Loe raamatut: «Gleichwertige Lebensverhältnisse - Vision oder Illusion», lehekülg 2

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„Jeder Dollar ein Wahlzettel“

Die Gleichung „Jeder Dollar ein Wahlzettel“ war ein Scheinangebot. Tatsächlich ging es den Theoretikern der Genfer Schule nicht darum, die Partizipation des Volkes zu stärken. Im Gegenteil sollte die Wirtschaft von den Einflüssen des „demos“ möglichst weitgehend abgeschirmt werden (Slobodian 2019; Biebricher 2018): „Entdemokratisierung des Kapitalismus vermittels Entökonomisierung der Demokratie“ (Streeck 2013, 28).

Die Gleichung „Jeder Dollar ein Wahlzettel“ ging insofern auf eine ganz andere Weise auf, als man unter dem Schlachtruf „consumerism“ hatte vermuten können. Nicht die politische Partizipation breiter Bevölkerungsschichten wuchs, sondern die politische Macht stieg mit der Menge an Dollars an, über die jemand verfügen konnte (Stiglitz 2012). Der Glaube an dieses Demokratiemodell führte direkt in die „Krise des demokratischen Kapitalismus“ (Streeck 2013).


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Bergarbeiterstreik 1984 in der Nähe von Sheffield

Bei all dem stellt sich allerdings die Frage, warum die politische Linke dieser Politik nichts entgegensetzte. Doch Clinton, Obama, Blair, Schröder und Co. steuerten nach dem scheinbaren Sieg des Westens über den Kommunismus einen Kurs „Jenseits von links und rechts“ (Anthony Giddens), betont wirtschaftsfreundlich und scheinbar unideologisch, gleich so, als gebe es zur aufsteigenden globalen liberalen Weltordnung keine Alternative. Diese Fehleinschätzung steht an der Wiege der weltweiten Krise der Sozialdemokratie im neuen Millenium.

Denn „das grundlegende politische Trilemma der Weltwirtschaft“ war nicht zu überwinden. „Wir können die drei Dinge Demokratie, nationale Selbstbestimmung und wirtschaftliche Globalisierung nicht zugleich vorantreiben“ (Rodrik 2011, 20). Bis zur Finanzkrise war das nicht so deutlich geworden. Doch die Verwerfungen, die diese auslöste, beschränkten sich nicht auf die Ökonomie, sondern erstreckten sich auf die Gesellschaft und den Staat (vgl. Tooze 2018).

„The demolition of society“

Die „Globalisten“ begründeten ihre Vorstellung von Demokratie, Rechten und Freiheit auf ökonomischen Theorien. Der „consumerism“ griff umfassend auf das 1972 von William Hutt in die Wirtschaftstheorie eingeführte Konzept der „Konsumentensouveränität“ zurück (vgl. Slobodian 2019, 247). Der „Bürger“ werde erst als „Konsument“, der „souverän“ zwischen verschiedenen Angeboten wählen könne, frei, anstatt an einen staatlichen Monopolanbieter gekettet zu sein und möglicherweise, durch Anschlusszwang oder das staatliche Abgabensystem, zum Konsum dieser Leistungen auch noch gezwungen zu werden.

Die theoretischen und konzeptionellen Defizite dieser Ideologie hatte Karl Polanyi bereits 1944 in seinem Klassiker „The Great Transformation“ aufgedeckt. „[T] he control of the economic system by the market is of overwhelming consequence to the whole organization of society: it means no less than the running of the society as an adjunct to the market. Instead of economy being embedded in social relations, social relations are embedded in the economic system.“ Mit gefährlichen Konsequenzen: „To allow the market mechanism to be sole director of the fate of human beings and their natural environment, indeed, even of the amount and use of purchasing power, would result in the demolition of society“ (Polanyi 1957, 57, 73). Man fühlt sich unwillkürlich an Angela Merkels „wirtschaftskonforme Demokratie“ erinnert. Die Erstarkung populistischer Parteien und des Nationalismus in vielen Ländern des industrialisierten Westens war jedenfalls der Preis dieser Globalisierung.


