mit größtmöglicher Konzentration und Aufmerksamkeit geführt“ ist für sie „genau so viel wert, wie das Beten des Breviers.“11

Auch die Eucharistie spielt eine große Rolle in ihrem Denken. Obwohl Weil die Eucharistie nie leibhaftig empfangen hat (die Messe besuchte sie allerdings schon seit 1935 häufig), hat sie eine tiefe eucharistische Spiritualität entwickelt. Der Blick auf Jesus in der konsekrierten Hostie ist für sie wie ein von Gott gewährtes Zugeständnis, „denn der Mensch kann die Fülle seiner Aufmerksamkeit nur auf einen sinnlichen Gegenstand richten“.12 Es ist der Blick auf die absolute Reinheit, auf das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinweg nimmt. Gott hat gleichsam seine verborgene und unfassliche Gegenwart in ein kleines Stück Brot gelegt, weil der Mensch ansonsten keine Möglichkeit hätte, der absoluten Reinheit und Schönheit selbst ins Gesicht zu sehen. „Dieses Teilchen Materie befindet sich im Mittelpunkt der katholischen Religion. Dies ist ihr größtes Ärgernis, und eben darauf beruht ihre wunderbarste Kraft.“13

Das Kreuz Christi schließlich verbindet Weil mit einem „Sakrament des Unglücks“. Ob es die armen Fischersfrauen in Portugal, die physischen Kopfschmerzen während der Karliturgie in Solesmes oder die Erfahrungen als Arbeiterin in einer Fabrik sind – immer haben der Schmerz und das Unglück für sie eine quasisakramentale Qualität. Sie vergleicht die Gegenwart Christi im Kreuz und im Unglück auch gerne mit der Eucharistie: „Wie Gott durch die Konsekration der Eucharistie in der sinnlichen Wahrnehmung eines Stückes Brot gegenwärtig ist, so ist er auch durch den erlösenden Schmerz, durch das Kreuz im äußersten Unglück anwesend.“14 Deswegen ist für sie das Kreuz auch der bevorzugte Ort der Gottunmittelbarkeit und das Verlassensein von Gott, wie Jesus es am Kreuz durchlebt hat, kein Unglück, sondern Wohltat und Gnade. Tatsächlich fühlt sie sich in diesen Momenten ganz mit Christus eins, der am Kreuz der von allen (auch von seinem Vater) am tiefsten Verlassene war.15

Die doppelte Liebe zur Schönheit der Schöpfung auf der einen sowie zu Kreuz und Leid auf der anderen Seite erklärt Weils starke Sympathie für Franziskus und Johannes vom Kreuz. Beide waren Poeten und Sänger der Schönheit und Liebe. Während aber Franziskus stärker für die Liebe zur Schönheit der Welt steht, ist Johannes vom Kreuz mit seiner Lehre der dunklen Nacht auch Gewährsmann für die Gotterfülltheit des Unglücks und Leids bis hinein in den Unglauben.

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