Loe raamatut: «MUSIK-KONZEPTE 191: Martin Smolka»
Ulrich Tadday (Hrsg.)
MUSIK-KONZEPTE 191 I/2021
Martin Smolka
MUSIK-KONZEPTE
Die Reihe über Komponisten
Herausgegeben von Ulrich Tadday
Heft 191
Martin Smolka
Herausgegeben von Ulrich Tadday
Januar 2021
Wissenschaftlicher Beirat:
Ludger Engels (Berlin, Regisseur)
Detlev Glanert (Berlin, Komponist)
Jörn Peter Hiekel (HfM Dresden/ZHdK Zürich)
Laurenz Lütteken (Universität Zürich)
Georg Mohr (Universität Bremen)
Wolfgang Rathert (Universität München)
Print ISBN 978-3-96707-385-0
E-ISBN 978-3-96707-387-4
Umschlaggestaltung: Victor Gegiu
Umschlagabbildung: Jaromír Typlt
Die Hefte 1–122 und die Sonderbände dieses Zeitraums wurden von Heinz-Klaus Metzger und Rainer Riehn herausgegeben.
E-Book-Umsetzung: Datagroup int. SRL, Timisoara
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© edition text + kritik im Richard Boorberg Verlag GmbH & Co KG, München 2021
Levelingstraße 6a, 81673 München
Inhalt
Vorwort
RAINER NONNENMANN
Natur und Nostalgie Intonation, Tradition und Expression der Musik Martin Smolkas
TOBIAS EDUARD SCHICK Martin Smolkas Neubelebung durmolltonaler Harmonik durch Neukontextualisierung und mikrotonale Verfremdung
STEFFEN SCHLEIERMACHER Interview mit einem Viertelton
THOMAS MEYER Eine Ästhetik des Wunderlichen Zur Chormusik von Martin Smolka
JÖRN PETER HIEKEL Martin Smolkas Kafka-Reflexion Vor dem Gesetz
STEFAN DREES Die Bilder auf der Leinwand zum Sprechen bringen Zu den Stummfilmmusiken Martin Smolkas
Abstracts
Bibliografische Hinweise
Zeittafel
Autoren
Vorwort
Martin Smolka studierte Komposition an der Akademie der musischen Künste in Prag. Als Mitbegründer und Mitglied des Agon-Ensembles drangen seine Kompositionen schon früh durch den Eisernen Vorhang gen Westen und wurden an vielen Orten Europas und Nordamerikas aufgeführt. Von zwei unterschiedlichen Ansätzen ausgehend, dem Serialismus auf der einen und der Minimal Music auf der anderen Seite, gelangte Smolka zunächst zu einer Art konkreter Sonoristik, indem er mit Instrumentalklängen arbeitete, die an alltägliche Geräusche erinnern. Seit 1998 wandelte sich sein Stil von der Sonoristik zur Arbeit mit Tönen und Formen eher traditioneller Musik, die Smolka durch Mikrotöne und -intervalle verändert, überformt und collageartig arrangiert.
Die Autoren des vorliegenden Bandes nähern sich dem musikalischen Denken und kompositorischen Schaffen Smolkas aus unterschiedlichen Perspektiven, die gebündelt ein breites Panorama bilden. Zu Beginn untersucht Rainer Nonnenmann die musikalischen Elemente, welche Smolkas Musiksprache formen. Diese wirken fast vormusikalisch, obwohl sie hoch aufgeladen mit Tradition, Ausdruck und Bedeutung sind und dem Hörer ein melancholisches Gefühl von etwas unwiederbringlich Verlorenem vermitteln. In dem sich anschließenden Aufsatz zeigt Tobias Eduard Schick, wie Smolka den traditionellen musikalischen Elementen durch mikrotonale Verfremdung, simultane Schichtung und Neukontextualisierung ihre vormalige Eindeutigkeit nimmt und sie mit poetischem Sinn neu auflädt. In seinem »Interview mit einem Viertelton« reflektiert Steffen Schleiermacher diesen Prozess auf künstlerisch literarische Weise. Thomas Meyer führt anschließend vor Augen, wie in Smolkas Chormusik die Kombination von Einfachheit, feiner Verstimmung, eindringlicher Wiederholung und Klangillustration mit Resten älterer Musiksprache einen seltsamen und magischen Eindruck verschafft, während Jörn Peter Hiekel Vor dem Gesetz als ein komplexes Werk für das Musiktheater interpretiert, in dem Smolka ernste, sachliche, meditative, tief emotionale und groteske Momente miteinander verschränkt und in eine gleichzeitig überraschende wie sinnfällige Dramaturgie einbindet. Am Ende des Bandes lenkt Stefan Drees den Blick auf Smolkas Kompositionen für historische Stummfilme und führt uns Smolkas musikalisches Denken quasi sichtbar noch einmal vor Augen.