„Fundamentalökonomie“

Die Behauptung, der Markt als „Entdeckungsverfahren“ (Friedrich von Hayek) halte für jedes Problem die beste Lösung bereit, ist sehr häufig, aber nicht immer richtig. Der Finanzsektor dürfte von seinen Bedingungen her am ehestem dem Ideal des vollkommenen Marktes entsprechen. Dennoch hat er 2008 auf dramatische Weise versagt, und der von der Finanzwelt so verachtete Staat musste ihn als Nothelfer retten.

Über Jahre hat sich der Staat vergeblich darum bemüht, die Mobilfunkausrüster dazu zu bringen, die Republik mit einem dichten Netz an Funkmasten zu überziehen. Während sich in den Ballungsräumen Funkmast an Funkmast reiht, weil hier ein Geschäft zu machen ist, lohnt die Investition auf dem Land nicht. Die Folge ist eine Unterversorgung des ländlichen Raums, die nicht akzeptabel ist (siehe hierzu das Interview mit Kevin Kühnert in diesem Heft).

Ein kompletter Fehlschlag ist die Privatisierung der Bahn in Großbritannien, wie Peter Meek in seiner bitter-ironischen Bilanz „Private Island“ zeigt. Der britische Staat nimmt immer mehr Strecken in sein Eigentum zurück, nachdem sich Private so lange die Erträge gesichert und an ihre privaten Investoren ausgeschüttet hat, bis die nicht mehr länger hinauszuschiebenden Investitionen einen rentablen Betrieb nicht mehr ermöglichten. Nun darf der Staat die heruntergewirtschafteten Unternehmen übernehmen. Und das, obwohl die Preise der britischen Bahn enorm hoch sind. Das Jahresticket zwischen der Londoner City und dem Londoner Vorort Petersborough kostet so viel wie die 2. Klasse-BahnCard 100 der Deutschen Bahn AG. Das sind Preise, die breite Bevölkerungsschichten von der Mobilität ausschließen.

Letztlich entscheidend aber ist, dass ohne ein vielfältiges, allgemein verfügbares und zugängliches Netz an öffentlichen Leistungen – materiell wie immateriell – jede privatwirtschaftliche Tätigkeit auf tönernen Füßen stünde. Nicht ein hohes Abgabenniveau ist ein Hindernis für wirtschaftliches Wachstum, sondern eine schlechte technische, soziale und


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In London wird im November 2009 die Rücknahme der East Coast Mainline in die öffentliche Hand gefeiert.


Ohne ein Netz an öff entlichen Leistungen stünde jede privatwirtschaftliche Tätigkeit auf tönernen Füßen


administrative Infrastruktur. Das Foundational Economy Collective hat auf die elementare Bedeutung dieser „Fundamentalökonomie“ für unseren Wohlstand hingewiesen. Dieser ist das Werk einer großen Gemeinschaft, die auf den Werten von Freiheit und Solidarität beruht, nicht auf der besseren Leistung des Einzelnen, auf der Grundlage von Eigennutz und schrankenloser Konkurrenz.

Und schließlich sollte nicht unerwähnt bleiben, dass der Staat ein höchst erfolgreicher Risikoinvestor ist. Ohne die Grundlagenforschung in den durch den Staat finanzierten Universitäten und Forschungslaboren gäbe es wohl weder das Internet noch ein iPhone. „Der Staat hinter dem iPhone“ hat Mariana Mazzuca-to (2016, 115) diese Leistung bei der Entwicklung neuer technischer Systeme und deren ökonomische Verwertung durch Private eindrücklich beschrieben.

