Loe raamatut: «Kursbuch 204»
Inhalt
Armin Nassehi Editorial
Heike Littger Lagerfeuer Mitten durch die Prärie neuer Foodtrends
Corinna Schirmer Vom Fleisch fallen Das Ende einer Essgewohnheit
Marie Schröer Foodporn Ein Kurztrip in die sozialen Medien
Jürgen Dollase Einfache Spitzenküche Eine notwendige Versöhnung zwischen Massengeschmack und elitärer Raffinesse
Eva-Maria Endres, Christoph Klotter Moral frisst Fressen Das Richtige essen und das richtige Essen
Jana Rückert-John Gemeinsam einsam Über das Essen in Corona-Zeiten
Eva Barlösius Du bist, was du isst Eine Widerstandsnotiz gegen kulturelle und soziale Abwertungen
Andrea Fadani Hunger über Hunger Eine kulturgeschichtliche Spurensuche
Felix Lindner Überall Wurst Ein Literaturspot um 1900
FLXX Schlussleuchten von und mit Peter Felixberger
Autorinnen und Autoren
Impressum
Armin Nassehi
Editorial
»Weil Speis und Trank in dieser Welt doch Leib und Seel’ zusammenhält«, heißt es 1690 in dem Singspiel Der irrende Ritter Don Quixotte de la Mancia von Johann Philipp Förtsch – es ist der Ursprung des geflügelten Wortes, und es enthält fast alles, was man über das Essen sagen kann. Es hält Leib und Seele nicht nur zusammen, es findet sogar gewissermaßen in zwei Welten statt – in der Welt des Leibes, des Lebens, des Überlebens, der Natur und der Stofflichkeit einerseits, in der Welt der Seele, der Kultur, der Bedeutung und ihrer sozialen Ausprägung andererseits. Essen ist gewissermaßen das Symbol für die unterschiedlichen Formen des Stoffwechsels, in der der Mensch steht: im Stoffwechsel mit seiner natürlichen Umwelt einerseits, im Stoffwechsel mit der soziokulturellen Umwelt andererseits. Essen (und Trinken) dient einerseits der Selbstreproduktion unseres stofflichen Körpers und ist immer geprägt von der eher feinstofflichen Ebene seiner sinnhaften Verweisungen. Nichts, was gegessen wird, ist nur Nahrung, und alles, was gegessen wird, bedeutet auch etwas.
Darin ähnelt das Essen der Sexualität – die auch nicht einfach der Reproduktion der Gattung dient, sondern stets auf besondere Weise soziokulturell aufgeladen ist. Nicht umsonst sind sowohl Sexualität als auch Ernährung ein besonderer Gegenstand aller Weltreligionen – Sexualität und Ernährung stehen gewissermaßen für die Perpetuierung der Schöpfung, im Falle des Essens von Tag zu Tag, im Falle der Sexualität von Generation zu Generation. Die christliche Vorstellung des peccatum originale, der Erbsünde, wird gewissermaßen durch den Kontrollverlust des Sexuellen von Generation zu Generation weitergegeben, perpetuiert gleichwohl die Schöpfung Gottes und muss deshalb stark eingehegt werden – in einer strengen Sexualmoral und der Sakralisierung der Ehe. Der Ursprung der Erbsünde freilich war nicht der Sex, sondern ein Biss in einen Apfel, der den Menschen aus dem Paradies vertrieb, ihm aber auch die Kultur bescherte: Er konnte nicht mehr einfach sein, was er war, sondern er musste sich nun ansehen. Dass der Sündenfall der Frau oblag, ist dann vielleicht die Verbindung zur Sexualisierung des Geschlechts. Dass es ein Akt des Essens war, der den Menschen zu dem macht, was danach sein sollte, ist vielleicht kein Zufall, vielleicht auch nur theologische Spekulation – aber man könnte den Satz »Du bist, was du isst« als geradezu schöpfungstheologische Anthropologie interpretieren.
Es ist jedenfalls kein Zufall, dass die Religionen nicht nur klare Sexualvorschriften, -tabus und -regeln kennen, sondern auch deutliche Speisevorschriften, -tabus und -gebote. Diese variieren enorm, sind hier strenger, dort nur noch ein blasser Widerschein früherer Strenge, aber sie symbolisieren tatsächlich das Grundlegende jenes Stoffwechsels des Menschen mit seiner natürlichen Umwelt. Innerhalb der religiösen Traditionen ist es vor allem der Distinktionsgewinn zwischen strengeren und weniger strengen Gruppen, zwischen Konfessionen und Lebensarten, die sich besonders in diesen kulinarischen Regeln niederschlagen.
