Loe raamatut: «Mord in Switzerland»

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Mord in Switzerland

MITRA DEVI & PETRA IVANOV (HRSG.)

MORD IN SWITZERLAND

18 KRIMINALGESCHICHTEN

Appenzeller Verlag

Die Herausgeberinnen danken der Fondation Jan Michalski

für die grosszügige Förderung dieses Buches


1. Auflage, 2013

© Appenzeller Verlag, CH-9101 Herisau

Alle Rechte der Verbreitung,

auch durch Film, Radio und Fernsehen,

fotomechanische Wiedergabe,

Tonträger, elektronische Datenträger und

auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

Umschlaggestaltung: Eliane Ottiger

Gesetzt in Janson Text und gedruckt auf

90 g/m2 FSC Mix Munken Premium Cream 1.75

ISBN Buch: 978-3-85882-653-4

ISBN eBook: 978-85882-658-9

www.appenzellerverlag.ch

eBook-Herstellung und Auslieferung:

readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

INHALT


Liebe Leserin, lieber Leser
MORD IN SWITZERLAND Erzählen als Suche und Untersuchung Edgar Marsch
AARAU Wie-ein-Mensch Milena Moser
GAIS Tod bei Gais Felix Mettler
LUZERN Luzern – Chicago Mitra Devi
SCHAFFHAUSEN Reinfall am Rheinfall Helmut Maier
BASEL Tod im 36er Philipp Probst
RHEINTAL Regenbogenwolken Alice Gabathuler
LAUSANNE Mord in der Kathedrale Anne Cuneo
STANS Helm – in Blau Andrea Weibel
LOMMISWIL Dinosauriersteak Peter Hänni
ZUG Die Russin Jutta Motz
JURA Ferien im Jura Sam Jaun
WOLLERAU/FREIENBACH Tschingg Michael Herzig
BIEL Fokus Karin Bachmann
RODELS Der Flachwichser Christina Casanova
GLARUS Tod am Tödi Emil Zopfi
KREUZLINGEN Späte Rache Petra Ivanov
ZÜRCHER GOLDKÜSTE Königin der Nacht Peter Zeindler
FRIBOURG Heute abend in F. Susy Schmid
Autorinnen und Autoren

LIEBE LESERIN, LIEBER LESER

Die Idee zu diesem Buch entstand während einer Zugfahrt. Wir hatten eine Ausstellung über das Verbrechen in der Schweiz besucht. In Gedanken versunken, betrachteten wir die Landschaft, die an uns vorbeizog. Die Schweiz präsentierte sich an diesem Frühlingstag von ihrer friedlichsten Seite. Doch wir wussten: Vordergründiges täuscht. Und so begannen wir, unserer Phantasie freien Lauf zu lassen. Wir fragten uns, wie es im idyllischen Einfamilienhaus am Waldrand wirklich zuging. Ob die alte Dame mit dem Tulpenstrauss tatsächlich Gutes im Sinn hatte. Warum der Bauer reglos auf seinem Traktor sass und auf den Acker starrte.

Wir beschlossen, jene zu fragen, die die Schweiz von ihrer düsteren Seite kennen: einheimische Krimiautorinnen und -autoren. Wir baten sie, einen Blick hinter die Kulissen zu werfen und eine Geschichte zu schreiben. Über das grosse Echo freuten wir uns riesig. Schon bald trafen Krimis aus den verschiedensten Regionen, Dörfern und Städten der Schweiz ein.

Möglicherweise werden Sie nach dem Lesen dieser 18 Geschichten nicht mehr ganz so unbeschwert durch die Städte flanieren. Vielleicht werden Sie in Zukunft beim Wandern öfters mal über die Schulter schauen. Ganz sicher werden Sie die Schweiz mit anderen Augen betrachten. Wir wünschen Ihnen viel Vergnügen!

Mitra Devi & Petra Ivanov


ERZÄHLEN ALS SUCHE UND UNTERSUCHUNG

EDGAR MARSCH

«Mord in Switzerland» bietet einen faszinierenden Einblick in die Schweiz und ihre Kriminalliteratur. In jeder Geschichte wird eine Landschaft vorgestellt mit ihren Menschen, deren Mentalität, Problemen und Schwächen, den regionaltypischen Orts- und Eigennamen, den Sitten, den sprachlichen Eigenheiten.

