Loe raamatut: «Handbuch des Verwaltungsrechts», lehekülg 22

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III. Kompetenzausübung auf dem Gebiet des Verwaltungsrechts
im Rahmen des Vollzugs

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Regel-Ausnahme-Verhältnis

Art. 4 Abs. 1 EUV formuliert, dass alle der Union nicht in den Verträgen übertragenen Zuständigkeiten gemäß Art. 5 EUV bei den Mitgliedstaaten verbleiben. Speziell für den hier relevanten Fall der Durchführung der verbindlichen Rechtsakte der Union konkretisieren Art. 291 Abs. 1 und 2 AEUV[99] die Gedanken der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit dahingehend, dass sie ein Regel-Ausnahme-Verhältnis von indirektem und direktem Vollzug begründen.[100] Art. 291 Abs. 2 AEUV formuliert, dass u. a. der Kommission Durchführungsbefugnisse übertragen werden können, wenn es einheitlicher Bedingungen für die Durchführung der verbindlichen Rechtsakte der Union bedarf. Ob ein solcher Bedarf besteht, ist anhand der allgemeinen zum Subsidiaritätsprinzip entwickelten Grundsätze zu ermitteln.

1. Begründung von Verwaltungskompetenzen der EU-Eigenverwaltung

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Sachkompetenzen

Wie bereits eingangs erwähnt, können Verwaltungskompetenzen der EU-Eigenverwaltung direkt im Primärrecht vorgesehen sein. Insoweit ist die Verwaltung der europäischen Strukturfonds, die auf Basis der Kompetenznorm des Art. 177 AEUV in einem fein ausdifferenzierten Verfahrensrecht konkretisiert wurde, ein wegweisendes Beispiel europäischer Verbundverwaltung. Hinsichtlich der Kompetenzausübung haben die Mitgliedstaaten mit den Art. 174 ff. AEUV bereits eine gewisse Vorentscheidung für die europäische Ebene getroffen. Da das Subsidiaritätsprinzip die Mitgliedstaaten nur gegen den Aufgabenentzug, nicht aber gegen determinierte Aufgabenwahrnehmung schützt, spielt es in diesem Rahmen nur eine begrenzte Rolle: Es kann die Mitgliedstaaten nicht davor schützen, das Unionsrecht nach dessen Regeln zu vollziehen. Die „Ob-Frage“ nach Art. 5 Abs. 3 EUV ist damit präjudiziert, es kann somit allenfalls um die „Wie-Frage“ gehen, mithin um die dem Verhältnismäßigkeitsprinzip des Art. 5 Abs. 4 EUV zuzuordnende Frage, wie die sekundärrechtliche Determinierung des Vollzugs so ausgestaltet werden kann, dass die nationalen Verwaltungszuständigkeiten möglichst geschont werden. Insoweit führte die Dezentralisierung von Vollzugszuständigkeiten bei der Verwaltung der Strukturfonds, durch die eine kooperative „Mischverwaltung“ entstand, zu einer Stärkung der europäischen Aufsicht mittels materiell-rechtlicher und verfahrens- und organisationsrechtlicher Vorgaben durch europäisches Sekundärrecht.[101] Unabhängig davon können Verwaltungskompetenzen der EU-Eigenverwaltung aber auch durch Sekundärrecht geschaffen werden. Eines Rückgriffs auf die Kompetenzergänzungsklausel des Art. 352 AEUV bedarf es nach h. M. dabei nicht. Vielmehr soll die sekundärrechtliche Übertragung von Verwaltungsaufgaben auf die EU, einschließlich der Errichtung entsprechender Agenturen, direkt auf die einzelnen Sachkompetenzen der Verträge gestützt werden können (vgl. insofern die Parallelen zur Rechtsetzungsebene), da dem EU-Recht eine dem deutschen Verfassungsrecht vergleichbare Trennung zwischen Gesetzgebungs- und Verwaltungskompetenzen fremd sei. Für die sekundärrechtliche Übertragung von Verwaltungszuständigkeiten auf die EU sowie die Errichtung von Agenturen gelten, ebenso wie für rechtsetzende Tätigkeiten der EU, die vertraglichen Grenzen der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit. Insoweit ist mit Blick auf die oben dargestellten Kriterien der Kompetenzausübung im Rahmen von Art. 5 Abs. 3 EUV von einer nicht ausreichenden Verwirklichung der Durchführung auf mitgliedstaatlicher Ebene auszugehen, wenn aufgrund der mitgliedstaatlichen Disparitäten bei der Durchführung die Konsistenz der Durchführung gefährdet ist (Negativkriterium). Zugleich lässt sich die Durchführung auf Unionsebene besser verwirklichen, wenn einheitliche Durchführungsbedingungen die Fülle der Durchführungsmaßnahmen wesentlich erleichtern oder Durchführungsdisparitäten wirksam abbauen können (Positivkriterium).[102] Im Übrigen kommt es stets auf den konkreten Einzelfall an. Dies soll im Folgenden anhand zweier Beispiele verdeutlicht werden.