Und jede Regel ist nur so schön wie seine Übertretung – wie in dem bekannten Witz über den Rabbi, der beim Metzger auf einen Schinken zeigt und fragt, was der Fisch koste. Auf die Auskunft, das sei ein Schweineschinken, sagt er, er wolle den Preis des Fisches wissen, nicht, wie er heißt. Genauso schön ist das schwäbische »Herrgottsbscheißerle« – Maultaschen, die in der Fastenzeit bis Karfreitag gereicht wurden und deren fleischhaltige Füllung eben in der Teigtasche versteckt war, die Gottes Blick, wiewohl omnipotent, verborgen bleibe. Dialektisch wissen wir, dass die kreative Übertretung der Regel vor allem auf die Geltung der Regel verweist. Das Essen jedenfalls kann sich der Doppelbedeutung zwischen schlichter Stofflichkeit und Nährwert und seiner kulturellen Bedeutung nicht entziehen.
Die Beiträge dieses Kursbuchs eint die Perspektive auf diese Doppelbedeutung des Essens und der Ernährung als natürlich-kulturelle Dublette. Und auch ganz ohne Rekurs aufs Theologische und Religiöse wird deutlich, dass die Bedeutung des Essens in allen Beiträgen auch darin liegt, dass gegessen werden muss, damit sowohl die Gattung als auch ihre Gesellschaft und Kultur kontinuiert. Es findet jeden Tag statt, meistens mehrmals, und es bedeutet stets mehr, als es ist. So machen Eva-Maria Endres und Christoph Klotter darauf aufmerksam, wie sehr sich das Essen stets moralischer Beobachtung ausgesetzt sieht, und Eva Barlösius zeigt in ihrem Beitrag, dass sich in den Lebensmitteln selbst eine sozialmoralische Differenz ausdrückt, in der unterschiedliche Praktiken sichtbar werden. Jana Rückert-Johns Überlegungen über das Essen in Corona-Zeiten machen ebenso auf die soziale Bedeutung des Essens aufmerksam – wer enger aufeinandersitzen muss, muss auch zusammen essen. Oder darf?
Andrea Fadanis Kulturgeschichte des Hungers Marie Schröers Beitrag über »Foodporn« gegenüberzustellen, macht sehr deutlich, wie sich im Essen gesellschaftliche Extreme unterscheiden lassen – hier der menschheitslange Mangel und der Hunger, dort die Ausstellung des Überflusses von seiner künstlerischen Darstellung bis zu seiner popkulturellen Darstellung in sozialen Medien. Auch Corinna Schirmers Beitrag über den Bedeutungswandel des Fleisches als Nahrungsmittel lässt im Nahrungsmittel und seiner Aufladung mit Bedeutung gesellschaftlichen Wandel sichtbar werden. Die »Wurstpoetologie« von Felix Lindner ist der Beitrag, der aus unserem Call for Papers hervorgegangen ist.
Heike Littger hat sich nach diversen Foodtrends umgesehen und gezeigt, wie sehr nicht nur unterschiedliche Trends auffindbar sind, sondern wie diese in kulturelle, ökonomische, technische und Marketingentwicklungen eingebettet sind. Meine Lieblingsstelle: Manche sehr neue vegane Foodtrends, etwa Pouletstreifen aus Erbsenproteinen, sind zwar neu, verdanken ihren Erfolg aber der historischen Macht von Maggi- und Knorrwürze. Nur weil schon das richtige Huhn nicht nach Huhn schmeckte, kann man es jetzt ohne Rest, ohne Huhn kopieren. Das Essen dekonstruiert sich selbst, indem es den Geschmack perpetuiert, der aus einer Zeit vor aller Dekonstruktionsmöglichkeit stammt.
Das führt zum Beitrag von Jürgen Dollase – ein Meisterwerk der Dekonstruktion. Dollase diagnostiziert einen clash of culinary cultures – und dekonstruiert diesen, indem er den Kampfbegriffen dieses Kampfs der Kulturen misstraut. Was ist einfache Küche, was eine Spitzenküche, was Qualität und wie lässt sich die lebenslange Geschmackssozialisation überwinden – und geht dabei stets derjenige als Sieger hervor, den man erwartet? Dollase ist hier kein Kombattant in diesem Kampf der Kulturen, auch kein Schiedsrichter, sondern jener parteiliche Unparteiische, der beiden Seiten bescheinigt, wie sehr sie sich an ihre eigenen Vorurteile gewöhnt haben.