Die hier von Mitra Devi und Petra Ivanov vorgelegte Sammlung zeigt – für den literarischen Werkplatz Schweiz – einen auffallend hohen Pegelstand, in Qualität wie in Zahlen. Die Produktion von Kriminalerzählungen ist vom bescheidenen Rinnsal beinahe zur Flut angeschwollen, ohne dass dieses gewaltige Wachstum der Qualität einen Abbruch getan hätte. Der neuere literarische Kriminalroman der Schweiz setzte in den 1970er-Jahren ein und gewann in den 80er-Jahren an Kraft mit Autoren wie Alexander Heimann, Sam Jaun, Ulrich Knellwolf, Werner Schmidli, Hansjörg Schneider, Martin Suter und Peter Zeindler. Die Gattung boomt heute regelrecht.

Zartbesaitete versus Hartgesottene, schichtenspezifisches Publikum und gattungsspezifische Leserinnen und Leser – solche Sortierungen gelten längst nicht mehr. Es ist bemerkenswert, dass – auch und vor allem in der Schweiz – viele Frauen als Autorinnen in die Fussstapfen von Dorothy L. Sayers und Agatha Christie getreten sind. Dabei steht längst nicht mehr ausschliesslich das Verbrechen im Mittelpunkt. Genauso wichtig sind heute die Frage nach der Gerechtigkeit und das Schicksal von Menschen, die durch Ausbeutung, Misshandlung und Unterdrückung in Bedrängnis oder sonst an den Rand der Gesellschaft geraten sind, wie beispielsweise in den Geschichten von Anne Cuneo oder Jutta Motz.

Das Vorurteil gegenüber Krimis als typisch «männliche Literatur» ist längst widerlegt worden. Genauso ist auch das mit dem einfachen Schema zusammenhängende Vorurteil minderwertiger Unterhaltungsliteratur nicht mehr aktuell, das ungefähr 100 Jahre lang, bis in die Siebzigerjahre des 20. Jahrhunderts, in der Literaturkritik bestimmend war. Längst ist die Kriminalerzählung aus dem löchrigen Mantel eines Clochards der seichten Literatur herausgeschlüpft, hat sich unter den respektierten Gattungen Rang und Ansehen erkämpft und ist seriöser Forschungsgegenstand an den Hochschulen geworden.

Erfahrene Krimileserinnen und -leser werden in Peter Hännis «Dinosauriersteak» das klassische Modell erkennen: Ganz am Anfang ereignet sich der Mord, der Täter ist unbekannt. Ein Detektivduo nimmt die Ermittlungen auf. Die Detektive sammeln Informationen, kombinieren sie und erörtern die Ergebnisse. Leserinnen und Leser werden als Zeugen der Dialoge am Aufklärungsprozess beteiligt. In Karin Bachmanns «Fokus» stehen nicht Detektive, sondern Jugendliche im Mittelpunkt. In Philipp Probsts «Tod im 36er» wird zu Beginn ebenfalls eine Leiche gefunden. Hier ist es eine Journalistin, die Anhaltspunkte sammelt, bis die Tat geklärt ist. Probst nimmt die Geschichte als Anlass, um aktuelle Probleme in der Gesellschaft zu erörtern: Rassismus, Hooliganismus, Bankdatendiebstahl. Genauso ist in Christina Casanovas Geschichte «Der Flachwichser» nicht die Tat selbst das Kernthema; zentral sind die Konflikte, Abgründe und Untiefen im sozialen Beziehungsnetz rund um das Opfer. In Sam Jauns und Alice Gabathulers Erzählungen hingegen spielen die Familienbeziehungen eine wichtige Rolle.

Ein anderes Schema weisen die Geschichten auf, in denen die Täter als Menschen zugänglich werden. In Michael Herzigs «Tschingg» sowie Petra Ivanovs «Späte Rache» kommt die Steuerung der Leser-Sympathie fast einer Umpolung gleich: Die Täter sind nicht mehr die Bösewichte, die von den Guten eliminiert werden, damit die Welt wieder in Ordnung ist. Mitleid entkräftet das Sühnebedürfnis. Am Schluss wird das Opfer verurteilt. Auf ironische Art und Weise wird diese Tendenz zur «Entschuldung» der Täter auch in Susy Schmids «Heute abend in F.» deutlich.