Alles in allem hat es allerdings den Anschein, dass dieser zentrale Beitrag des Staates zum volkswirtschaftlichen Wohl, aber auch zum privatwirtschaftlichen Nutzen vieler Unternehmen, zu gering geachtet wird. Die globalen Konzerne zeigen sich jedenfalls bei der Steuervermeidung mindestens so kreativ wie bei der Nutzung der Entwicklungen, die der Staat finanziert hat. Es hat also nichts mit Klassenkampf zu tun, wenn man die globalen Konzerne daran erinnert, dass sie ihren gerechten Beitrag zu dieser Fundamentalökonomie, von der ihre Ertragsstärke maßgeblich abhängt, leisten sollen.


LITERATUR

Biebricher, Thomas 2018: The Political Theory of Neoliberalism. Stanford.

Crosland, Charles Anthony Raven 1957: The Future of Socialism. New York.

Deaton, Angus 2017: Der Große Ausbruch. Von Armut und Wohlstand der Nationen. Stuttgart.

Foundational Economy Collective 2019: Die Ökonomie des Alltagslebens. Für eine neue Infrastrukturpolitik. Berlin.

Mazzucato, Mariana 2014: Das Kapital des Staates. Eine andere Geschichte von Innovation und Wachstum. München.

Polanyi, Karl 1957: The Great Transformation. Boston [EA 1944].

Rodrik, Dani 2011: Das Globalisierungs-Paradox. Die Demokratie und die Zukunft der Weltwirtschaft. München.

Slobodian, Quinn 2019: Globalisten. Das Ende der Imperien und die Geburt des Neoliberalismus. Berlin.

Stiglitz, Joseph 2012: Der Preis der Ungleichheit. Wie die Spaltung der Gesellschaft unsere Zukunft bedroht. München.

Streeck, Wolfgang 2013: Gekaufte Zeit. Die Krise des demokratischen Kapitalismus. Frankfurt/M.

Tooze, Adam 2018: Crashed. Wie zehn Jahre Finanzkrise die Welt verändert haben. München.


Dr. Stefan Schieren Ist Professor für Politikwissenschaft an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt und Mitherausgeber von POLITIKUM

DEN STAAT IN DIE PFLICHT NEHMEN
Staatliche Gewährleistung der öffentlichen Infrastruktur

von HANS-JÜRGEN BIELING und MATTHIAS MÖHRING-HESSE


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Die Organisation und Bereitstellung der öffentlichen Infrastruktur ist ein heiß diskutiertes Thema – vor allem dann, wenn die Finanzierungskosten sehr groß sind oder wenn Leistungen nicht oder nur unzureichend erbracht werden. Spätestens dann wird erkennbar, dass es sich bei der öffentlichen Infrastruktur nicht um irgendeinen Teilbereich der Gesellschaft handelt, sondern um eine wichtige Lebensader, die für die wirtschaftlichen Abläufe und die gesellschaftliche Integration, aber auch für das ganz alltägliche Leben aller unverzichtbar ist.

Die staatliche Organisation öffentlicher Güter

Dass die Infrastruktur grundlegend für eine Gesellschaft ist, ist in dem Begriff, zusammengesetzt aus den lateinischen Wörtern infra (unterhalb) und structura (Zusammenführung), bereits vorgesehen – und wird auch weithin anerkannt. Bezogen auf die Leistungen, die einer Infrastruktur zugerechnet werden, ist häufig von „öffentlichen Gütern“ die Rede. In der Volkswirtschaftslehre werden solche Güter durch zwei Kriterien definiert (Samuelson 1954): Sie stehen allen zur Verfügung, d. h. niemand kann von deren Nutzung ausgeschlossen werden (Prinzip der Nicht-Ausschließbarkeit). Außerdem werden sie nicht durch ihre Inanspruchnahme aufgebraucht; dadurch, dass sie genutzt werden, werden andere in ihrer Nutzung nicht beeinträchtigt (Prinzip der Nicht-Rivalität). Als typische Beispiele für öffentliche Güter werden Luft, Sonne oder Leuchttürme genannt. Für viele öffentliche Güter treffen beide Kriterien allenfalls bedingt zu: Gute Luft gibt es nicht überall, daher auch nicht gleichermaßen für alle; Züge sind oft überfüllt, und auf Stuttgarts Straßen steht man morgens und abends im Stau.

