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Lockdown, Homeschooling und Social Distancing – der Zweitspracherwerb unter akut veränderten Bedingungen der COVID-19-Pandemie

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Teil I Perspektiven auf Schulunterricht und Schulentwicklung für neu zugewanderte Schüler:innen
Perspektiven von Lehrer*innen auf pandemiebedingte Veränderungen in Vorbereitungsklassen an Schulen in Baden-Württemberg

Satu Guhl/Daniel Rellstab

In diesem Beitrag wird aus Sicht der kritischen Language Policy-Forschung gezeigt, wie Lehrer*innen mit den durch die COVID-19-Pandemie 2020/2021 bedingten Auswirkungen auf die Unterrichtsorganisation und Durchführung des Sprachunterrichts für neu zugewanderte Schüler*innen in Vorbereitungsklassen umgehen. Es werden Ergebnisse von nach dem integrativen Basisverfahren (vgl. Kruse 2015) analysierten episodischen Interviews mit Lehrer*innen in Vorbereitungsklassen an Grundschulen und weiterführenden Schulen in Baden-Württemberg vorgestellt. Die Analysen zeigen, wie der Unterricht während der ersten Schulschließungen im Frühjahr 2020 organisiert wurde, welche Erfahrungen damit gemacht und welche Konsequenzen für die erneute Schulschließung im Januar/Februar 2021 gezogen wurden. Es wird deutlich, wie die Lehrer*innen als lokale Akteur*innen mit Vorgaben, Herausforderungen und gestalterischen Spielräumen umgehen, und welche Rolle auch sprachideologische und sprachpraktische Aspekte dabei spielen (vgl. Spolsky 2017). Über die akute Krisensituation hinausgehend wird so erkennbar, welchen Einfluss Lehrkräfte auf die Ausgestaltung und Umsetzung von Language Education Policies haben.

1 Einleitung

In Baden-Württemberg wurden Vorbereitungsklassen (VKL) in der Annahme eingerichtet, dass Kenntnisse der Schulsprache das Fundament einer gelingenden Integration wären (vgl. Ministerium KJS 2017a). Die Vorstellung, dass durch die Einrichtung von Vorbereitungsklassen „gelingende Integration“ zu bewerkstelligen wäre, ist, wie auch die jüngsten PISA-Studien zeigen, zu einfach; dass die Vorbereitungsklassen selbst komplexe Arenen sind, in welchen nicht bloß die Schulsprache vermittelt und die Lernenden in die Kulturen der Schulen sozialisiert werden, zeigt die bildungs- und sprachwissenschaftliche sowie migrationspädagogische Forschung, die sich mit diesem Bereich des Bildungssystems befasst. Bundesweite (vgl. Massumi/von Dewitz 2015) und länderspezifische Bestandsaufnahmen (vgl. Decker-Ernst 2017) zeigen, wie unterschiedlich die Modelle sind, die in der Bundesrepublik entwickelt wurden, um Kinder und Jugendliche, deren Kenntnisse in der Schulsprache als zu gering betrachtet werden, zu fördern. Aspekte der Segregation, insbesondere bei parallel organisierten Beschulungsmodellen, wurden unter anderem von Karakayalı/Nieden (2018) oder ganz aktuell von Füllekruss/Dirim (2020) in den Blick genommen. Fragen des Spracherwerbs oder der Organisation von Übergängen in den Regelunterricht (vgl. Budde/Prüsmann 2020) sind tendenziell mit Schwerpunkt auf die Sekundarstufe und im Hinblick auf die Gestaltung von Lehr-Lern-Prozessen thematisiert worden. Dabei wird auch aus fachdidaktischer Perspektive zunehmend nach der Erweiterung der auf Lehrkräfte und Schüler*innen bezogenen mikroperspektivischen Ebene und nach der migrationsgesellschaftlichen Einbettung des Geschehens gefragt (vgl. Budde/Prüsmann 2020: 7).