Neuere Kriminalerzählungen setzen zunehmend auf die Frage, was denn Schuld eigentlich sei und wer der oder die eigentlich Schuldige. Dort, wo Täterbiographien im Erzählen berücksichtigt werden, findet eine Art «Humanisierung» der Gattung statt. Auf die «Entmenschlichung» der Täter und Täterinnen wird verzichtet und dafür ihr Schicksal beschrieben. Dabei kann sich die für den klassischen Krimi zentrale Frage «Who dunnit?» (Wer hat die Tat begangen?) völlig verflüchtigen. Emil Zopfis lyrisch-melancholische Erzählung «Tod am Tödi» setzt sogar bei einem Unglücksfall an.

Die wahrscheinlich wichtigste Abweichung gegenüber früheren Kriminalromanen stellt der veränderte Blickwinkel in vielen Geschichten dar: Parallel zur Aufklärungsgeschichte oder mit ihr verwoben findet ein sozialgeschichtlicher oder sozialpolitischer Diskurs statt. Die neueren Autoren und Autorinnen sind bei der Konzeption ihrer Geschichten nicht durch einen engen Tunnelblick bestimmt, sondern öffnen den Blickwinkel und schauen «nach links und nach rechts». Sie loten Umstände, Untiefen, gesellschaftliche Ungereimtheiten, soziale Konflikte, Ungerechtigkeiten, Ausbeutung und Missbrauch aus und befreien so die Verbrechenserzählungen aus der abgeschotteten Laborsituation. Sie stellen sie in einen greifbaren und begreifbaren gesellschaftlichen Rahmen. Die meisten Erzählungen dieser Anthologie folgen diesem neuen Trend, den übrigens Friedrich Glauser schon vorexerziert hat.

Herzigs Pankratius Föhn ist ein abschreckendes Beispiel modernen Unternehmertums. Die Figur ist bestimmt durch ein Übel, das verbreitet auftritt: Ressentiments gegenüber ausländischen Arbeitnehmern, aggressive Fremdenfeindlichkeit, ja Fremdenhass, mit einer Neigung zu sexueller Ausbeutung von Abhängigen. Andrea Weibels berührende Geschichte «Helm – in Blau» handelt von Alma aus Wien, die als Altenpflegerin in der Fremde unterwegs ist und nun in Stans arbeitet. Die ansässige Bevölkerung unterstellt der «kleinen Wienerin», dass sie zu viel trinke, alte Menschen ausnütze, beraube, beerbe und dass diese ihr dann «unter den Händen wegsterben». In Felix Mettlers «Tod bei Gais» wird ein junger Arzt psychisch unter Druck gesetzt.

Einige der Geschichten der Sammlung geben sich verschmitzt, augenzwinkernd. Das kann beim Blick in die Abgründe des Bösen befreiend und entlastend wirken. Wenn die Darstellung dessen, was in der Kriminalerzählung abstösst, ängstigt, erschreckt oder erschüttert, durch die ironische Haltung des Erzählers entkräftet wird, dann gewinnen auch die Leserinnen und Leser gegenüber dem Erzählten befreiende Distanz. Der melodramatische Racheakt, den eine Opernsängerin in Peter Zeindlers «Königin der Nacht» plant, endet ganz anders als erwartet. Auch die Pläne des Täters in Helmut Maiers «Reinfall am Rheinfall» entwickeln sich in eine andere Richtung. In Mitra Devis «Luzern – Chicago» kommt Ironie schon im Gegeneinander der beiden Schauplätze zum Ausdruck. Ironisch wirkt auch der distanziert beobachtende Erzähler. Von Anfang an weiss er alles über das Missgeschick der Hauptfigur. Die Erzählung beginnt mit den Worten: «Zwei Stunden vor dem ersten und letzten Mord, den Julia je in ihrem Leben begehen würde …» In Milena Mosers «Wie-ein-Mensch» setzt die Geschichte mit den überraschenden Worten einer Frau ein, die von ihrem Ehemann daheim in Aarau umgebracht worden sein soll. In Susy Schmids «Heute abend in F.» entlädt sich ironisches Potenzial nicht im Erzählten, sondern in der Beziehung zwischen der Erzählerin und dem Leser. Die Spannung, die in der Geschichte zum Ende hin aufgebaut wird, löst sich in einem befreienden Lachen.