2. Kooperative Rechtsdurchsetzung mithilfe europäischer Agenturen

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Grenzen

Bereits einleitend wurde angemerkt, dass in jüngerer Zeit eine Ausweitung und Ausdifferenzierung der EU-Eigenverwaltung zu beobachten ist, die sich vor allem in der vermehrten Gründung europäischer Agenturen mit Vollzugszuständigkeiten äußert.[103] Inwieweit der Europäischen Union bei der Gründung von Agenturen mit Vollzugszuständigkeiten Grenzen gesetzt sind, wird klassischerweise unter dem Stichwort des institutionellen Gleichgewichts unter Rückgriff auf die sog. Meroni-Grundsätze diskutiert, die der EuGH bereits in den fünfziger Jahren entwickelt hatte und die auch heute noch, zumindest im Grundsatz und ergänzt durch die sog. ESMA-Rechtsprechung, Geltung beanspruchen.[104]

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Direkter Vollzug als Ausnahme

Unter dem Stichwort der Kompetenzausübung stellt sich dagegen die Frage, inwieweit die Gründung europäischer Agenturen mit Vollzugszuständigkeiten durch die Grundsätze der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit begrenzt wird. Insofern gilt im Grundsatz, dass der direkte Vollzug des Unionsrechts (in diesem Fall durch Agenturen) die Ausnahme bildet[105] und insofern die Mitgliedstaaten zuständig bleiben.

a) Ein Modell kooperativer Rechtsdurchsetzung

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Vollzugsdefizite und neue Arbeitsmethode

Mit Blick auf mitgliedstaatliche Vollzugsdefizite einerseits und eine verbesserte Funktionsfähigkeit der EU in zentralen Politikfeldern andererseits wird zukünftig verstärkt darüber nachzudenken sein, ob der Kommission oder einer Agentur unter Aufsicht der Kommission unter bestimmten Voraussetzungen Durchführungs- oder Vollzugszuständigkeiten zugewiesen werden sollen. Dabei geht es nicht etwa um eine undifferenzierte Zentralisierung von Verwaltungsaufgaben, sondern vielmehr um die Etablierung einer neuen Arbeitsmethode der EU, die sich auf Prioritäten konzentriert und hier „stark“ ist, sich aber dafür in anderen Bereichen zurückzieht oder zumindest – dem Subsidiaritätsprinzip entsprechend – auf eine rahmenartige und auf Mindeststandards basierende Steuerung beschränkt.[106] Diese neue Arbeitsmethode korrespondiert mit Szenario 4 des von der Kommission im Frühjahr 2017 vorgelegten Weißbuchs zur Zukunft der EU.[107] Danach konzentriert sich die EU auf einige zentrale Politikfelder und erhält hier mehr Kompetenzen, vor allem auch im Vollzugsbereich. Dafür werden Zuständigkeiten in anderen Politikfeldern reduziert oder ganz aufgegeben.[108] Den Gedanken der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit wird auf diese Weise Rechnung getragen.

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Modell kooperativer Rechtsdurchsetzung

Im Rahmen der so skizzierten neuen Arbeitsmethode könnte im Bereich europäischer Prioritäten ein Modell kooperativer Rechtsdurchsetzung etabliert werden.[109] Ziel ist es, die EU in den prioritären Politikfeldern handlungs- und funktionsfähig zu erhalten.[110] Dies ist insbesondere dort von großer Bedeutung, wo die Mitgliedstaaten entweder aufgrund von defizitären Governance-Strukturen[111] nicht in der Lage oder aus politischen Gründen nicht willens sind, das Unionsrecht um- oder durchzusetzen. Denn Vollzugsdefizite in den Mitgliedstaaten sind dafür verantwortlich, dass das europäische „law in the books“ nicht zum „law in practice“ wird und solchermaßen in die EU gesetztes Vertrauen der Bürger enttäuscht (Negativkriterium).[112]

