Loe raamatut: «Historische Translationskulturen», lehekülg 17

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2 Kommunikative Strukturen in der Verbreitung sowjetischer Translate

Ausgehend von der These, dass die sowjetische Translationspolitik alle Etappen einer Übersetzung, von der Planung und Auswahl, über den eigentlichen Übersetzungsprozess, bis hin zur Distribution und dem weiteren Einsatz kontrollierte, sollen im Folgenden wesentliche Möglichkeiten und Ausprägungen einer Verbreitung in der Sowjetunion untersucht werden. Diese Praktiken bedürfen nicht unbedingt einer expliziten schriftlichen Festlegung, etwa in Form von Gesetzen oder Vorgaben, sondern können sich auch als Konvention im Laufe der Zeit etablieren (vgl. González Núñez 2016: 91f.). Sie stehen in einem Gegensatz zu Normen, die als unveränderlich gelten, solange sie nicht von einer neuen Norm abgelöst werden (Toury 1995/2012, besonders 76–86 sowie die Kritik daran bei Pym 1998: 111–115). Ferner sind Konventionen nicht immer sichtbar, sondern können erst durch eingehendere Untersuchungen und Vergleiche freigelegt werden. Bei diesen translatorisch relevanten Praktiken handelt es sich um tieferliegende Strukturen und nicht um direkte politische Vorgaben.

Eine wesentliche Eigenschaft von Übersetzungen betrifft deren gesellschaftliche Reichweite bzw. die Art und Weise ihrer Veröffentlichung. Für die totalitäre Kultur der Sowjetunion besonders charakteristisch ist der Umstand, dass der gesellschaftliche Zugang zu Übersetzungen bzw. deren soziale Reichweite bewusst geregelt wurde. Translate wiesen aus diesem Grund einen voneinander abweichenden und politisch geregelten Veröffentlichungsgrad auf und konnten sich zwischen einem stark eingeschränkten Kreis an Fachleuten oder einem (Massen)publikum bewegen (Блюм 2005: 46–78). Die Art der Zugänglichkeit ist insofern von Bedeutung, als diese – neben dem jeweiligen Sprachpaar bzw. der Übersetzungsrichtung – auch die Übersetzungsmethode festlegte.

2.1 Offizielle vs. interne Übersetzungen

Zugänglichkeit wurde dabei in mehrfacher Hinsicht ermöglicht oder eben erschwert bzw. unmöglich gemacht und umfasst räumliche wie soziale Einschränkungen. So konnten Übersetzungen (wie Bücher generell) in einzelnen Bibliotheken vorhanden sein oder nur in Sonderbereichen, für deren Benutzung eine eigene Genehmigung notwendig war. Auch wurden Bibliotheken in der Sowjetunion naturgemäß nicht mit dem gleichen Bestand ausgestattet (Блюм 2005: 56–69).

Übersetzungen wurden für konkrete LeserInnenschichten erstellt, etwa durch eigens dafür entworfene Buchreihen. Die seit 1948 erscheinende Reihe Literaturnye pamjatniki (Literaturdenkmäler) der Russischen Akademie der Wissenschaften veröffentlichte bedeutende Werke der sowjetischen bzw. russischen Literatur wie auch darüber hinausgehend anderer Nationalliteraturen in Übersetzungen inklusive umfangreichem Kommentarband und Fußnoten. Die Auswahl der AutorInnen und deren ästhetischen Programme entsprach dabei nicht oder nur teilweise ideologischen Vorgaben (vgl. dazu den Publikationskatalog Anochina/Gasparov 2012) und war durch ihre Aufmachung wie auch durch ihren Preis für einen bürgerlichen AdressatInnenkreis vorgesehen.

Schließlich ist auch davon auszugehen, dass Übersetzungen vielfach nicht veröffentlicht wurden oder sich deren Veröffentlichung über einen extrem langen Zeitraum erstreckte. Sei es, dass diese nicht den Anforderungen der Zensur entsprachen, sei es, dass diese nur zu Informationszwecken für den internen Dienstgebrauch erstellt wurden und somit nur für einen kleinen Kreis an Personen vorgesehen waren. Dies konnte politische, wissenschaftliche und andere Institutionen genauso betreffen wie den Geheimdienst. Am anderen Ende dieser Skala sind Übersetzungen anzusiedeln, die durch ihre inhaltliche Ausrichtung prinzipiell uneingeschränkt für alle vorgesehen waren. Dabei konnte es sich um ideologische Basisliteratur genauso handeln wie um belletristische Klassiker (Sherry 2015, hier 45–66 bzw. allgemein dazu Ermolaev 1997).