Bei manchen Erzählungen wird sich die Leserin, der Leser die Frage stellen: Ist das noch eine Kriminalerzählung? Sind das noch Kriminalgeschichten? Sie sind es. Sie legen ein Zeugnis dafür ab, wie wandlungsfähig die Gattung ist. Und diese Wandlungsfähigkeit ist auch ein Garant ihrer langen Lebensdauer.


WIE-EIN-MENSCH

MILENA MOSER

Vancouver Island, heute

«Das darf doch nicht wahr sein! Der Idiot hat mich umgebracht!» Amanda liess die Zeitung sinken. Sie war über eine Woche alt. Die Meldung stand auf der Aufschlagseite des Lokalteils: «Fatales Ehedrama in Aarauer Kunstszene».

Aarau, vor über einer Woche

«Was meinst du, was die Häuser hier kosten?» Markovic schaute aus dem Fenster. Das Villenviertel lag im Dunkeln. Gisiger antwortete nicht. Er versuchte, auf dem Bildschirm des neu installierten Navigationssystems die Strasse zu finden, aus der der Notruf gekommen war.

«Meine Frau ist tot!»

Meine leider nicht, hatte Gisiger gedacht, sich aber sofort für diesen Gedanken geschämt. Wer dachte so etwas. Und noch dazu ein Polizist! Gisiger fand es in letzter Zeit immer schwieriger, seine Gedanken zu kontrollieren.

«Ich glaub, ich weiss, wo es ist», sagte Markovic jetzt. «Ich geh hier oben im Wald immer joggen.»

Die Strasse endete in einem Kehrplatz. Gisiger wendete den Wagen und fuhr langsam zurück. Joggen könnte helfen, dachte er. Den Kopf leeren beim Laufen. Manche schwören ja darauf.

«Landhausweg, wenn das kein Euphemismus ist», sagte Markovic, der jeden Tag ein neues Wort lernte. «Protzvillenweg wäre passender!»

Gisiger war nicht sicher, ob «Euphemismus» das richtige Wort dafür war. Doch er wusste auch kein besseres. Und als die Strasse nach der nächsten scharfen Kurve wieder im Nichts endete, fiel ihm dazu nur «Scheisse!» ein.

«Fahr nochmal zurück, die Strasse teilt sich da vorne.» Markovic hatte es irgendwie geschafft, das Display des Navigationssystems zu vergrössern, und fuhr mit dem Finger dem Strassenverlauf nach.

«Scheisse», sagte Gisiger noch einmal.

«Kein Stress. Die Frau ist tot, der Mann läuft nicht davon. Da vorne links, und dann zum Waldrand hoch.»

Ein -ic bei der Kantonspolizei, dachte Gisiger. Das hätte es früher auch nicht gegeben. Wieder ein Gedanke, der nicht zu ihm passte. Gisiger hielt sich für grosszügig, für tolerant. Doch in den letzten Jahren war er bitter geworden. Und er wusste nicht einmal warum.

Markovic war ausserdem der grösste Bünzli, den Gisiger je kennengelernt hatte, schweizerischer als jeder Schweizer. Fleissig, pünktlich, zuverlässig. Dauernd gab er mit seinem Fünfjahresplan an: Beförderung, Heirat, Hausbau, Kinder, in dieser Reihenfolge. Dass man sein Leben planen könnte, wäre Gisiger nie in den Sinn gekommen. Doch er zweifelte nicht daran, dass Markovic seine selbstgesteckten Ziele erreichen würde.