Wer nach diesem kalorienreichen Kursbuch immer noch Appetit verspürt, stößt auf Peter Felixbergers FLXX-Kolumne, die diesmal die Demokratie in einem Menü der Extraklasse kredenzt – garantiert ganz ohne braune Soße.
Der Brief eines Lesers ist dem Autor diesmal im Halse stecken geblieben – er fällt dem Überangebot an Kulinaria in diesem Kursbuch zum Opfer.
Heike Littger
Lagerfeuer
Mitten durch die Prärie neuer Foodtrends
Frankfurt im Oktober. Der Countdown läuft. Noch 73 Tage, dann muss das »Seven Swans« sterben. So steht es auf der Homepage von Ricky Saward und seinem Frankfurter Restaurant. Seit einem guten Jahr bietet der Koch nur das an, was er auf seinem Acker und im Wald drumherum findet. Gemüse, Obst, Beeren, Kräuter, Pilze. Bisschen Getreide. Kein Fleisch, keine Eier, keine Milch. Was er in der Küche nicht verarbeiten kann, landet wieder auf dem Feld. Brutal lokal, Farm-to-Table, No Waste. Das Konzept kommt bei den Gästen gut an, kaum ein Abend, an dem das Restaurant nicht ausgebucht ist. Im Frühjahr konnte Saward seinen Stern verteidigen, damit führt er das erste vegane Sternerestaurant der Welt, das grüne Kleeblatt für Nachhaltigkeit gab es obendrauf. Mehr »in« geht nicht. Doch der Koch hat das Trendgerede satt. »Entweder dich versteht keiner, dann wirst du runtergeschrieben. Oder die Leute finden es cool und wollen immer mehr und noch eine Schippe drauf. Da kann man persönlich nur verlieren.«
Foodtrends. Was ist angesagt? Was wollen wir heute, morgen und übermorgen essen? Welche Lebensmittel sind besonders begehrt und welche wollen wir so gar nicht mehr auf unseren Tellern sehen? Ist vegan in der Mitte der Gesellschaft angekommen? Wie sieht es mit alternativen Proteinquellen aus? Werden wir die Zeit, in der wir Tiere in Massen gezüchtet und geschlachtet haben, hinter uns lassen? Kurz: Uns bewusster, gesünder, regionaler, nachhaltiger ernähren? Wer hier nach Antworten sucht, kommt an Hanni Rützler nicht vorbei. Seit 2014 bringt die Trendforscherin jedes Jahr für 150 Euro ihren Foodreport heraus, der die kulinarischen Trends beleuchtet. Natürlich, einen Wandel der Esskulturen hat es immer schon gegeben, doch noch nie war er »so rasant, so radikal, so differenziert wie aktuell«. Rützler schreibt von einer Revolution, die da stattfindet, nicht nur hier in Deutschland oder Europa, sondern weltweit in allen Wohlstandsgesellschaften. »Nie konnten wir so frei über unser Essen entscheiden wie heute« – und die Menschen identifizieren und positionieren sich nicht nur mit dem und durch das, was sie essen, sondern auch mit dem und durch das, »was sie aus Überzeugung nicht essen«. Kein Qualfleisch. Keine Milch. Kein Import-Soja. Kein Palmöl. Keine industriell verarbeiteten Lebensmittel. »Als Veganer, Paleo-Jünger oder Clean-Eater weiß man sehr genau, welchen Platz man in der Gesellschaft einnimmt«, so Journalist und Buchautor Nils Binnberg.1 Und dieses Wissen gibt einem die vermeintliche Gewissheit, auf der richtigen Seite des Lebens zu stehen. Oder zumindest ein bisschen das Gefühl von Kontrolle: Was in der Welt da draußen passiert, kann ich nur bedingt beeinflussen, was in meinen Körper reinkommt, schon.