Die sprachenpolitische Perspektive nimmt nicht nur in den Blick, wie sprachenpolitische Vorgaben auf staatlicher Ebene entwickelt und umgesetzt werden. Aktuelle Ansätze berücksichtigen immer auch die Perspektiven unterschiedlicher Akteur*innen auf verschiedenen Ebenen (vgl. Tollefson 2015: 144f.). In der kritischen Language Policy-Forschung (siehe etwa Tollefson 2009) wird dabei auch die Frage danach gestellt, ob bestimmte sprachenpolitische Praktiken für bestimmte Gruppen, zum Beispiel neu zugewanderte Schüler*innen, benachteiligend sein könnten. So weist etwa Shohamy (2009) darauf hin, dass die Entscheidungen darüber, welche Sprachen unterrichtet, wie diese Sprachen unterrichtet, aber etwa auch, wie diese Sprachen getestet werden, keine neutralen Akte sind, sondern durch Ideologien, auch Sprachideologien, geprägt sind. Language Education Policies, so Shohamy (vgl. 2009: 50), entstehen aus einer Vielzahl von Wahrnehmungen über Sprachen und deren Sprecher*innen. Alle beteiligten Akteur*innen, von den Bildungspolitiker*innen bis hin zu den Lehrkräften, sind immer schon durch gesellschaftlich vorherrschende Wissensbestände über natio-ethno-kulturell-linguale (Nicht-)Zugehörigkeit(en) geprägt und positionieren sich aktiv oder passiv dazu (vgl. Füllekruss/Dirim 2020: 79). Lehrer*innen befinden sich aus dieser Perspektive im Zentrum komplexer sprachpraktischer und sprachenpolitischer Prozesse (vgl. Menken/Garcia 2017: 211); und sie sind, wie die Forschung zeigt, ebenfalls zu einem beträchtlichen Maß daran beteiligt, Integration und Inklusion in Bildungsinstitutionen zu ermöglichen oder zu verhindern (vgl. Fettes/Karamouzian 2018).

Die Bandbreite der Praktiken und die spezifischen Mechanismen an Schulen, aus denen die tatsächlich realisierte Sprachenpolitik in den Unterrichtspraktiken resultieren, ist bis jetzt noch unbekannt (Menken/Garcia 2017: 220), und die überaus heterogene Gruppe von Schüler*innen, die als „neu zugewandert“ kategorisiert werden (vgl. Massumi/von Dewitz 2015: 13), befindet sich im Brennpunkt sprachenpolitischer Auswirkungen und multilingualer Spracherwerbsprozesse. Die Sichtweise von Language Policy als Zusammenspiel der Aspekte Sprachmanagement, Sprachpraktiken und Sprachideologien (vgl. Spolsky 2017) erlaubt es, Language Education als Sprachmanagement zu sehen: Management in dem Sinne, dass jemand, der Autorität hat oder zumindest beansprucht, mit der Absicht handelt, die Sprachpraktiken eines Individuums zu beeinflussen oder zu verändern, zum Beispiel seine Sprachkenntnisse zu erweitern (vgl. Spolsky 2017: 5).

Hier setzt unser Beitrag an, welcher den Fokus auf die Lehrkräfte richtet. Während der COVID-19-Pandemie 2020/21 waren Lehrkräfte damit konfrontiert, ihre Unterrichtsorganisation passend zu den jeweiligen landespolitischen Vorgaben auf die besonderen Bedürfnisse der neu zugewanderten Schüler*innen abzustimmen. Wie Lehrkräfte in Vorbereitungsklassen mit der komplexen Gemengelage sprachenpolitischer Vorgaben umgehen, wie sie sich diese aneignen und umsetzen, wurde bislang im deutschsprachigen Raum kaum untersucht; wie sich die durch die COVID-19-Pandemie bedingten Veränderungen auf ihren Schulalltag in der Vorbereitungsklasse auswirken, wurde bislang nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch im öffentlichen Diskurs kaum thematisiert.