Gisiger war das fremd. Er war eher zufällig zur Polizei gekommen. Eines frühen Morgens nach dem Ausgang war er mit seinen Kollegen vor einem Plakat stehengeblieben, auf dem die Kantonspolizei für Anwärter warb. Die anderen hatten gegrölt: «Hey, Gisi, das wär doch was für dich!» Sie hatten ihn damals schon «Schmieri» genannt, Schmierlappen, Polizist. Er war immer der, der die letzte Runde ablehnte, zum Aufbruch drängte, der die anderen ermahnte, ruhig zu sein, sie daran erinnerte, dass die Nachbarn schon schliefen. Er hatte mit ihnen mitgelacht, aber ein paar Tage später hatte er sich zum nächsten Ausbildungsgang angemeldet. Die Polizeiarbeit gefiel ihm besser, als er erwartet hätte. Sie entsprach seinem Bewusstsein, Teil eines grösseren Ganzen zu sein, Verantwortung zu tragen. Das Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun … Wann hatte er das verloren?

«Hier ist es.» Markovic stieg aus und drückte einen in der Mauer versteckten Knopf. Ein Tor öffnete sich nach innen, es sah aus, als würde ein Efeuvorhang aufgezogen. Dornröschen, dachte Gisiger. Vielleicht ist die Frau gar nicht tot, vielleicht schläft sie nur einen hundertjährigen Schlaf.

Hundert Jahre schlafen! Das wäre Gisigers Traum. Der einzige, der ihm noch geblieben war. Beförderung? Hausbau? Kinder? Allein die Vorstellung machte ihn müde. Noch müder, als er schon war. Morgens, wenn der Wecker läutete, wünschte er sich, der Tag wäre schon vorüber und er könnte wieder ins Bett gehen.

Letzten Monat hatte er eine Informationsveranstaltung besucht: Burn-out im öffentlichen Dienst. Die Teilnahme war vorgeschrieben, sonst wäre wohl niemand hingegangen. In der Kaffeepause hatten sie noch darüber gewitzelt, doch am Ende der Veranstaltung waren alle Flyer weg gewesen. Gisiger hatte den letzten eingesteckt. Auf der Rückseite stand die Nummer des internen Beratungsdienstes. Er hatte noch nicht angerufen.

«Du bist stehen geblieben», sagte Helen, seine Frau. «Du hast dich aufgegeben.»

Gisiger liess den Wagen die kurze, geschwungene Einfahrt hinaufrollen und hielt dann vor dem Haus. In der offenen Türe stand, wie in einem Bilderrahmen, von hinten beleuchtet, die Arme ausgebreitet, der Hausherr.

«Was wetten wir, dass er es war? Hundert Franken?»

Markovic streckte die flache Hand aus. Gisiger zögerte: «Du schaust zu viel fern.»

«Es ist doch immer dasselbe: Erst töten sie ihre Frauen, dann melden sie sie vermisst, dann finden sie sie.»

«Immer dasselbe, hm? Wie oft hatten wir so einen Fall schon?» Die meisten Tötungsdelikte, die sie bearbeiteten, waren, was Markovic «no-brainer» nannte: Fälle, über die man nicht nachdenken musste. Beziehungsdelikte, Messerstechereien, eine Schlägerei mit tödlichem Ausgang – Markovic hatte recht, der Täter war fast immer ein Mann.

«Ich hab ihn gegoogelt», sagte Markovic. «Ein typischer Loser. Erfolgloser Künstler, der von seiner Frau lebt. So was geht nie lange gut. Es ist gegen die Natur.»

«Soso, gegen die Natur!» Gisiger hatte tatsächlich einmal eine Ausstellung von Jonas Murbach besucht. Video-Installationen. Sie hatten ihn nicht beeindruckt. Vielleicht hatte er sie auch einfach nicht verstanden. Grundsätzlich mochte Gisiger Kunst, die er nicht gleich verstand. Die ihn irritierte, tagelang verfolgte, über die er nachdenken musste. Das war seiner Meinung nach die Aufgabe von Kunst. Aber diese Filmchen hatten ihn nur gelangweilt. Gisiger erinnerte sich an die Kritik der Ausstellung, sie war mit süffisanten Hinweisen auf die Position der Frau des Künstlers gespickt gewesen. Amanda Murbach, die Tote, war eine der reichsten Frauen im Kanton. Erbin und Verwalterin einer grossen Kunstsammlung, Gönnerin des Kunstvereins, Sammlerin, Mäzenin. Keine einfache Konstellation, dachte Gisiger. Wobei, einen typischen Loser hatte ihn Helen neulich auch genannt. Er habe keine Visionen. Keinen Ehrgeiz. Genau das hatte ihr früher an ihm gefallen. «Ein Mann, der sich nicht ständig beweisen muss, ist sexy», hatte sie gesagt. Heute wünschte sie offenbar, er hätte auch einen Fünfjahresplan. Gisiger hatte Markovics Verlobte kennengelernt, eine ehemalige Miss-Schweiz-Kandidatin mit sehr weissen Zähnen. Sie strahlte dieselbe unerschütterliche, beinahe arrogante Zuversicht aus wie Markovic.