Übersetzungen sind nach dem Status ihrer Veröffentlichung zu unterscheiden. Kam es zu einer Veröffentlichung, so ist danach zu fragen, wo und in welcher Form sie für wen zugänglich waren. Eine Veröffentlichung und somit gewissermaßen eine Approbation durch die sowjetische Zensur hatte nicht zur Folge, dass diese Übersetzung auch jederzeit und für jeden uneingeschränkt zugänglich war. Darin bestand auch eines der wesentlichen Charakteristika der totalitären Kulturpolitik, wurde doch in der Sowjetunion die Zugänglichkeit und Verfügbarkeit von Wissen allgemein penibel geregelt und unterlag einer Vielzahl von genau geregelten Vorgaben (vgl. u.a. Fitzpatrick 2014, 169–212).

2.2 Potenzielle AdressatInnen

Eng mit der Zugänglichkeit von Übersetzungen in Verbindung steht die Frage, für wen Übersetzungen vorgesehen waren. Dabei wirkte es sich direkt auf die Übersetzungsmethode aus, ob ein Translat für die Sowjetunion bzw. eine einzelne Sowjetrepublik, das sozialistische Lager oder ein nicht kommunistisch beherrschtes Land vorgesehen war (zu Lesepublikum im sowjetischen Buchmarkt vgl. Lovell 2005). Von Bedeutung war auch die Frage, ob ein Translat für breite LeserInnenschichten, ein stark eingeschränktes Fachpublikum oder – in unveröffentlichter Form – für den internen Dienstgebrauch vorgesehen war. Der sowjetische Schriftstellerverband ist ein illustratives Beispiel dafür. Auf verschiedenen Kanälen wurden Übersetzungen verbreitet. Bereits ab 1946 erschien die Zeitschrift Sovetskaja literatura (Sowjetliteratur), die zunächst in einer russisch-, deutsch-, französisch- und spanischsprachigen Fassung veröffentlicht wurde und sowjetische Literatur prinzipiell für das nichtsowjetische Ausland präsentieren sollte. Später kamen u.a. Fassungen in polnischer, tschechischer und slowakischer Sprache hinzu. Die einzelsprachlichen Ausgaben waren dabei nicht deckungsgleich, sondern wurden abweichend voneinander gestaltet. Ab 1955 wurden in der Zeitschrift Inostrannaja literatura (Ausländische Literatur) überwiegend literarische Werke nichtsowjetischer AutorInnen in russischsprachigen Übersetzungen vermittelt. Sowjetische Literatur hingegen wurde in russischsprachigen Übersetzungen in der ab 1939 erscheinenden Zeitschrift Družba narodov (Völkerfreundschaft) veröffentlicht. Als Beilage dazu wurde die Buchserie Biblioteka Družba narodov (Bibliothek Völkerfreundschaft) veröffentlicht, die neben russischsprachigen Werken auch zahlreiche Übersetzungen aus Sprachen der Sowjetunion umfasste.

So wie der sowjetische Schriftstellerverband besaßen auch zahlreiche andere Institutionen in der Sowjetunion Publikationsorgane, die in andere Sprachen übersetzt wurden. Bewusst wurde auf die potenzielle LeserInnenschaft geachtet. Ideologische bzw. politisch motivierte Vorgaben der Zensur wurden dabei unterschiedlich behandelt. Übersetzungen für das nicht kommunistische Ausland waren in einem deutlich geringeren Ausmaß einer ideologisierten Sprache (zur Frage der sprachlichen Ideologisierung vgl. stellvertretend Weiss 1986) unterworfen als Übersetzungen für die Sowjetunion selbst.

2.3 Kanalisierung

In einem innersowjetischen Kontext (wie auch innerhalb des sozialistischen Lagers) spielte das Wechselverhältnis zwischen den Sprachen und Kulturen der Sowjetunion eine bedeutende Rolle. Propagiert wurde die Existenz eines in sich geschlossenen Sowjetvolks, das ungeachtet ethnischer und nationaler Unterschiede existierte. Ein zentraler Begriff war jener der Völkerfreundschaft, der diese politische wie kulturelle Nähe und Einigkeit zum Ausdruck bringen sollte.