Diese Beispiele, übrigens auch die Leuchttürme, weisen zudem darauf hin, dass öffentliche Güter zumeist nicht wie Sonne und Luft von Natur aus existieren, sondern gesellschaftlich hergestellt werden müssen. Ihre Produktion und Bereitstellung, deren Organisation, Umfang und Qualität sind nicht vorab definiert. Vielmehr werden sie in politischen Prozessen immer wieder ausgehandelt (Helfrich 2012). Die beiden Prinzipien aus der Volkswirtschaftslehre sind entsprechend zu ergänzen und zu präzisieren: Indem man sich in politischen Auseinandersetzungen auf bestimmte öffentliche Güter verständigt, verständigt man sich zugleich darauf, dass entsprechende Leistungen so hergestellt werden, dass erstens niemand von der Nutzung dieser Leistungen ausgeschlossen wird und dass sich die Nutzer*innen zweitens in deren Nutzung nicht gegenseitig stören oder beeinträchtigen. Öffentliche Güter sollen deshalb so hergestellt werden, dass sie den Nutzungsberechtigten in ausreichendem Maße und – nebenbei auch – in ausreichender Qualität zur Verfügung stehen.

Bei der Organisation öffentlicher Infrastrukturdienstleistungen ist also Politik im Spiel, daher auch Akteure wie Parteien, Verbände, Gewerkschaften oder Bürgerinitiativen – und nicht zuletzt der Staat. Wenn es um Fragen des Umfangs und der Qualität des Infrastrukturangebots geht, wird der Staat auf unterschiedlichen Ebenen – auf der zentralen oder regionalen, häufig auch auf der kommunalen, zum Teil sogar europäischen Ebene – adressiert und in die Verantwortung genommen. Die vorgebrachten Ansprüche der gesellschaftlichen Akteure variieren nach Interessenlage. Sie können primär investitions- und produktionsstrategisch oder aber lebensweltlich und versorgungstechnisch motiviert sein. Die letztgenannte Motivation ist jüngst von einer internationalen Autor*innengruppe mit der Konzeption der „Fundamentalökonomie“ stark gemacht worden (Foundational Economy Collective 2019). Gemäß dieser Konzeption ist das allgemeine Wohlergehen weniger durch den individuellen Konsum als durch den sozialen Konsum bestimmt. Der soziale Konsum ist wiederum stark von den unverzichtbaren, von der Fundamentalökonomie bereitgestellten Gütern und Leistungen abhängig, z. B. von Wohnen, Mobilität, Bildung, Kinderbetreuung, medizinischer Versorgung, Energie- und Wasserversorgung etc.

Die Fundamentalökonomie lässt sich in zwei Bereiche untergliedern. Den einen Bereich bildet die materielle Infrastruktur. Diese „besteht aus Rohren und Kabeln, Versorgungs- und Filialnetzen, die jeden Haushalt mit den unverzichtbaren Dingen des Alltags verbinden – Wasser, Strom, Bankdienstleistungen, Lebensmittel“ (ebd., 65). Den anderen Bereich bildet die soziale Infrastruktur, wobei die Autor*innengruppe von einer „providentiellen Fundamentalökonomie“ spricht. Hierzu zählt sie die typischen wohlfahrtsstaatlichen Aktivitäten, die medizinische Versorgung, Bildung, Pflege, Polizei, Justiz und Verwaltung sowie die Bereitstellung bezahlbaren Wohnraums.

Historisch gesehen vollzog sich der Ausbau der öffentlichen Infrastruktur in größeren Schüben. In den meisten europäischen Ländern expandierte im Zuge der zweiten Welle der Industriellen Revolution im 19. Jh. zunächst die materielle Infrastruktur. In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg, d. h. unter den Bedingungen des wohlfahrtsstaatlich regulierten Kapitalismus verlagerte sich dann der Schwerpunkt hin zur Ausweitung des sozialen Infrastrukturangebots.