Wartet nur, hatte Gisiger gedacht. Wartet nur, ihr kommt auch noch auf die Welt!

Seit wann dachte er so etwas?

«Da sind Sie ja! Endlich!»

Murbachs Hemd stand offen, sein Haar war wirr, er fuhr sich mit beiden Händen über den Kopf. Der Mann musste über vierzig sein, er sah gleichzeitig älter und jünger aus. Älter machten ihn seine Augensäcke, die tiefen Falten in der groben Gesichtshaut, die, so vermutete Gisiger, der Alkohol gezeichnet hatte. Jünger wirkte seine lässige Kleidung, sein drahtiger Körper. Unwillkürlich zog Gisiger den Bauch ein.

«Mein Name ist Gisiger, Herr Murbach, das ist mein Kollege, Herr Markovic. Der Amtsarzt ist unterwegs, er sollte jeden Moment hier eintreffen.»

«Ein Arzt? Haben Sie mir nicht zugehört? Es ist zu spät! Sie ist tot! Meine Frau ist tot!»

«Was hab ich gesagt?», raunte Markovic.

Gisiger zuckte die Schultern. Er hatte tatsächlich schon bessere Aufführungen gesehen. Im Laientheater.

«Können wir hereinkommen?», fragte er freundlich. «Wir müssen auf den Amtsarzt warten, der den Tod Ihrer Frau feststellt.»

Gisiger, der Dicke, Gemütliche, würde Vertrauen aufbauen, Markovic, der Smarte, würde dieses Vertrauen dann mit gezielten Fragen durchlöchern. «Good cop, bad cop» nannte man dieses Vorgehen im Fernsehen. «Lösungsorientiertes Kommunikationsmodell» hatte es in der Weiterbildung geheissen.

Murbach führte sie durch die Eingangshalle und einen breiten Flur entlang in ein geräumiges Wohnzimmer. Markovic murmelte die ganze Zeit etwas vor sich hin, das Gisiger im ersten Moment für ein Gebet hielt. War Markovic nicht katholisch? Dann erkannte er die Markennamen: «DeSede, Eames, Corbusier», murmelte sein Kollege vor sich hin.

Die Sitzgruppe war für mindestens zwanzig Personen konzipiert. Murbach führte sie in die am weitesten von der Tür entfernte Ecke. Im Vorbeigehen hob er ein Magazin auf – ART –, nahm einen bunten Seidenschal von einer Rückenlehne.

«Setzen Sie sich.»

Sie setzten sich. Murbach drehte den Schal in seinen Händen zu einer Kordel, wickelte sie um seine Handgelenke, spannte und entspannte sie. Wusste der Mann, was er da tat? Gisiger konnte seinen Blick nicht abwenden.

«Das ist bestimmt nicht einfach für Sie», murmelte er schliesslich.

Murbach blickte auf seine Hände und liess den Schal fallen.

«Oh Gott, was hab ich getan?», stammelte er. «Oh Gott, oh Gott!» Und dann: «Dabei bin ich nicht mal religiös!»

«Hm», machte Markovic. «Warum erzählen Sie uns nicht einfach, was passiert ist? Und bitte von Anfang an!»

Vancouver Island, heute

«Nun – offensichtlich sind Sie ja nicht tot …»

«Nein …» Amanda lächelte entschuldigend. Der grosse Mann, der sich als Officer Lovechild vom Victoria Police Department vorgestellt hatte, sass ihr an dem schmalen Holztisch gegenüber. Er sah aus, wie Amanda sich als Kind einen Indianer vorgestellt hatte. Im Sitzen überragte er noch Endo Roshi, den Leiter des Zen-Centers, der hinter ihm an der Wand stand, die Hände in der Robe versteckt, die Augen mild.