Der Herausgeber dankt allen am Band beteiligten Autoren sehr.
Ulrich Tadday
RAINER NONNENMANN
Natur und Nostalgie
Intonation, Tradition und Expression der Musik Martin Smolkas
Die »absolute Musik« ist entweder Form an sich, im rohen Zustand der Musik, wo das Erklingen in Zeitmaass und verschiedener Stärke überhaupt Freude macht, oder die ohne Poesie schon zum Verständnis redende Symbolik der Formen, nachdem in langer Entwickelung beide Künste verbunden waren und endlich die musicalische Form ganz mit Begriffs- und Gefühlsfäden durchsponnen ist.
Friedrich Nietzsche, Menschliches Allzumenschliches (1878)
Ja, ich weiß, daß Sie nicht wissen, wovon ich spreche, denn die Schönheit ist seit langem verschwunden. Sie ist unter der Oberfläche des Lärms verschwunden, des Wörter-, Musik-, Auto-, Buchstabenlärms, in dem wir leben. Sie ist untergegangen wie Atlantis. Von ihr ist nichts geblieben als ein Begriff, der von Jahr zu Jahr sinnentleerter wird.
Milan Kundera, Das Buch vom Lachen und Vergessen (1978, dt. 1980)
Von Jahrzehnten kompositorischer Konstruktion und Dekonstruktion erschöpft, erlebten Publikum und Fachleute nach 1990 auch in Westeuropa die Musik Martin Smolkas als aus nächster Nähe unmittelbar berührende Ansprache und wie aus weiter Ferne wehende Erinnerung an längst Vergangenes und Verlorenes. Diese Musik hat kein Programm oder Narrativ, keine avantgardistische oder gesellschaftspolitische Agenda. Sie hat nichts zu sagen, sondern etwas zu zeigen. Doch Zeigen und Sagen gehören bei ihr zusammen, indem sie das Gezeigte wie von selbst sprechen lässt. Smolkas Kompositionen basieren auf schlichten Elementen, einzelnen Tönen, Intervallen, Akkorden, Gesten, die in ihrer Verknappung vor-musikalisch wirken, als handle es sich um rohe akustische Phänomene. In Wirklichkeit aber ist diese ›tönende Natur‹ von Menschengeist, Herz, Hand und Mund geformt: die Instrumente mit ihren Spielweisen und Klangfarben, das Tonsystem mit seinen distinkten Höhen- und Zeitproportionen, die Quadratur der Rhythmik und Metrik, die Notation mit ihren fünf Linien sowie der Einsatz all dieser Mittel zum Zweck von Harmonik, Melodik, Form, Rhetorik, Stimmung, Atmosphäre, Signal und Bedeutung. Nicht die Musik an und für sich ist bedeutungsvoll, erregend, beredt, expressiv, sondern – wie schon Friedrich Nietzsche feststellte – »ihre uralte Verbindung mit Poesie hat so viel Symbolik in die rhythmische Bewegung, in Stärke und Schwäche des Tones gelegt, dass wir jetzt wähnen, sie spräche direct zum Inneren und käme aus dem Inneren«.1 Der jahrhundertelange expressive Gebrauch der Mittel wurde den Klängen zur zweiten Natur und damit letztlich zum Inbegriff dessen, was man traditionell unter Musik versteht. Seitdem ist jeder bewusst gespielte oder gesungene Ton immer schon musikalisch.