Um im Trenddschungel nicht den Überblick zu verlieren, versucht es Rützler mit einer Food-Trend-Map: 35 englische Begriffe über eine Doppelseite verteilt, manche in dünner, manche in etwas dickerer Schrift, die von sieben Megatrends in sieben Farben unterschiedlich stark umschlungen werden:
Brutal Lokal, Transparency und Seasonal Food gehören zu GLOKAL, NACHHALTIGKEIT und QUALITÄT. Ethno Food und Hybrid Food zu GLOKAL und GENUSS. Cell Cultured Food und Real Omnivores zu BEYOND FOOD und NACHHALTIGKEIT, Veganmania außerdem zu GESUNDHEIT. Spiritual Food, Clean Food und Plant Based Food zu GESUNDHEIT und ALLTAG …
Der Treiber für diesen Wandel ist für Rützler die jüngere Generation, »die das Ernährungsverhalten der eigenen Familie hinterfragt«. Sich auf die Suche nach Alternativen macht – und wenn sie sie nicht findet, kurzerhand auch mit eigenen Ideen auf den Foodmarkt tritt. Allein im vergangenen Jahr gingen hierzulande laut startupdetector 146 Food-Start-ups an den Start. Ein bunt gemischter Haufen aus Leuten mit den unterschiedlichsten Abschlüssen und Berufen. Überzeugungstäter, die ihren Job an den Nagel hängen, um jetzt endlich etwas zu verändern, bis hin zu Betriebswirtschaftlern mit Master in der Tasche, die bereits ein, zwei Unternehmen in anderen Branchen hochgezogen haben. Hinter ihnen bringt sich allmählich ein Heer aus Business Angels und Finanzinvestoren in Position, die den Foodmarkt zunehmend für sich entdecken. Dazu Handelskonzerne (REWE, EDEKA, METRO), Lebensmittelhersteller (Katjes, Bahlsen) und selbst TV-Sender (ProSiebenSat.1), die mit eigenen Beteiligungsgesellschaften und Inkubatoren an den Start gehen oder sich irgendwo andocken. Wer mit seiner Idee überzeugt, bekommt nicht nur Geld, sondern auch den Zugang zu Strategie-Workshops, Laborküchen, Lagerräumen, Coworking Spaces und Networking-Veranstaltungen. Manche Gründer besetzen Themen wie Überproduktion, transparente Lieferketten, Vertical Farming und direkte Vernetzung von Erzeugern mit Kunden. Doch die meisten tüfteln an eigenen Produkten. Schockgefrostete Bio-Bowls, Protein-Schokolade, Energie-Shots zum Trinken, kalorienarme Snacks, Powerriegel, Low Carb Pasta, Saftkuren zum Detoxen, Kaugummis mit CBD-Öl, Algensalat, Milch ohne Milch und immer wieder Fleischersatz. Zwei Beispiele seien stellvertretend herausgepickt, angesiedelt zwischen den Extremen In-vitro-Fleisch und Insekten und jenseits von Soja, Erbsen und Lupinen.
It’s all about Krebs: Lukas Bosch berät eigentlich Unternehmen in Sachen Zukunft. Doch als er in einem Zeitungsartikel über die handtellergroßen Sumpfkrebse las, die jedes Jahr in Horden durch den Berliner Tiergarten krabbeln, zählte er eins und eins zusammen. Die Stadt hat ein Problem: Die Tiere, irgendwann eingeschleppt aus Nordamerika, haben keine natürlichen Fressfeinde und verdrängen heimische Arten. Die Menschen haben ein Bedürfnis: Fleisch mit gutem Gewissen essen, aus artgerechter Haltung, am liebsten aus der Region, noch besser aus der eigenen Stadt. Warum also nicht aus der Plage ein Business machen?
Zusammen mit seiner Frau Jule, Trendforscherin, und Andreas Michelus, Koch, telefonierte er mit Binnenfischern. Probierte Rezepte aus. Besorgte sich einen silbrig glänzenden Foodtruck. Servierte die Krabben auf Events unter anderem in einer frisch gebackenen Sauerteigbrioche mit Dill-Mayonnaise, mariniertem Staudensellerie, rotem Zwiebelsalat. Und entdeckte in und um Berlin noch andere invasive Arten, die sich zu stark vermehren und lecker verarbeiten lassen: den nordamerikanischen Kamberkrebs, die Chinesische Wollhandkrabbe.
Corona hat dem Ganzen zwar ein jähes Ende bereitet, Events wurden abgesagt, der Truck wurde vermietet, doch Bosch arbeitet mit seinen Mitstreitern weiterhin an seiner Idee. Produziert Krabbenessenz, die man Saucen beimischen und in seinem Onlineshop kaufen kann. Liefert die Tiere an Berliner Restaurants – wenn denn in der Region gerade Fangsaison ist. Zukaufen aus China oder den USA kommt für ihn nicht infrage. Neuerdings ist er auch mit Supermärkten im Gespräch. »Die allermeisten Food-Trends zielen letztlich darauf ab, unsere Art des Essens nachhaltiger und gesünder zu gestalten«, sagt Bosch. »Und wir Start-ups können diese Trends befeuern, indem wir immer wieder Impulse setzen, die die Ernährungsgewohnheiten der Menschen verändern und dadurch auch die Großen zum Handeln bewegen.« So passiere es jetzt schon in der Mode. Und so werde es auch zunehmend im Bereich Food stattfinden.