Vor etwas mehr als einem Jahr hatte Amanda frühmorgens das Haus verlassen, um den drei Frauen, die zweimal pro Woche bei ihr putzten, nicht im Weg zu sein. Sie war durch die Gassen der Altstadt geschlendert und beinahe gegen den Passantenfänger gestolpert, der am Ende der Rathausgasse für die Yogaschule und das Zendo Aarau warb. Sie nahm sich einen Flyer und las, dass in zehn Minuten eine Meditationsstunde beginnen würde. Obwohl sie nicht mehr über Zen-Buddhismus wusste, als sie in einem Kriminalroman gelesen hatte, klingelte sie an der Tür. Eine freundliche Frau in einer schwarzen Robe bat sie herein. Sie erklärte nicht viel: «Setz dich auf ein Kissen, richte den Blick nach unten, zähl deine Atemzüge.»

Anfangs hatte sich Amanda äusserst unwohl gefühlt. Ihre Knie taten weh, ihre Schultern spannten, ihre Nase juckte, sie wollte sich die Haare aus dem Gesicht streichen. Sie hörte den Atem der anderen, dann ihren eigenen. Nervös schluckte sie mehrmals hintereinander. Es musste im ganzen Raum zu hören sein. Wie lange sass sie schon hier? Doch zwischendurch erinnerte sie sich immer wieder an ihren Atem: eins … zwei …

Und plötzlich war einen Moment lang Ruhe in ihrem Kopf. Einen Moment lang gab es nur noch das. Eins … zwei … Ihr Name fiel von ihr ab, ihr Erbe, ihre Funktion. Die Frage, die sie seit Jahren quälte, ob ihr Leben überhaupt einen Sinn hatte, ob sie ohne ihr Erbe, ohne ihren Namen überhaupt eine Existenzberechtigung hatte, fiel von ihr ab. Der dumpfe, quälende Schmerz der Entfremdung von ihrem Mann, der ihr diese Bestätigung jahrelang gegeben hatte, fiel von ihr ab. Es gab keine andere Berechtigung als diese: Hier sass sie und atmete. Ob Jonas sie noch liebte oder nicht, sie war da. Sie war da, und sie atmete. Das war alles. Das war genug. Überwältigt schloss sie einen Moment lang die Augen. Sechs … siebzehn … was? Ach so: eins … zwei …

Wieder zu Hause, klopfte sie ganz gegen ihre Abmachung im Park an die Tür des Pavillons, der Jonas als Atelier diente. Sie ignorierte die Irritation, mit der er von seinem Computer aufschaute.

«Jonas», sagte sie. «Jonas, ich habe etwas gefunden!» Doch je länger sie ihm zu erklären versuchte, was sie erlebt hatte, desto fader klang es in ihren Ohren. Schliesslich verstummte sie.

«Ziemlich ironisch», sagte Jonas.

«Ironisch?»

«Ja – siehst du das nicht? Du rennst am Morgen aus dem Haus, um dich irgendwo in der Stadt auf ein Kissen zu setzen, während hier ein ganzes Team von Putzfrauen deinen Dreck wegmacht.»

«Und deinen», wollte Amanda sagen. Sie verstand nicht. Was hatte sie jetzt schon wieder falsch gemacht?

Jonas schaute sie mit einem müden Blick an. Es musste anstrengend sein, immer alles dreimal zu erklären. «Wenn du wirklich irgendwas mit Buddhismus am Hut hättest, würdest du der Reinigungsfirma kündigen und dein Haus selber putzen. Achtsamkeit in jeder alltäglichen Handlung, das ist die Essenz der buddhistischen Lehre. Die kannst du nun mal nicht mit deiner Platinkarte abbuchen!»

«Aber es hat doch gar nichts gekostet!», wollte Amanda noch sagen, aber da hatte er die Kopfhörer schon wieder aufgesetzt. Seither ging sie zwei-, dreimal die Woche ins Zendo.

Irgendwann hatte ihre Lehrerin ihr vorgeschlagen, das Inselkloster in Kanada zu besuchen, in dem sie selber jahrelang gelebt und gelernt hatte.