Im Rahmen unserer qualitativ-rekonstruktiven Studie zu Language Education Policies im Kontext der Bildung mehrsprachiger neu zugewanderter Schüler*innen in Baden-Württemberg wurden mit Lehrkräften in Vorbereitungsklassen an Grundschulen und weiterführenden Schulen episodische Interviews geführt. Diese wurden nach GAT (vgl. Selting et al. 2009) transkribiert, um eine mikrosprachliche Feinanalyse (vgl. Kruse 2015: 475) im Sinne des integrativen Basisverfahrens (vgl. Kruse 2015) zu ermöglichen. Weitere, insbesondere narrative Analyseverfahren (vgl. Bamberg/Georgakopoulou 2008; Goodwin 2016), wurden als methodische Analyseheuristik für die Feinanalyse integriert, und die Interpretation auf der Folie der kritischen Language Policy-Forschung (z.B. Wiley/García 2016) reflektiert. Dabei wird aus der „Panoramaperspektive“ in die „Nahperspektive“ gewechselt, um „die aus der Ferne wahrnehmbaren Konturen verlässlicher zu erkennen und punktuell genauer zu erkunden“ (Meng 2001: 15).

Die Analyse von vier episodischen Interviews, die im Dezember 2020 und Januar 2021 entstanden und jeweils ca. 90 Minuten dauerten, bietet einen Einblick, wie die Lehrkräfte mit Vorgaben, Herausforderungen und gestalterischen Spielräumen während der Pandemie umgehen. Der Erhebungszeitpunkt erlaubt einen Rückblick auf die erste Schulschließung im Frühjahr 2020 sowie auf die Phase der teilweisen Schulöffnungen im Sommer und Herbst bis hin zu Aktivitäten, um sich auf die drohende erneute Schulschließung im Januar 2021 vorzubereiten. Es wird sichtbar, wie sich die Lehrer*innen selbst positionieren, welche Rollen sie sich im Prozess der Ausgestaltung des Unterrichts zuschreiben, welche Praktiken und Strategien sie entwickeln, wie sie diese legitimieren und welche (sprach-)ideologischen Positionen sie dabei rekonstruieren. Es wird sichtbar, wie sie damit die konkrete Ausgestaltung der Bildungsvorgabe beeinflussen, „neu zugewanderten“ Kindern die Schulsprache in einem Maß zu vermitteln, dass sie an der jeweiligen Schule in den Regelunterricht integriert werden können.

2 Schulische Rahmenbedingungen für Sprachförderung und Vorbereitungsklassen in Baden-Württemberg

Bundesweit liegen verschiedene schulorganisatorische Modelle zur Beschulung neu zugewanderter Schüler*innen vor, die sich zwischen den Polen eines submersiven Modells des Unterrichts in der Regelklasse ohne spezifische Deutschförderung bis hin zu einem parallelen Modell mit Unterricht in speziell eingerichteten Klassen bewegen; zwischen diesen Polen gibt es stärker integrative Varianten von Regelklassen mit zusätzlicher Sprachförderung sowie teilintegrative Varianten, in denen die Schüler*innen in eigenen Klassen beschult werden, aber anteilig bereits am Unterricht der Regelklasse teilnehmen (vgl. Massumi/von Dewitz 2015: 44). Inzwischen zielen alle schulorganisatorischen Modelle darauf ab, einen schnellstmöglichen Übergang in das Regelsystem zu ermöglichen. Wie die politischen Rahmenvorgaben der Länder zur Schulorganisation dann im Detail umgesetzt und konkretisiert werden, obliegt den Schulen (vgl. Massumi/von Dewitz 2015: 44). Die konkreten Rahmenbedingungen dafür unterscheiden sich je nach Bundesland und die tatsächliche praktische Umsetzung ist wiederum je nach Schule unterschiedlich.