It’s all about Pilz: Keine zehn Minuten vom Rathaus Schöneberg entfernt, in der Rosenheimer Straße 13, sitzt Mushlabs. Der Kopf dahinter: Mazen Rizk. Der Biologe arbeitete nach seiner Doktorarbeit über Biokraftstoffe bei einem Hefehersteller und entdeckte dort die wundersame Welt der Lebensmitteltechnologie. Heute versucht er, Pilzzellen, die er in großen Stahltanks mit sterilisierten Nebenprodukten aus der Lebensmittelindustrie und Landwirtschaft füttert (zum Beispiel Obstschalen, Reishüllen, Kaffeesatz), durch Fermentation in eine proteinhaltige und ballaststoffreiche Masse zu verwandeln. Welchen Pilz er dafür nimmt, ist geheim. Angeblich ist es einer, den man in jedem Supermarkt kaufen kann. »Ziel ist ein neues Nahrungsmittel mit besonderer Textur und einem eigenen Umami-Geschmack, das zudem einen positiven Einfluss auf unsere Gesundheit hat«, sagt Anne-Cathrine Preißer, die die Produktentwicklung seit Anfang des Jahres leitet. »Auf Zusätze wollen wir so gut es geht verzichten«, vor allem auf importiertes Soja, Palm- oder Kokosöl.
Im Sommer konnte das Start-up neben Atlantic Food Labs und Bitburger Ventures weitere Geldgeber von sich überzeugen, aus der Schweiz, aus Singapur, aus Kalifornien. Die Idee hat globales Potenzial: Die Bioreaktoren könnten überall stehen. Und die Vorteile sind selbsterklärend: Kein Landverbrauch für die Aufzucht von Tieren, aber auch kein Landverbrauch für den Anbau von Pflanzen – weder für Tier noch Mensch. »Wir machen Protein quasi aus dem Nichts«, so Rizk. Wobei seine Vision keine Welt ganz ohne Rinder, Schweine und Hühner ist. Er selbst isst ab und zu Fleisch. »Zweimal die Woche ist das auch okay, nur an den anderen fünf Tagen sollte es etwas anderes sein.« Um Menschen zu überzeugen, müsse aber vor allem der Geschmack stimmen, er entscheide letztlich darüber, ob Kunden das Produkt kaufen. »Nachhaltigkeit kommt immer erst an zweiter Stelle.«
Mit den kürzlich eingesammelten 8,7 Millionen Euro sollen jetzt erst einmal neue Leute eingestellt werden, auch um die Produktion hochzufahren. Bislang gibt es nur Prototypen für Würstchen, Bällchen, Pattys. Wenn alles klappt, können 2021 die ersten Produkte schon mal an ausgewählte Restaurants ausgeliefert werden.2
Gunther Hirschfelder ist Kulturanthropologe und Agrarexperte. Seit Jahrzehnten beschäftigt er sich mit Essen und Trends. Das Engagement von jungen Unternehmen nennt er mitunter »symbolische Markierung«: Ich nehme wahr, dass es ein Riesenproblem gibt, und das hier ist meine Antwort darauf. Hirschfelder ist weit davon entfernt, zu werten. »Es ist die Aufgabe von Start-ups, den Markt zu sondieren und mithilfe von Kapital Ideen auszuprobieren – auch wenn dann nur ein Bruchteil das Zeug dazu hat, unsere Ernährung wirklich nachhaltig zu beeinflussen.« Vor allem die technologischen Lösungen haben nach Hirschfelder die Chance, eine rasante Entwicklung hinzulegen – »es ist der Trend schlechthin, die Folie, auf der alles andere passieren wird«. Vermutlich nur in einem größeren Maßstab.
Seit vergangenem Jahr sitzt Hirschfelder als Berater im Innovationsraum NewFoodSystem, den das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) zusammen mit dem Fraunhofer-Institut für Verfahrenstechnik und Verpackung sowie dem Max Rubner-Institut (MRI) ins Leben gerufen hat. Die Akteure sind sich einig: Um die Versorgung mit Lebensmitteln auch in Zukunft sicherstellen zu können, müsse jetzt in die Grundlagenforschung investiert und die Landwirtschaft von Boden, Wetter und Klima entkoppelt werden. Stillgelegte Salzbergwerke sind denkbar, so Hirschfelder, in denen nicht nur Getreide, Gemüse und Obst rund ums Jahr gedeihen, sondern auch Fische und alternative Proteinquellen gezüchtet werden. Das Ganze zusammengedacht als effizienter Stoffkreislauf, ohne Abfall, CO2-neutral und sicher.