Betrachtet man das Übersetzungsaufkommen zwischen den Sprachen innerhalb der Sowjetunion, so zeigt sich ein von dieser politischen Losung stark divergierendes Bild. Gemessen an den verfügbaren Daten selbstständig erschienener Publikationen ist eine starke Kanalisierung festzustellen (zu umfangreichen Daten die Sowjetukraine betreffend vgl. Низовий 1974, die Sowjetunion insgesamt betreffend vgl. Печать СССР). Allgemein steigt das Aufkommen bei einer Beteiligung des Russischen. Ganz gleich, ob aus dem Russischen in eine der Sprachen der Sowjetunion übersetzt wird oder umgekehrt in das Russische, diese Übersetzungen sind deutlich umfangreicher als jene zwischen Sprachen abseits des Russischen. Ein vergleichbares Bild zeigt sich auch mit Blick auf das sozialistische Lager, wo Übersetzungen aus dem Russischen gegenüber Übersetzungen aus anderen Sprachen kommunistisch regierter Länder deutlich dominieren (zum Polnischen vgl. Hofeneder 2016 bzw. die entsprechenden Ausgaben der Publikationsreihe Ruch wydawniczy w liczbach). Denn während kulturelle und politische Beziehungen bei Weitem nicht zwischen allen Sprachen und Kulturen der Sowjetunion gleichermaßen ausgeprägt waren, ist diese Kanalisierung auch zwischen jenen zu beobachten, die nachgewiesenermaßen enge Kontakte und eine weit zurückreichende gemeinsame Geschichte hatten. In der Sowjetukraine erfolgte, zum Beispiel, die überwiegende Mehrheit der Übersetzungen aus dem Russischen. In einem deutlich geringeren Umfang kam es zu Übersetzungen aus anderen Sprachen der Sowjetunion bzw. sogenannter nicht sozialistischen Sprachen, wie Tabelle 1 zu entnehmen ist.


UKR RUS SU nicht soz. Sprachen gesamt
1950 38 (5,6 %) 592 (86,8 %) 26 (3,8 %) 26 (3,8 %) 682
1955 24 (3,6 %) 529 (79,2 %) 30 (4,5 %) 85 (12,7 %) 668
1960 70 (11,7 %) 365 (61,1 %) 32 (5,4 %) 130 (21,8 %) 597
1965 123 (23,2 %) 274 (51,7 %) 50 (9,4 %) 83 (15,7 %) 530
1970 173 (25,7 %) 328 (48,8 %) 44 (6,5 %) 127 (18,9 %) 672
1973 188 (25,7 %) 384 (52,5 %) 51 (7,0 %) 108 (14,8 %) 731

Tabelle 1: Gesamtanzahl belletristischer Übersetzungen (inkl. Ausgangssprache) (Низовий 1974: Tabelle 13, 28–31)

Diese Tabelle, die dem statistischen Handbuch über das Druckwesen der Sowjetukraine entnommen ist, führt Übersetzungen belletristischer Werke an, die in der Sowjetukraine in das Ukrainische erfolgten, und beinhaltet auch die Angabe der Ausgangssprache. Die Einteilung erfolgt gemäß damals üblichen Gruppierungen und orientiert sich an ideologischen Bezugspunkten. Neben Übersetzungen aus dem Ukrainischen und Russischen folgt eine Gruppe mit „Übersetzungen aus der Sowjetunion“ (SU), die alle Sprachen abseits des Russischen zusammenfasst. In der letzten Gruppe werden Übersetzungen aus sogenannten „nicht sozialistischen Sprachen“ angeführt, die Übersetzungen aus nicht kommunistisch regierten Ländern umfassen.1

Im Verlaufszeitraum von 1950 bis 1973 zeigen sich mehrere charakteristische Momente. Zunächst dominieren Übersetzungen aus dem Russischen, wobei deren Anteil von 86,8 % im Jahr 1950 auf 52,5 % im Jahr 1973 sinkt. Konträr dazu steigt die Anzahl an Übersetzungen aus dem Ukrainischen (von 5,6 % auf 25,7 %) sowie der Übersetzungen aus „nicht sozialistischen Sprachen“ (von 3,8 % auf 14,8 %). Bezeichnenderweise bleibt der Anteil an Übersetzungen aus Sprachen der Sowjetunion (hier ohne Russisch) verhältnismäßig gering (er verdoppelt sich zwar beinahe von 3,8 % auf 7,0 %, bleibt aber in absoluten Zahlen gering). Diese Gegenüberstellung zeigt, dass Übersetzungen einer starken Kanalisierung unterworfen wurden. Die instrumentalisierte Völkerfreundschaft der Sowjetunion findet im Bereich der Übersetzungen keinen wesentlichen Niederschlag und verschiebt sich bei anderen Textsorten, wie politischer Literatur oder Fachtexten, noch weiter zugunsten des Russischen (vgl. dazu die Tabellen 18, 19, 22 und 23 in Низовий 1974).