 

Die erste Sichtung von sprachenpolitisch relevanten Dokumenten zeigt, dass auf Baden-Württemberg bezogen die „Verwaltungsvorschrift des Kultusministeriums über die Grundsätze zum Unterricht für Kinder und Jugendliche mit nichtdeutscher Herkunftssprache und geringen Deutschkenntnissen an allgemein bildenden und beruflichen Schulen“ vom 1. August 2017 eine zentrale Rolle in Sprachmanagement-Prozessen spielt. Sie bildet die rechtliche Grundlage für Sprachfördermaßnahmen, VKL (Vorbereitungsklassen) und VABO (Vorqualifizierungsjahr Arbeit/Beruf mit Schwerpunkt Erwerb von Deutschkenntnissen) und konkretisiert die Rahmenbedingungen landesspezifisch. Die Vorgaben darin sind zunächst sehr offen:

Kinder und Jugendliche mit nichtdeutscher Herkunftssprache und geringen Deutschkenntnissen besuchen im Bereich der allgemein bildenden Schulen die ihrem Alter und ihrer Leistung entsprechende Klasse der in Betracht kommenden Schulart. Sofern dies aufgrund mangelnder Kenntnisse der deutschen Sprache nicht möglich ist, nehmen sie an besonderen Sprachfördermaßnahmen teil. Sprachförderung kann dabei stattfinden in eigens gebildeten Klassen (Vorbereitungsklassen), in einem Kurssystem oder durch sonstige organisatorische Maßnahmen (zum Beispiel Teilungsstunden, Förderunterricht) der Schule (Ministerium KJS 2017a: 4).

Maßgebend „für die Einrichtung und Klassenbildung“ ist „der Organisationserlass in der jeweiligen Fassung“: „Die Vorbereitungsklasse wird als Jahrgangsklasse oder als jahrgangsübergreifende Klasse geführt“ (Ministerium KJS 2017a: 6). Der genannte Organisationserlass (Verwaltungsvorschrift des Ministeriums für Kultus, Jugend und Sport zur Unterrichtsorganisation und Eigenständigkeit der Schulen) weist für das Schuljahr 2020/2021 für Grundschulen z.B. folgende Punkte aus: Ab einer Mindestschüler*innenzahl von 4 können Sprachförderkurse oder eine „nachgehende” Sprachförderung eingerichtet werden (Teiler bei 16), für diesen Kurs erhält die Schule „im Rahmen der zur Verfügung gestellten Stellen” je Gruppe bis zu vier Lehrerwochenstunden zugeteilt. Ab 10 Schüler*innen kann eine Vorbereitungsklasse gebildet werden (Teiler 24). Darüber hinaus erhalten die zuständigen Schulaufsichtsbehörden für jede genehmigte Vorbereitungsklasse an Grundschulen zwei Lehrerwochenstunden, die sie den Grundschulen „bedarfsgerecht“ zuweisen können (vgl. Organisationserlass 20/21).

Trotz der eingangs in der Verwaltungsvorschrift formulierten Offenheit zeigt eine genauere Analyse, dass der Schule bei einer Anzahl von Schüler*innen zwischen 10 und 20 durch die Einrichtung von Vorbereitungsklassen mehr Ressourcen in Form von Unterrichtsstunden zugehen, als wenn sie Sprachförderkurse bilden. Ob die Vorbereitungsklassen eher parallel oder stark teilintegrativ geführt werden, liegt in der Hand der Schulen bzw. der Schulleitung oder beauftragten Lehrkraft. Aufgrund dieser spezifischen Zuteilung der Ressourcen ist es unter bestimmten Umständen für die Schulen lohnender, Vorbereitungsklassen zu bilden. Insgesamt wird die Arbeit in Vorbereitungsklassen durch das Fachportal Integration – Bildung – Migration des Landesbildungsservers deutlich unterstützt: Die Dokumente, die die Rahmenbedingungen der Vorbereitungsklassen genauer regeln oder die Anregungen für die Arbeit in diesen Klassen geben, sind in deutlich höherer Anzahl vorhanden als diejenigen zur integrativen Sprachförderung (vgl. Fachportal IBM: VKL/VABO 2021).