Auch wenn die Ideen nicht taufrisch sind, die Kombination aus Fisch und Pflanzenzucht geisterte unter dem Namen »Tomatenfisch« schon vor sechs Jahren durch die Presse, erntet Hirschfelder auf solche Visionen Stirnrunzeln. Das werde sich aber ändern. »Die technikkritische 68er-Generation, die die Innovationsfeindlichkeit quasi mit der Muttermilch aufgesogen hat, tritt langsam ab und räumt die Posten für eine technikaffinere Generation.« Corona gebe dieser Entwicklung einen zusätzlichen Schub, »weil wir sehen, nur Hochtechnologie – nichts anderes ist Impfen – wird uns vor einer Katastrophe und einem Leben mit tiefen Einschnitten bewahren.«
Richard Kägi ist 62. Bei dieser Vorstellung wird ihm tatsächlich flau. Seit 30 Jahren reist der Schweizer als Foodscout um die Welt und besucht Bauern, Köche, Winzer, Fischer. Nicht zuletzt, um innovative Produkte für das Schweizer Warenhaus Globus zu finden. Die tollsten, so Kägi, »sind aber für den großen Handel gar nicht geeignet«. Weil zu rar, zu teuer, zu empfindlich. In Japan lagen neben seinem Sushi mal schimmernde Perlen auf dem Teller. »Wenn sie in deinem Mund zerplatzen, schmeckst du das ganze Meer.« Die Algen finden sich nur an den Küsten Okinawas. Einmal aus dem Wasser gefischt, sind sie nach 24 Stunden kaputt. »Sicher, es muss sich etwas tun«, sagt Kägi, »unsere Landwirtschaft, unsere Lebensmittelproduktion, unsere Art zu essen verursacht zu viele Probleme.« Grundsätzlich sei er auch für alles offen, »wenn denn die Rechnung wirklich aufgeht«. Doch bei riesigen Hallen muss er an all die Tomaten, Gurken und Erdbeeren denken, die in der Schweiz schon heute zum großen Teil hors-sol in beheizten Gewächshäusern oder hermetisch abgeschlossenen Räumen unter künstlichem Licht kultiviert werden. Die Pflanzen stehen auf Hydrokulturen, Kokosfasern oder Schaumstoff statt auf Erde, »das Zeug hat für mich keinen Geschmack und keine Lebendigkeit, es wirkt wie tot« 3.
Auf seinem Blog hat sich Kägi vor zwei Jahren über Foodtrends ziemlich ausgelassen. Der Titel: »Fuck the trends!« So scharf würde er es heute nicht mehr formulieren. Nur: Was ist neu an Ethnofood? »Wird in den entsprechenden Ländern schon immer gekocht und schwappt dann als grottenlangweiliger Abklatsch zu uns. Kantinentauglich.« Oder an vegetarisch? »Vor allem in Indien, aber auch in anderen Ländern und Regionen, ernähren sich Hunderte Millionen Menschen schon immer ohne Fleisch.« Oder an lokal, regional? »War bis vor 150 Jahren so normal wie heute peruanischer Spargel im Weihnachtsmenü. Gewürz war das Einzige aus fernen Ländern, aber auch nur getrocknet und teuer wie Kronjuwelen.« So sinnvoll der Einkauf regionaler Produkte auch sein mag, für Kägi macht er nur Sinn, »wenn die Produkte auf Wochenmärkten direkt beim Produzenten eingekauft werden. Im Handel versickert ein großer Teil der Frische in Logistik und aufwendiger Verpackung.« Zudem verstünden Kunden nicht, dass regional und naturnah produziert immer auch strikt saisonal bedeutet – »das wollen die allermeisten dann doch nicht«.
Überhaupt, auch wenn sich viele Schweizer für Foodtrends und Foodinnovationen interessieren: »80 Prozent kaufen dieselben Lebensmittel ein wie vor 30 Jahren«, sagt Kägi. »Unter die zehn beliebtesten Gerichte konnte sich neben Schnipo, Cordon bleu, Burger und Spaghetti Bolo als einzige Exotin gerade mal das grüne Thai Curry schleichen.« In Deutschland sieht es nicht viel anders aus. Menschen sind Gewohnheitsesser und als Kunden markentreu. In Krisenzeiten sowieso. Während des ersten Lockdowns feierten die Dosenravioli von Maggi ein rauschendes Comeback, das Werk in Singen musste Sonderschichten fahren.