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Arbeitsteiliges Modell

Im Hinblick auf die so skizzierte kooperative Rechtsdurchsetzung könnte das arbeitsteilige Modell der Wettbewerbspolitik wegweisend sein.[113] Im Bereich der Fusionskontrolle teilt die Fusionskontrollverordnung[114] die Zuständigkeit der Kontrolle zwischen Kommission und nationalen Wettbewerbsbehörden auf, wobei die Möglichkeit einer Verweisung bei getrennter Rechtsdurchsetzung besteht. Im Kartellrecht schafft die Verordnung 1/2003[115] ein Modell gemeinsamer Rechtsdurchsetzung. Während die Vorgängerverordnung 17/62[116] noch einen zentralisierten Ansatz mit alleiniger Zuständigkeit der Kommission verfolgte, erfolgt die Zusammenarbeit mit den nationalen Wettbewerbsbehörden nunmehr durch das Netzwerk der europäischen Wettbewerbsbehörden, das einen Austausch von Informationen und Expertise ermöglicht. Dabei zeigt sich, dass 85% der Fälle dezentral, auf nationaler Ebene, bearbeitet werden können.

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Kapazitäten und Kontrollmechanismen aufbauen

Diese Art von kooperativer Rechtsdurchsetzung setzt einen klaren Rechtsrahmen sowie für die Zusammenarbeit institutionell, personell und technisch gut ausgestattete nationale Behörden voraus, die in der Lage sind, das Unionsrecht effektiv anzuwenden und durchzusetzen. Aufbauend auf den vertraglichen Leitprinzipien der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit einerseits sowie der Solidarität andererseits würde dies bedeuten, dass die EU, dort wo es Defizite gibt, entsprechende Kapazitäten aufbauen hilft (vgl. auch den bereits erwähnten Art. 197 Abs. 2 S. 4 AEUV). Im Hinblick hierauf sollte die EU finanzielle Anreize setzen und Formen der Zusammenarbeit entwickeln, die vom Informationsaustausch bis hin zu einer fachlichen, personellen und technischen Unterstützung durch die europäische Ebene – etwa nach dem Vorbild des Structural Reform Support Service (SRSS)[117], der inzwischen zu einer eigenständigen Generaldirektion der Kommission aufgewertet wurde – reichen. Ergänzend müssen Kontrollmechanismen vorhanden sein, die europäische Handlungsmöglichkeiten im Sinne einer Auffangverantwortung für den Fall vorsehen, dass nationale Behörden nicht fähig oder willens sind, die gemeinsamen Ziele und Vorgaben umzusetzen bzw. anzuwenden mit der Folge, dass das europäische Gemeinwohl (ein europäisches öffentliches Gut[118]) gefährdet wird.[119] Wenn ein Mitgliedstaat nicht fähig ist, europäische Vorgaben umzusetzen und zugleich nicht willens ist, die angebotene europäische Unterstützung anzunehmen, müsste die europäische Ebene im Sinne einer Auffangverantwortung den Vollzug (z. B. durch eine Agentur) übernehmen können.[120] Aufbauend auf den geschilderten Leitprinzipien der Subsidiarität und der Solidarität würde in diesen Fällen die europäische Ebene, konkret die Kommission oder eine europäische Verwaltungsbehörde in Form einer Agentur, die Vollzugsaufgabe übernehmen. Mit Blick auf die Eingriffstiefe in die mitgliedstaatliche Souveränität kann ein solches Vorgehen freilich nur unter eng umgrenzten Voraussetzungen möglich sein:


- Es muss um eine konkrete Gefahr für die Verwirklichung eines europäischen öffentlichen Guts gehen, das zu den Prioritäten der EU zählt bzw. dessen Erfüllung von zentraler Bedeutung für die Funktionsfähigkeit einer Politik ist.
- Es kann nur als ultima ratio, wenn also der Mitgliedstaat die europäische Unterstützung nicht annimmt oder diese nicht fruchtet, in Betracht kommen.
- Es muss zeitlich auf die Beseitigung der Gefahr für die Verwirklichung des europäischen öffentlichen Guts begrenzt sein.
- Es ist nur nach Zustimmung des Rates der EU, der insoweit allerdings nicht einstimmig, sondern mit qualifizierter Mehrheit entscheidet, möglich.

b) Das wegweisende Beispiel der Europäischen Agentur für die Grenz-
und Küstenwache

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Modell gemeinsamer Verantwortung