Amanda hatte sich zu einer vierwöchigen Schweigemeditation angemeldet. Bevor sie abgereist war, hatte sie sich mit ihrem Anwalt getroffen, die Scheidung eingereicht und ihr Haus in Aarau dem Zendo überschrieben.

«Ich muss Ihr … äh … Am-Leben-Sein für die Schweizer Behörden bestätigen», sagte Officer Lovechild. «Ihre Papiere kontrollieren, ihren Flugschein sehen … Und wenn Sie mir erklären könnten, was passiert ist?»

«Möchtest du, dass ich bei dem Gespräch dabei bin?», fragte der Roshi jetzt, und Amanda nickte. Seit einer Woche hatte sie nicht gesprochen. Es war ihr überraschend leicht gefallen. Dafür hatte sie jetzt Mühe, die richtigen Worte zu finden.

Gab es überhaupt Worte für das, was passiert war?

«Wie hätte ich ahnen sollen, dass er mich gleich umbringt?»

Aarau, vor über einer Woche

«Also, was haben Sie getan?»

«Ich habe sie ins Bett gelegt!» Murbach unterdrückte ein Schluchzen. «Ich weiss, ich hätte sie nicht anfassen dürfen, aber ich konnte sie doch nicht einfach so hängen lassen …» Er schlug die Hände vors Gesicht. Gisiger meinte, ihn zwischen den Fingern hindurch blinzeln zu sehen.

«Von Anfang an», wiederholte Markovic streng.

«Ja also, ich war ein paar Tage in den Bergen, im Engadin, wir haben dort ein Haus. Und als ich zurückkam … als ich zurückkam … da sah ich sie … und …»

«Hier?»

«Nein, in der Küche – ich ging in die Küche, um mir etwas zu essen zu machen, und da …»

«Zeigen Sie es uns.»

Als sie aufstanden, knackten Gisigers Knie. Ich sollte wirklich, dachte er. Wirklich was? Wirklich etwas ändern. Etwas tun. Murbach führte sie zurück in die Eingangshalle und von da in die Küche. Ein geräumiger, gemütlicher, altmodischer Raum, der seltsam unbenutzt wirkte. Ein Stuhl lag auf dem Boden, von einem schmiedeeisernen Gitter an der Decke, an dem auch ein paar grosse Pfannen hingen, baumelte ein Stück gelbe Wäscheleine. Eine Inszenierung, dachte Gisiger. Eine schludrige dazu. Wie in seinen Filmchen.

«Und dann?»

«Ich habe – ich glaube, ich hab geschrien! Es kam einfach über mich – ich bin ein emotionaler Mensch, verstehen Sie. Dann hab ich den Stuhl aufgestellt, bin draufgestiegen und hab sie gepackt, hab sie hochgehoben, um den Zug der Wäscheleine zu lockern – aber es war zu spät. Ich fühlte es – es war kein Leben mehr in ihr.»

«Sie fühlten es? Haben Sie es ihr nicht in erster Linie angesehen?»

«Angesehen?» Murbach schien ehrlich verwirrt. «Ich hab die Leine durchgeschnitten, sie nach oben getragen … ich weiss, ich hätte das nicht tun sollen … aber ich konnte nicht klar denken, ich bin nun mal …»

« … ein emotionaler Mensch, ich weiss.» Markovics Stimme verriet nichts.

Er konnte ihr nicht ins Gesicht sehen, dachte Gisiger. Er sah es vor sich, wie eine Szene aus einem von Murbachs nicht ganz zu Ende gedachten Videofilmen. Eine Frau sitzt auf dem Sofa, mit dem Rücken zur Tür, blättert in ihrem Magazin, hört ihn nicht hereinkommen. Er packt sie von hinten, erwürgt sie mit ihrem eigenen Schal, wird dann von plötzlicher Reue übermannt. Er trägt sie ins Schlafzimmer, legt sie ins Bett, den Blick von ihrem Gesicht abgewandt, von ihren blutunterlaufenen Augen, der geschwollenen Zunge. Er deckt sie zu, als würde sie schlafen. Dann Panik – er macht eine Flasche auf, im Dusel denkt er sich diese Inszenierung aus, wählt die Nummer des Notrufs. Er muss sich für sehr viel klüger halten, als er ist – oder uns für sehr viel dümmer.

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