Falls Vorbereitungsklassen gebildet werden, so regelt die „Verordnung des Kultusministeriums zur Regelung der Stundentafeln für die Vorbereitungsklassen allgemein bildender Schulen” (zum 06.09.2017 aktuellste verfügbare Fassung der Gesamtausgabe) die Anzahl der Stunden genauer und gibt Vorgaben zu den zu unterrichtenden Fächern, wobei Deutsch und Demokratiebildung verpflichtend sind. Zur Koordination der Sprachförder- und Integrationsmaßnahmen erhält die Schule je gebildeter Vorbereitungsklasse eine Entlastungsstunde (vgl. Ministerium KJS 2017b: 7).

Decker-Ernst (2017) stellte bereits auf der Grundlage von Daten aus Baden-Württemberg aus den Schuljahren 2009/2010 (angestrebte Vollerhebung) fest, dass in Baden-Württemberg die Anzahl separat geführter Vorbereitungsklassen (VKL-S) und integrativ geführter Vorbereitungsklassen (VKL-I) vergleichbar ist, zahlenmäßig mit einem leichten Überhang von VKL-S (vgl. Decker-Ernst 2017: 223f.). Dabei entspricht die Einteilung von Decker-Ernst in VKL-S den parallelen bis teilintegrativen Modellen von Massumi und von Dewitz und die VKL-I eher den integrativen Modellen (vgl. Decker-Ernst 2017: 283), wobei die Einteilung von Massumi und von Dewitz die Komplexität und Unterschiedlichkeit der Modelle deutlicher abbildet (vgl. Massumi/von Dewitz 2015: 45). Decker-Ernst stellte darüber hinaus fest, dass Schulleitungen teilweise erfinderisch sind, wenn es um die Zuteilung und den Einsatz von Ressourcen geht (vgl. Decker-Ernst 2017: 224f.). So ist es nicht ausgeschlossen, dass Vorbereitungsklassen auf dem Papier mit den entsprechenden Ressourcen in der Praxis integrativ geführt werden oder aber, dass für Sprachförderung gedachte Unterrichtsstunden anderweitig verwendet werden, beispielsweise für die Krankheitsvertretung.

Laut Decker-Ernst entscheiden ein Drittel der von ihr befragten VKL-Lehrkräfte darüber hinaus selbst, welche Inhalte im Unterricht erarbeitet werden. Eine Vergleichbarkeit der Unterrichtsgrundlagen ist daher nicht gegeben (vgl. Decker-Ernst 2017: 239f.). Bezogen auf die Lehrkräfte erfasst Decker-Ernst ein hohes Engagement bei der Entwicklung curricularer Grundlagen, Unterrichtsmaterialien oder auch von Sprachstandserhebungsverfahren; viele Lehrkräfte zeigten ebenfalls die Bereitschaft zur Übernahme sozialpädagogischer Aufgaben (vgl. Decker-Ernst 2017: 281). Zugleich zeigen ihre Ergebnisse aber auch, dass nur wenige Lehrkräfte über eine spezifische Qualifikation als Lehrkräfte für Deutsch als Zweitsprache verfügen. Dieses Ergebnis erscheint besonders dann besorgniserregend, wenn keine übergreifenden Standards für Unterrichtsinhalte, Ziele und Kompetenzen für die VKL existieren, weil es die Qualität des Unterrichts in Frage stellt; Decker-Ernst weist zusätzlich darauf hin, dass Vernetzungsstrukturen und Weiterbildungen für Lehrkräfte fehlen (vgl. Decker-Ernst 2017: 281). Inzwischen ist in Baden-Württemberg nachgesteuert worden. Für die organisatorische Umsetzung sowie den Unterricht in VKL und VABO stehen unter „Orientierungsrahmen VKL“ und „VABO“ spezifische Hinweise, Erläuterungen und Materialien online zur Verfügung. Diese Materialien sind 2017 erarbeitet und 2019 überarbeitet und deutlich erweitert worden (vgl. Fachportal IBM: VKL/VABO 2021). Das Fachportal Integration – Bildung – Migration zeigt für Baden-Württemberg, dass auch der Aspekt der Fortbildungen und Veranstaltungen stärker berücksichtigt werden soll, allerdings ist die entsprechende Seite zu Veranstaltungen und Fortbildungen noch im Aufbau (vgl. Fachportal IBM: Fortbildungen 2021).