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Postverkehr in der Fläche: Inbegriff des Gewährleistungsstaats

Dimensionen der staatlichen Gewährleistung

Weil mit den eingangs angesprochenen Ansprüchen verbunden, sind öffentliche Güter staatsbedürftig (vgl. Vogel 2007). Sie werden nur dann in ausreichendem Umfang und guter Qualität bereitgestellt und können nur dann von allen genutzt werden, wenn der Staat dafür Sorge trägt. In dem Maße, wie entsprechende Ansprüche an den Staat gerichtet werden, hängt wiederum die Legitimation staatlicher Herrschaft daran, dass die öffentlichen Güter auch tatsächlich so wie erwartet zur Verfügung stehen. Daher ist der Staat der öffentlichen Güter genauso bedürftig, wie diese seiner bedürftig sind.

Wird der Staat dafür verantwortlich gemacht, dass die die Infrastruktur ausmachenden öffentlichen Güter zur Verfügung stehen, so ist damit noch nicht gesagt, wie er dieser Verantwortung entspricht. Historisch und im internationalen Vergleich hat er diese Aufgabe unterschiedlich erfüllt. Grundsätzlich lassen sich drei verschiedene Muster oder Formen identifizieren (vgl. Schuppert 2001, 401 f.):

■ Der Staat stellt erstens die Infrastruktur in Eigenregie her und stellt den Nutzer*innen entsprechende Leistungen zur Verfügung, besorgt also Produktion und Distribution. Sofern diese Form dominiert, ist vom Produktions- oder Leistungsstaat die Rede, der eine Erfüllungsverantwortung übernimmt.

■ Der Staat delegiert zweitens die Herstellung und Bereitstellung von öffentlichen Gütern an andere gesellschaftliche, private oder gemeinnützige Akteure. Dies kann auf dem Wege einer kooperativen oder direktiven Konzessionierung, einer Beauftragung oder der subsidiären Kooperation geschehen. Wenn diese Form prägend wird, ist vom Regulierungs- oder Gewährleistungsstaat die Rede, der die infrastrukturellen Leistungen „nur“ noch reguliert bzw. überwacht und kontrolliert, deren Herstellung unterstützt oder refinanziert und auf diesem Weg eine Gewährleistungsverantwortung übernimmt.

■ Als Interventionsstaat kann der Staat in Not- oder Krisensituationen einspringen und öffentliche Infrastrukturdienstleistungen übernehmen, deren Herstellung eigentlich anders vorgesehen ist. Er übernimmt dann eine Auffangverantwortung, die ergänzend zu den beiden anderen Verantwortungsmodi praktiziert wird. Dass der Staat in Not- oder Krisensituationen ersatzweise einspringt, kann grundlegend so vorgesehen sein, kann aber auch ohne eine solche Regelung und dann auch ohne Planung „passieren“.

Die unter dem Begriff „Gewährleistungsstaat“ geführte Diskussion bezieht sich vor allem auf die zweite Dimension. Genauer betrachtet übernimmt der Staat aber auch in den anderen Dimensionen – durch die Verantwortung für die Bereitstellung öffentlicher Güter – Gewährleistungsaufgaben. Entsprechend lässt es sich nachfolgend nicht vermeiden, dass „Gewährleistung“ mal als Oberbegriff für staatliches Handelns und mal als untergeordneter Spezialbegriff für eine besondere Form staatlichen Handelns benutzt wird.