Auch Hirschfelder sieht die Diskrepanz. Während ein Teil der Bevölkerung durchaus eine Antwort auf Billigfleisch finden möchte, indem er zum Sojaschnitzel greift oder sich beim Metzger seines Vertrauens nur noch einmal pro Woche ein Edelstück aus dem Dry-Aged-Reifeschrank holt, ist in den allermeisten Kantinen die Currywurst partout nicht von der Tageskarte zu streichen.4 »Diese Widersprüche müssen wir in einer Demokratie aushalten – und sind höchstens politisch aufzulösen, indem Umweltfolgekosten nicht länger sozialisiert werden, sondern eingepreist.« 5 Bloß: Schon vor Corona hat sich keiner ernsthaft da rangetraut. »Jetzt, unter zunehmend ökonomischem Druck, wird die Nachfrage nach preiswertem und energiedichtem Essen vermutlich zunehmen«, schätzt Hirschfelder. Also Fertigpizza, Pommes, Bratwurst, Schnitzel. Auch wenn mit Tönnies die Fleischdiskussion zumindest kurz ins öffentliche Bewusstsein schwappte und verstärkt auch Obst und Gemüse im Einkaufswagen landeten, gerne in Bioqualität: 6 »Fleisch hat in weiten Teilen der Bevölkerung nach wie vor eine hohe Wertigkeit und wird als Statussymbol gesehen«, sagt Hirschfelder. »Solange ich es mir leisten kann, ist noch nicht alles verloren. Wir vergessen oft, dass die Zeit, in der zu Mittag nur der Vater ein Stück Fleisch zu essen bekam, noch nicht so lange zurückliegt.« Diese Erfahrung stecke in vielen von uns noch drin und beeinflusse bis heute unbewusst unser Kauf- und Essverhalten. »Das schleicht sich nicht so schnell aus.« 7
Sowieso gebe es neben den Foodtrends, die es in Bücher, Magazine oder ins Fernsehen schaffen, noch ganz andere Entwicklungen. 27 Prozent aller Menschen, die hierzulande leben, haben ausländische Wurzeln, Ende des Jahrzehnts werden es voraussichtlich 30 Prozent sein. Gerade die jungen Leute, die sich von ihrem Elternhaus emanzipieren, so Hirschfelder, kaufen überwiegend westliche Markenprodukte: Coca-Cola, Red Bull, Hamburger von McDonald’s. Zudem haben Menschen mit afrikanischem oder arabischem Hintergrund zumeist keine Vorbehalte gegenüber Zucker oder Tiefkühlhähnchen von deutschen Discountern, aus ihrer Sicht sind die Tiere im internationalen Vergleich top, »hygienisch einwandfrei, keine Salmonellen, super fleischig«. Unterm Strich, so Hirschfelder, ist die Trenddiskussion, wie wir sie in der Regel führen, eine »doch ziemlich exklusive«. Ausdruck einer glücklichen, aber vielleicht begrenzten Phase von Wohlstand und Überfluss – die auch hierzulande längst nicht alle Menschen gleichermaßen so erleben.8
Holycrab-Gründer Lukas Bosch steigt an dieser Stelle aus. Zu oft hat er die Diskussion geführt. Zu schnell driftet sie ab. Nimmt gewollt oder ungewollt Wind aus den Segeln. Junge Menschen, zumeist aus den Großstädten der Republik, besetzen Themen, bauen ein Business möglichst nachhaltig auf, bieten Alternativen an – und dann kommt der Satz: Tolle Idee, tolles Produkt, können sich jedoch nur bestimmte Leute leisten. »Innovationen entstehen immer aus der Nische heraus«, so Bosch, »und sind nie gleich zu Anfang in allen Belangen perfekt und für jeden erschwinglich.« Der erste Bioladen eröffnete 1971 in Berlin – vermutlich zog er mit seinen selbst gemischten Müslis und Tofu-Bratlingen auch nur eine bestimmte Personengruppe mit etwas mehr im Geldbeutel an. Heute finden sich Bioprodukte in jedem Supermarkt, und für die Tierschutzorganisation PETA ist ALDI der »veganfreundlichste Supermarkt«. Warum soll es in fünf, zehn oder 20 Jahren nicht normal sein, invasive Arten zu essen? Es gibt genug davon, auch Pflanzen. Wie den japanischen Staudenknöterich, der sich nicht nur in Berlin, sondern auch im Allgäu viel zu breitmacht. »Die Stängel schmecken gekocht wie Rhabarber«, sagt Bosch, »ideal für Kompott und Chutneys.«