An den Schulen, deren Lehrkräfte an unserer Erhebung teilgenommen haben, liegen unterschiedliche Ausgestaltungen der schulorganisatorischen Modelle vor; bei den für diesen Beitrag ausgewählten Schulen liegen verschiedene teilintegrative Modelle und ein eher paralleles Modell vor. Auch der von Decker-Ernst (2017) angemerkte unterschiedliche und kreative Umgang der Schulen mit den vorgegebenen Ressourcen sowie das hohe Engagement der Lehrkräfte mit gleichzeitig sehr unterschiedlichen Qualifizierungen wurde exemplarisch sichtbar.

3 Sprachunterricht in der pandemiebedingten Krisensituation

Die ausgewählten Interviews mit vier Lehrkräften, zwei davon unterrichten zurzeit in Vorbereitungsklassen an Grundschulen, zwei in Vorbereitungsklassen an weiterführenden Schulen, sind im Dezember 2020 und Anfang Januar 2021 entstanden. In einer der Grundschulen wird die VKL passend zum Schuljahr ein Jahr lang parallel geführt, in der anderen liegt ein teilintegratives Modell vor, in dem die Schüler*innen zwar in allen Fächern von der VKL-Lehrerin unterrichtet werden, im Bereich des Ganztagesangebots aber bereits frühzeitig integriert werden, indem sie z.B. am gemeinsamen Mittagessen und an Wahlangeboten am Nachmittag in altersbezogenen, klassenübergreifenden Gruppen teilnehmen. In der Sekundarstufe liegen teilintegrative Modelle vor, wobei an einer Schule der Sprachunterricht in Anlehnung an die Didaktik von Deutsch als Fremdsprache sehr systematisch nach Lehrgangsprinzip durchgeführt wird.

Die Lehrkräfte blicken in den Interviews auf das Frühjahr 2020 zurück und planen für die kommende Schulschließung im Januar 2021. Zu allen Interviews wurden zunächst Inventarisierungen (vgl. Kruse 2015: 570f.) erstellt, um alle Kernstellen herauszufiltern, in denen die Beschulung während der Pandemie thematisiert wird. So wurde deutlich, welche Themen von allen Lehrkräften angesprochen werden und welche nur von einzelnen. Alle Lehrkräfte berichten über die Organisation des Unterrichts im Frühjahr 2020 während der ersten Schulschließungen, die Durchführung des Wechselunterrichts und Pläne für neue Schulschließungen, das Management der Schulen und die Funktion der Schulleitungen, die Herausforderungen, die sich aus der teils fehlenden, teils erst ganz neu aufgebauten digitalen Infrastruktur der Schulen ergeben, die Organisation der Kommunikation mit Kindern und Eltern. Thematisiert werden von einzelnen Lehrkräften auch die generellen Benachteiligungen der VKL und Auflösungen von VKL, was mit der pandemiebedingten Verschärfung des Lehrkräftemangels in Verbindung gebracht wird.

Für den vorliegenden Beitrag wurden zu den Themen Unterricht per Materialpaket, DaZ-Unterricht digital und VKL als schwächstes Glied der Kette exemplarisch Kernstellen aus den Interviews ausgewählt und ggf. stark unterschiedliche Perspektiven kontrastiert. Diese Kernstellen wurden nach Kruse analysiert (vgl. Kruse 2015: 556). Im Vergleich wird sichtbar, wie die Lehrkräfte die bildungspolitischen Vorgaben unter Pandemiebedingungen umsetzen und wie sie verschiedene Ressourcen und Möglichkeiten, die vorhanden sind, nutzen. Wie die Lehrkräfte die ungewohnte Situation der geschlossenen Schulen oder Varianten von Wechselunterricht erleben, wie sie den Unterricht während dieser unterschiedlichen Phasen ausgestalten, auf welche Ressourcen sie dabei zurückgreifen und welche Rolle sie dabei den Schüler*innen zuschreiben, kontrastiert teilweise stark.