Dem Ton diese Musikalität wieder auszutreiben, war eines der Hauptanliegen der historischen Avantgarden des 20. Jahrhunderts, vor allem der europäischen und US-amerikanischen Nachkriegsavantgarde. Stellvertretend für die Komponistengeneration von Pierre Boulez, Luigi Nono, Bruno Maderna, Luciano Berio, Karel Goeyvaerts, Henri Pousseur und anderen erhob Karlheinz Stockhausen 1953 den Anspruch, »nichts länger zu akzeptieren, das bereits vorgeformt existierte«,2 um stattdessen durch rationale Abstufung sämtlicher quantifizierbarer Parameter (Tonhöhe, Dauer, Lautstärke, später auch Dichte, Ambitus, Register, Raumstelle, Form) eine von allen tonalen Resten befreite, radikal neue Musik zu kreieren. Um auch die qualitative Eigenschaft Klangfarbe demselben Konstruktionsprinzip zu unterwerfen, verzichtete Stockhausen schließlich auf das herkömmliche Instrumentarium und griff stattdessen auf akustische Elementarteilchen zurück, elektronisch generierte Sinustöne, um diese gemäß seinen alle Parameter erfassenden integralen Strukturgesetzen nach entsprechenden Proportionen entweder zu neuen Frequenzspektren zu kombinieren – wie in Studie I (1953) – oder aus dem sogenannten Weißen Rauschen, dem Total aller Frequenzen des hörbaren Schallbereichs, Frequenzbänder unterschiedlicher Breite, Lage und Farbe herauszufiltern – wie in Studie II (1954). Erst damit schien die serielle Nachkriegsavantgarde tatsächlich tabula rasa zu machen.
Indes blieb der puristische Neuanfang mehr Wunsch als Wirklichkeit. Die seriellen Vorstrukturierungen, elektronisch generierten Mixturen, aleatorischen Verfahren, erweiterten Spieltechniken, Geräuschklänge und Einbeziehungen von Alltagsgegenständen, konkreten Natur- und Großstadtklängen erweiterten zwar den bis dato herrschenden Musikbegriff, hatten aber statt der intendierten ›Nicht-Musik‹ letztlich doch alle wieder Musik zur Folge. Die seit Mitte der 1940er Jahre geborenen französischen Spektralisten und westdeutschen Komponisten, die Ende der 1970er Jahre mit dem wenig tauglichen Etikett ›Neue Einfachheit‹ belegt wurden, zogen daraus Schlussfolgerungen, die auch das Schaffen des 1959 in Prag geborenen Martin Smolka prägen. Die Erfahrungen im elektronischen Studio hatten sie gelehrt, dass der Ton- und Hörraum ein nahtloses Kontinuum ist und jenseits diatonischer und chromatischer Abstufungen auch andere Intervalle und Intonationen möglich sind. Dieses Material ließ sich als rein akustische Klangnatur artistisch gestalten und erlebbar machen, weil es das Hören dafür schärft, mikrotonale Differenzen nicht mehr als Fehler im System der traditionellen Skalierung zurechtzuhören, sondern als das wahrzunehmen, was wirklich klingt. Zugleich entfalteten diese mikrotonalen Verstimmungen auch den Charakter expressiver Stimmungen im Sinne von Gestimmtheiten des Gemüts. Und da sich Musik und Musikhören ohnehin nicht von sämtlichen traditionellen Vorprägungen reinigen ließen, erwies es sich als sinnvoller, die bis dato überlieferte Musik verschiedener Zeiten, Kulturen und Weltgegenden zu integrieren statt auszuschließen, um beispielsweise tonale Akkorde und Melodien intonatorisch so zu verfremden, dass sie expressiv neu geladen werden. In seinem Manifest des umgestimmten Komponisten (1996) forderte Smolka daher: »Keine Revolutionen mehr in der Musik, bitte. […] Keine Neue Musik mehr, bitte, sondern Seltsame Musik.«3 Der tschechische Komponist verbindet Intonation, Tradition und Expression in der Tat zu ›seltsamen‹ Koinzidenen von kompositorischen Demonstrationen der Natur des Klangs mit demonstrativer Komposition von Klängen der Natur. Die ebenso starke wie zugleich vergebliche Sehnsucht nach einer seit Langem verschwundenen Schönheit – laut Milan Kundera »untergegangen wie Atlantis« – verleiht dabei Smolkas Musik einen nostalgischen Grundton.