Politik des Gewährleistungsstaats

In vielen Bereichen der sozialen Infrastruktur, etwa in der medizinischen Versorgung oder im weiten Feld der Sozialen Dienste, gab es in Deutschland seit jeher keine unmittelbare staatliche Leistungserbringung. Vielmehr kooperierte der Staat mit gesellschaftlichen Akteuren, mit Vorliebe mit denen der Freien Wohlfahrtspflege – und dies unter der Maßgabe der „Subsidiarität“. Dabei erkannte der deutsche Staat an, dass diese Akteure für bestimmte Leistungen – aus der Sache geboten oder weil historisch so gewachsen – verantwortlich sind, während ihm „lediglich“ die Verantwortung zukommt, diese Akteure darin zu unterstützen. In vielen anderen Bereichen vor allem der materiellen Infrastruktur hatte der deutsche Staat hingegen – direkt oder über öffentliche Unternehmen – die Leistungserbringung selbst übernommen. Für diese Bereiche lässt sich der bis in die 1980er Jahre dominante Staatstypus als Produktions- und Leistungsstaat charakterisieren.

Dies änderte sich in dem Maße, wie sich der Staat durch die Privatisierung großer Bereiche der öffentlichen Infrastruktur, vor allem der netzgebundenen Infrastrukturdienstleistungen wie Post, Telekommunikation, Bahn oder Energie, aber auch in der Form von Public Private Partnerships (PPPs), aus der direkten


Der Staat hat bei der Kontrolle der Wohnraumversorgung Macht und Einfluss verloren


Leistungserbringung schrittweise zurückzog, um sich finanziell und legitimatorisch zu entlasten (Bieling 2009). Dieser Rückzug korrespondierte zunächst mit dem neoliberal geprägten Leitbild des „schlanken Staates“. Der Staat sollte aus seiner Gewährleistungsverantwortung (im allgemeinen Sinn), also aus seiner Verantwortung dafür entlassen werden, dass öffentliche Güter bereitstehen. Dazu gehörte es dann auch, dass man die Eigenschaft entsprechender Leistungen als öffentliche Güter bestritt, also gleichzeitig mit dem Rückzug des Staats die bislang staatlich erstellten öffentlichen Güter relativierte, wenn nicht gleich „vernichtet“ hat. Nachdem die negativen Begleiterscheinungen dieses Prozesses – unzureichende Investitionen in die Infrastruktur und Versorgungsdefizite in der Fläche – hervortraten, wurde dieses Leitbild gegen Ende der 1990er Jahre modifiziert. Fortan war nun vermehrt vom Gewährleistungsstaat die Rede, d. h. von einem Staat, der den Umfang und die Qualität des Infrastrukturangebots – z. B. in Form der Bundesnetzagentur – effektiv zu überwachen und zu kontrollieren hat. Zugleich wurden die Leistungen, die überwacht und kontrolliert wurden, wieder „mehr“ zu öffentlichen Gütern, die des Staates bedürftig sind.

Im Bereich der sozialen Infrastruktur wurde in dieser Epoche die Art der staatlichen Gewährleistung umgebaut. Der gewährleistende Staat wurde nicht nur in seiner Verwaltungs- und Regulierungsarbeit, sondern auch in seinen Kooperationsbeziehungen mit gesellschaftlichen Akteuren „modernisiert“ – und hat auch diese zur „Modernisierung“ gezwungen (Möhring-Hesse 2018): Die für den bundesdeutschen Sozialstaat typischen Privilegien der Freien Wohlfahrtspflege wurden aufgelöst, deren Einrichtungen mit gewerblichen Leistungserbringern gleichgestellt – und sie alle zu Anbietern von Sozialen Diensten gemacht, die um staatliche Aufträge konkurrieren. Dadurch wurde ein Wettbewerb zwischen den Anbietern in Gang gesetzt, sodass jeder für sich unter starken Kosten- und Qualitätsdruck geriet. Zugleich wurden sie auf dem Wege des „Kontraktmanagements“ einer kontinuierlichen Preis- und Qualitätskontrolle durch mehr oder weniger staatsnahe Stellen unterstellt. Zudem wurde in einigen Bereichen von der „Objekt-“ auf die „Subjektsteuerung“ umgestellt. Die Nutzer*innen wurden mit Kaufkraft ausgestattet; ihnen wurden Auswahl und Beauftragung der Anbieter überlassen. So wurden sie zu Kund*innen der von ihnen genutzten Dienstleistungen und die von ihnen beauftragten Anbieter wurden auf „Wohlfahrtsmärkte“ gezwungen.