Wenn der Münchner Koch Vincent Fricke durchs Univiertel zu seiner Küche schlendert, kann er sehen, wie sich Foodtrends niederschlagen. Noch immer ist da die Pizzeria Mario, die Max-Emanuel-Brauerei, der Gasthof Atzinger, gleich daneben die Pommesboutique. In den letzten Jahren sind einige Bowl-, Poke-, Smoothie- und Rohkostläden dazugekommen. Zudem eine vegane Eisdiele und ein Bäcker, der hinter einer großen Glasfront von Hand Sauerteiglaibe formt. Das Stück um die sechs Euro, jeden Tag stehen Leute Schlange. Genau wie Rützler sieht Fricke nicht den einen großen Trend auf uns zurollen, »zum Beispiel Burger, und dann entstehen, wie vor paar Jahren, an allen Ecken plötzlich Burgermanufakturen – die Leute haben gesehen, dass die sechste, siebte Version von etwas keinen Sinn mehr macht, die letzten, die eröffnet haben, waren als Erstes wieder zu.« Vielmehr Mikro-Trends, die sich teilweise überlappen und irgendwo angesiedelt sind zwischen »mega abgespact – bald wird sich sicherlich ein Restaurant Insekten hart auf die Fahne schreiben« bis »unfassbar bodenständig«. Wobei Letzteres seiner Meinung nach überwiegen wird. Nicht weil es den Menschen plötzlich um Nachhaltigkeit, Qualität oder transparente Lieferketten geht, sondern weil es »einfach nur Sinn macht, das zu essen, was in der Umgebung wächst und mit handwerklichem Können verarbeitet wird. Man verträgt es zumeist besser.« 9 Außerdem tut es der Seele gut. In Griechenland erlebte die traditionelle Küche nach der Finanzkrise einen wahren Boom, der bis heute anhält. Gerade die Jungen erinnerten sich an Großmutters einfache Küche und wälzten alte Kochbücher.
Im Grunde wäre das eine Chance für seine Zunft. Zwischen Spitzengastronomie und Food to go klafft eine riesige Lücke, die es zu besetzen gilt. Doch gerade mal »18 000 Köche und Köchinnen sind derzeit in Ausbildung, das ist erschreckend wenig«, so Fricke. Der Grund: Die Betriebe schaffen es nicht, Leute zu gewinnen, die wirklich Bock auf Kochen haben, »sondern sich nur für die Lehre entscheiden, weil Maurer noch anstrengender klingt«. Die wenigen, denen es wirklich ernst ist, geben oft vorzeitig auf. Desillusioniert nach monatelangem Bodenschrubben und fertigem Kartoffelsalat aus dem Fünf-Liter-Eimer. Ein Blick in die Hauptstadt gibt Fricke Hoffnung. Dort versucht die Initiative Kantine Zukunft Berlin den Beruf des Kantinenkochs aufzuwerten, indem sie derzeit sieben Küchenbetreiber wieder zum Kochen und Backen bringt – kein Berufsstand wurde vom eigenen Handwerk so entfremdet. Gleichzeitig arbeiten die beiden Start-ups Aitme und DaVinci an Kantinenrobotern, die schon im kommenden Jahr in Büros Pasta und Bowls frisch zubereiten sollen, die Zutaten frei wählbar per App. Auch hier: Bedürfnis (besseres Mittagessen) – Idee – Business.
Der Grund, warum sich die meisten Menschen noch so ernähren, wie sie sich ernähren – zu fett, zu salzig, zu süß, zu viele Fertigprodukte –, liegt für Fricke zum einen an mangelnder Selbstreflexion. Kaum jemand nimmt bei sich selber wahr, welche Wirkung bestimmte Lebensmittel haben. Wie geht es mir nach Currywurst, Burger, einem Liter Zuckerwasser? Zum anderen an der kaum bis nicht vorhandenen Kochkompetenz. Ausgerechnet Christoph Minhoff, Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung der Deutschen Ernährungsindustrie (BVE), ließ sich während des Lockdowns zu der Aussage hinreißen: »Der Wegfall des Angebots von Schnellrestaurants, Pommes-Buden und Italiener um die Ecke wirft die Leute dramatisch zurück auf ihre eigenen Kochkünste – und die sind begrenzt.« Eine Fertigpizza könne noch jeder in den Ofen schieben, und Nudeln kochen mit Pastasauce drüber überfordere die meisten auch nicht. »Schon eine Kartoffel zu kochen, ist aber eine Herausforderung.« Zu den Mitgliedern der Vereinigung gehören unter anderem Nestlé, Unilever und Danone – Großmeister in Sachen Convenience und Kundenverführung.10