Ein wegweisendes Modell schafft in diesem Zusammenhang die Verordnung über eine Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache.[121] Die Migrationskrise im Jahr 2015 hatte die Defizite des Vorgängers Frontex aufgezeigt. Die neue Agentur, die freilich noch immer als Frontex bezeichnet wird, schafft ein Modell gemeinsamer Verantwortung für integriertes Grenzmanagement[122], im Rahmen dessen die Mitgliedstaaten ganz im Sinne des Subsidiaritätsprinzips die primäre Verantwortung für ihren Teil der europäischen Außengrenze behalten. Ein funktionierendes und damit wirksames Grenzmanagement liegt aber nicht nur im Interesse des Mitgliedstaats an der Außengrenze, sondern im Interesse aller Mitgliedstaaten, die im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts gemäß Art. 67 AEUV, dem sog. Schengen-Raum, die Kontrollen an ihren Binnengrenzen abgeschafft haben. Dies bedeutet dem Subsidiaritätsprinzip entsprechend, dass immer dann, wenn ein Mitgliedstaat nicht fähig oder nicht willens ist, seine nationalen Außengrenzen zu Drittstaaten effektiv zu schützen und damit zugleich das „europäische Interesse“ an einem wirksamen Außengrenzschutz beeinträchtigt, der EU eine im Lichte des Verhältnismäßigkeitsprinzips graduell abgestufte Auffangverantwortung zukommt.[123]

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Auffangverantwortung

In Anwendung des auf das europäische Interesse bezogenen Solidaritätsprinzips kann die Agentur Empfehlungen aussprechen und finanzielle, personelle oder technische Unterstützung leisten. Wenn aber die nationalen Behörden nicht kooperieren, dann kann sie – legitimiert durch einen Ratsbeschluss mit qualifizierter Mehrheit – als ultima ratio auch ohne vorherige Anfrage seitens des betroffenen Mitgliedstaats, und damit gegen dessen Willen, im Sinne einer Auffangverantwortung selbst einschreiten. Voraussetzung ist konkret, dass aufgrund von Mängeln beim Vorgehen gegen einen das Funktionieren des Schengen-Raums potenziell gefährdenden Migrationsdruck dringender Handlungsbedarf besteht und den ausgesprochenen Empfehlungen der europäischen Ebene seitens der nationalen Behörden nicht nachgekommen wurde (Art. 42 VO (EU) 2019/1896). Die derzeitige Verordnung sieht als Reaktion zwar noch kein Selbsteintrittsrecht dergestalt vor, dass die Agentur den Schutz der Außengrenze im Zuge einer Auffangverantwortung, ermächtigt durch den Rat der EU, selbstständig übernimmt. Jedoch erlaubt sie dem Rat bereits jetzt ein Verschieben der Außengrenzen des Schengen-Raums an die Binnengrenzen des nicht kooperierenden Mitgliedstaats mit qualifizierter Mehrheit zu beschließen. De facto würde der nicht kooperierende Mitgliedstaat damit aus dem Schengen-Raum ausgeschlossen.[124]

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Grenzen

Basierend auf der bereits erwähnten Meroni-Rechtsprechung,[125] die der EuGH mit dem ESMA-Urteil[126] ein wenig öffnete, setzt das Unionsrecht der Delegation von Befugnissen an Agenturen jedoch bestimmte Grenzen. Demnach ist eine Delegation im Rahmen des vertraglich geschaffenen institutionellen Gleichgewichts möglich. Konkret bedeutet dies: Innerhalb der Kompetenzordnung der Verträge (vgl. Art. 5 EUV) können nur klar umrissene Ausführungsbefugnisse übertragen werden, deren Kontrolle dem EuGH unterliegt. Nach dem ESMA-Urteil können einer Agentur auf Basis von Art. 114 AEUV aber auch direkte Überprüfungs- und Durchsetzungszuständigkeiten, einschließlich der Befugnis, Bußgelder zu verhängen, übertragen werden. Es dürfen jedoch weiterhin keine eigenständigen Zuständigkeiten der Agentur begründet werden; ihr Handlungsspielraum muss durch den zugrunde liegenden Rechtsakt klar begrenzt sein.[127] Wenn eine Rückbindung von Entscheidungen der Agentur an die europäischen Institutionen, vor allem an den Rat, erfolgt, können einer Agentur darüber hinausgehende Befugnisse übertragen werden, die in die Souveränität von Mitgliedstaaten eingreifen.

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Auffangverantwortung

Das vorstehende Beispiel verdeutlicht, dass vor dem Hintergrund des Subsidiaritätsprinzips die Einrichtung europäischer Agenturen mit Vollzugszuständigkeiten vor allem dann in Betracht kommen kann, wenn das Handeln (oder Nichthandeln) eines primär für den Vollzug zuständigen Mitgliedstaats (negative) Auswirkungen auf andere Mitgliedstaaten oder die Union als Ganze haben kann. In Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes wiederum sind die Zuständigkeiten der Union in diesen Fällen eng umgrenzt und beschränken sich beispielsweise auf ein Einschreiten im Sinne einer Auffangverantwortung, verstanden als ultima ratio.