Bei der sozialen Infrastruktur wurde der deutsche Staat nicht – wie bei der materiellen Infrastruktur -zum Gewährleistungsstaat umgeformt. Er war schon zuvor Gewährleistungsstaat und hat „lediglich“ seine bisherige Gewährleistungsverantwortung „modernisiert“. Dazu hat er sich von der „Subsidiarität“ verabschiedet. Den gesellschaftlichen Akteuren entzog er die Erstverantwortung für entsprechende Leistungen und setzte sich stattdessen selbst in die unmittelbare Gewährleistungsverantwortung. Deshalb sah er sich nicht mehr zur Unterstützung der mit ihm kooperierenden Akteure verpflichtet. Stattdessen beauftragt er diese mit der Erstellung derjenigen Leistungen, zu deren Gewährleistung er sich verpflichtet hat. Die öffentlichen Güter bleiben so erhalten – allerdings mit veränderter Verantwortungszuschreibung und mit veränderten Kooperationsbeziehungen: Der Staat hat bei deren Herstellung und Bereitstellung, übrigens auch bei der Nutzung, das Sagen. Die gesellschaftlichen Akteure werden zu Anbietern entsprechender Leistungen im staatlichen Auftrag und die Nutzer*innen zu Begünstigten staatlicher Wohlfahrt. Diese Art der staatlichen Gewährleistung drückt sich in den sozialpolitischen Leitbildern vom „aktivierenden“, „präventiven“ oder „investiven Sozialstaat“ aus. Diese wurden als Alternativen zum neoliberalen Leitbild vom „schlanken Staat“ ausgegeben. Wie bei diesem soll der Staat vor gesellschaftlichen Ansprüchen geschützt werden. Im Unterschied zu diesem sollte er jedoch in einer umfassenden Gewährleistungsverantwortung gehalten und die in Frage stehenden Leistungen als öffentlichen Güter „erhalten“ werden.


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Regulierter Wettbewerb

Die eingangs getroffene Unterscheidung zwischen materieller und sozialer Infrastruktur wird durch diesen kurzen Rückblick – für Deutschland – bestätigt. Die erinnerten Entwicklungen in der staatlichen Gewährleistungsverantwortung führen auch in diesen beiden Bereichen zu tendenziell unterschiedlichen Formen der Bereitstellung: Was die materielle Infrastruktur betrifft, so hat der Staat weite Bereiche der anstehenden Leistungen einzelwirtschaftlichen Akteuren zur Produktion und Distribution überlassen. Seiner Gewährleistungsverantwortung kommt er vor allem in Form der Regulierung sowie der Überwachung und Kontrolle nach. Geregelt werden etwa Bedingungen und Mindeststandards der privatwirtschaftlichen Leistungserstellung. So wird den Postdienstleistern vorgeschrieben, dass sie die Post an alle Haushalte jeden Tag von Montag bis Samstag ausliefern müssen. Im Bereich der sozialen Infrastruktur beauftragt der Staat hingegen Anbieter sozialer Dienste, besteht dabei auf möglichst geringen Preisen und möglichst hoher Qualität, regelt das richtige Nutzer*innenverhalten, dirigiert und kontrolliert seine Vertragspartner über „Kontraktmanagement“.

Die staatliche Kontrolle ist oft verborgen, wenn der Staat die Bereitstellung der sozialen Dienste über „Wohlfahrtsmärkte“ organisiert. Dann überlässt er die Kontrolle der Anbieter scheinbar den Kund*innen der sozialen Dienste. Da er aber deren Verhalten normiert und dirigiert, reguliert er darüber die von diesen bestellten Anbieter. Zusätzlich kontrolliert der Staat die Anbieter über Preis- und Qualitätskontrollen im „Verbraucher*innen“-interesse.

Tasuta katkend on lõppenud.