Eine ähnliche Verteilung zeigt sich auch in einem gesamtsowjetischen Kontext. Tabelle 2 listet die veröffentlichten Übersetzungen des Jahres 1965 – unter Angabe der Ausgangs- und Zielsprachen – und ordnet diese nach Sprachen innerhalb und außerhalb der Sowjetunion.2 Die angesprochene Kanalisierung betrifft alle Sprachen abseits des Russischen und wirkt sich in zweierlei Hinsicht aus: Aus den Sprachen der Sowjetunion wird mehrheitlich in das Russische übersetzt, darüber hinaus ist die Anzahl der Zielsprachen gegenüber dem Russischen deutlich eingeschränkt.


Ausgangssprache Anzahl an Ü in das RUS in andere Sprachen der SU Anzahl der Zielsprachen
Gesamt 8.883 2.299 4.724 84
Sprachen der SU 7.100 1.044 4.218 84
Russisch 5.594 3.921 83
Ukrainisch 220 172 22 19
Litauisch 190 93 13 12
Estnisch 163 128 15 11
Lettisch 142 86 44 20
Georgisch 95 70 17 13
Weißrussisch 76 54 21 9
Sprachen außerhalb der SU 1.783 1.255 506 30
Englisch 665 558 107 13
Deutsch 260 172 69 19
Französisch 178 107 70 13
Tschechisch 81 58 23 9
Polnisch 73 42 31 10

Tabelle 2: Anzahl übersetzter Bücher und Broschüren in der Sowjetunion im Jahr 1965 (inkl. Ausgangs- und Zielsprache) (Печать СССР 1966: 13)

Von den insgesamt 8.883 veröffentlichten Übersetzungen wurden im Jahr 1965 rund 80 % bzw. 7.100 Übersetzungen aus Sprachen der Sowjetunion erstellt. Dabei entfallen mit 5.594 Übersetzungen die meisten auf das Russische. Das sind rund 63 % des Gesamtaufkommens bzw. rund 79 % aller in der Sowjetunion veröffentlichten Übersetzungen. Von den Übersetzungen mit Russisch als Ausgangssprache wurden 3.921 Titel bzw. rund 70 % in Sprachen der Sowjetunion übersetzt. Dieses Verhältnis ist bei anderen Sprachen umgekehrt, die durch die sehr geringe Anzahl an Übersetzungen stark marginalisiert wurden. So wurden nur rund 220 Übersetzungen aus dem Ukrainischen angefertigt, von denen 172 in das Russische erfolgten und nur 22 in andere Sprachen der Sowjetunion bzw. – das ist hier nicht eigens vermerkt – nur 26 Übersetzungen in Sprachen außerhalb der Sowjetunion. Ein ähnliches Verhältnis zeigt sich bei Übersetzungen aus Sprachen außerhalb der Sowjetunion in Sprachen der Sowjetunion. Auch in diesem Fall entfällt mit rund 70 % der Großteil auf das Russische. Prozentuell zeigt sich gemäß den Angaben in Tabelle 2 das folgende Verhältnis.


Ausgangssprache Anzahl an Ü in das RUS (in %) in andere Sprachen der SU in Sprachen außerhalb der SU
Russisch 5.594 3.921 (70,1 %) 1.673 (29,9 %)
Ukrainisch 220 172 (78,2 %) 22 (10,0 %) 26 (11,8 %)
Litauisch 190 93 (48,9 %) 13 (6,8 %) 84 (44,3 %)
Estnisch 163 128 (78,5 %) 15 (9,2 %) 20 (12,3 %)
Lettisch 142 86 (60,6 %) 44 (31,0 %) 12 (8,4 %)
Georgisch 95 70 (73,7 %) 17 (17,9 %) 8 (8,4 %)
Weißrussisch 76 54 (71,1 %) 21 (27,6 %) 1 (1,3 %)

Tabelle 3: Prozentuelles Verhältnis der Übersetzungen in der Sowjetunion (1965) (erstellt nach: Печать СССР 1966: 13)

Das Übersetzungsaufkommen in der Sowjetunion erfolgte in überwiegendem Maße unter Beteiligung des Russischen. Der Prozentsatz an Übersetzungen ins Russische reicht von rund 50 % bis 80 %. Demgegenüber sind Übersetzungen zwischen Sprachen der Sowjetunion abseits des Russischen deutlich schwächer ausgeprägt und reichen von rund 7 % (Litauisch) bis 31 % (Lettisch). Dadurch erfolgen Übersetzungen in Sprachen außerhalb der Sowjetunion, die nicht aus dem Russischen erfolgen, nur in eingeschränkter Form. Litauisch nimmt hier mit rund 44 % eine Sonderposition ein.