3. Arzneimittelzulassung in der EU

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Verfahren der gegenseitigen Anerkennung

Die Wirkweise der Grundsätze der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit im Zusammenhang mit Vollzugszuständigkeiten europäischer Stellen kann schließlich anhand des Zulassungsprozesses für Arzneimittel in der EU verdeutlicht werden.[128] Das Zulassungsverfahren folgt hier – mit Ausnahme bestimmter Produkte – grundsätzlich einem dezentralisierten Mechanismus.[129] Danach prüfen die zuständigen nationalen Behörden, ob der eingereichte Antrag den europäischen Zulassungsvorschriften entspricht. Ist dies der Fall, so erteilen sie eine Genehmigung für das Inverkehrbringen des Medikaments.[130] Bei parallelen Anträgen in zwei oder mehr Mitgliedstaaten wird ein Verfahren der gegenseitigen Anerkennung angewendet: Der Antragsteller ersucht dabei einen Mitgliedstaat, als Referenzmitgliedstaat zu fungieren.[131] Der Referenzmitgliedstaat erstellt daraufhin einen Entwurf eines Beurteilungsberichts. Stimmen alle betroffenen Mitgliedstaaten diesem Bericht zu, so trifft jeder Mitgliedstaat, in dem ein Antrag gestellt wurde, eine Autorisierungsentscheidung für sein Hoheitsgebiet.[132] Widerspricht jedoch ein Mitgliedstaat dem Beurteilungsbericht wegen einer potenziellen schwerwiegenden Gefahr für die öffentliche Gesundheit, wird die Angelegenheit an die Europäische Arzneimittel-Agentur weitergeleitet und die Kommission entscheidet endgültig.[133] Der Widerspruch eines einzelnen Mitgliedstaats reicht folglich aus, um den direkten Vollzug des europäischen Arzneimittelzulassungsrechts durch die europäische Verwaltung auszulösen.

C. Ausblick

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Differenzierte Kompentenzausübung

Die Kompetenzausübung im europäischen Verwaltungsverbund stößt auf eine komplexe Wirklichkeit, die sich nicht durch eine undifferenzierte Bezugnahme auf die Prinzipien der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit steuern lässt.[134] Beide die Kompetenzausübung steuernden Prinzipien sind kein Selbstzweck. Defizite in den mitgliedstaatlichen Verwaltungskapazitäten einerseits und die Funktionsfähigkeit der als Rechtsgemeinschaft konzipierten EU andererseits erfordern zumindest in den Bereichen, in denen die effektive Anwendung und Durchsetzung des gemeinsam beschlossenen Rechts von grundlegender Bedeutung für zentrale Aufgaben der EU ist (vgl. z. B. Art. 3 EUV: Binnenmarkt, Wirtschafts- und Währungsunion, Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts), dass die EU im Rahmen einer neuen Arbeitsmethode handlungsfähiger wird. Im Rahmen einer differenzierten Kompetenzausübung[135] weist die vorstehend skizzierte neue Arbeitsmethode mit ihren Elementen kooperativer Rechtsdurchsetzung einen Weg, der – im Sinne des (prozeduralen) Solidaritätsprinzips gemäß Art. 4 Abs. 3 EUV – verhindert, dass prioritäre europäische Interessen (wie z. B. ein wirksamer Außengrenzschutz als Vorbedingung für den Erhalt der Freizügigkeit im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts gemäß Art. 67 AEUV) gefährdet werden.[136] Dabei wird die europäische Kompetenzausübung über das Subsidiaritäts- und Verhältnismäßigkeitsprinzip im Sinne einer graduell abgestuften Auffangverantwortung ausgestaltet, im Zuge derer die EU-Institutionen durch Empfehlungen agieren und damit einhergehende finanzielle, personelle oder technische Unterstützung gewähren. Wenn aber nationale Behörden nicht gewillt sind im europäischen Interesse (zum Schutz europäischer öffentlicher Güter) zu kooperieren, müssen europäische Stellen Aufgaben der nationalen Verwaltung zur Wahrung der Funktionsfähigkeit zentraler Politikbereiche der EU (z. B. Freizügigkeit im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts) in Übereinstimmung mit den Vorgaben des Art. 5 EUV für eine gewisse Zeit (also z. B. während einer krisenhaften Situation) an sich ziehen können. Eine solche Form der kooperativen Rechtsdurchsetzung entspricht der Kompetenzausübung im europäischen Verwaltungsverbund und spiegelt die gemeinsame Verantwortung von EU und Mitgliedstaaten für die effektive Rechtsumsetzung und Rechtsanwendung, derer die EU als Rechtsgemeinschaft für ihre Funktionsfähigkeit bedarf.

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