I Expressiver Naturalismus: Rain, a window … (1991/92)
Notenbeispiel 1: Martin Smolka, Rain, a window, roofs, chimneys, pigeons and so … and railway-bridges, too für Kammerensemble (1991/92), T. 1–8, nur Bläser, © Breitkopf & Härtel, Wiesbaden 2003
Mit Skordaturen, Verstimmungen, Mikrotönen und Schwebungen arbeitet Smolka seit der Music for Retuned Instruments für vier Spieler (1988) und den Three Pieces for Retuned Orchestra (1996). Er folgt dabei keinem theoretischen System wie Alois Hába, Ivan Wyschnegradsky, Harry Partch, James Tenney, Ben Johnston, Horațiu Rădulescu oder Wolfgang von Schweinitz, sondern: »Meine einzige Sicherheit ist meine Intuition und meine einzige Methode ist der sehr konzentrierte Gebrauch meiner offenen Ohren.«4 Schon während des Studiums bei Marek Kopelent hatte Smolka mit Vierteltönen experimentiert und Mikrotöne sowohl durch Präparationen des Klaviers gezielt erzeugt als auch unfreiwillig durch verstimmte und reparaturbedürftige Klaviere lieben gelernt.5 In Rain, a window, roofs, chimneys, pigeons and so … and railway-bridges, too für Kammerensemble (1991/92) verwendet Smolka Viertel- und Sechsteltöne. Er versucht damit, Klänge seiner Heimatstadt Prag möglichst naturgetreu nachzubilden, so wie es beispielsweise Leoš Janáček mit Sprachlauten oder Béla Bartók mit Naturlauten im vierten Stück Klänge der Nacht seines fünfteiligen Klavierzyklus Im Freien (1926) getan hatten. Zu Anfang spielen die Holz- und Blechbläser in unregelmäßig schaukelndem 5/4-Takt Zwei- und Mehrklänge versetzt und überlappend (Notenbeispiel 1). Indem Dynamik, Lage, Intonation und Dämpfer ständig variieren, entsteht der Eindruck von durcheinander gurrenden Tauben zwischen quietschenden Fenstern, knarrenden Türen, blechernen Dachluken und quakenden Schornsteinklappen, die vom auf- und abflauenden Wind ständig ein bisschen anders hin und her bewegt werden. Wie in Musik von Morton Feldman – dessen Musik Smolka neben Werken von Giacinto Scelsi, Steve Reich und Harry Partch ab 1983 in dem von ihm und Miroslav Pudlák gegründeten Prager Ensemble Agon kennenlernte und wegen der Konzentration auf wenige einfache Elemente bewunderte6 – sind die Klänge stets ähnlich und doch nie gleich. Ab T. 37 lassen die ›Böen‹ nach und setzt leichter ›Regen‹ ein. Pizzikati von Streichern und Gitarre sowie Fingernageltupfer auf Klaviersaiten, Holz- und Metallschlaginstrumenten tröpfeln »ppp quasi niente« rhythmisch, tonal und farblich differenziert wie auf verschieden resonierende Dachschindeln, Glasscheiben und kupferne Dachpfannen. Die »drops of mild rain, falling down on a window« (T. 47) dauern in Saiten-, Schlag- und Tasteninstrumenten an, um stellenweise zu accelerieren und wieder zu ritardieren. Die Bläser spielen dazu ppp-Liegetöne in Vierteltonabständen, sodass sirrende Schwebungen entstehen wie das obertonreiche Summen elektrischer Geräte mit der Netzgrundfrequenz eines etwas zu hohen g von 50 Hz.
Smolkas Stück handelt »Von Regen, einem Fenster, Dächern, Schornsteinen, Tauben und so … und Eisenbahnbrücken auch«. Die verschiedenen Klänge werden wie Filmsequenzen hart aneinandergeschnitten. Ihre Auflistung erweitert der Komponist im Werkkommentar zu einem Tableau seiner Heimatstadt: »Prag. Das Antlitz einer Stadt. Die einzige Regung darin, in den letzten Jahrzehnten, war ihr Verfall. Die Gebäude wurden langsam baufällig, rostig, öde … Schleichender Tod.« Im Sinne von Beethovens berühmtem Motto zur Pastoral-Sinfonie »Mehr Ausdruck der Empfindung als Malerei« geht es auch Smolka – kaum anders als sinfonischen Dichtungen von Bedřich Smetana und Antonín Dvořák – weniger um ein naturalistisches Porträt der Moldaumetropole. Indem er statt menschliches Sprechen, Singen, Lachen oder Pfeifen ausschließlich Klänge toter Alltagsgegenstände transkribiert, wirken diese umso eindringlicher klagend, gerade wegen ihrer mechanischen Leblosigkeit. Schon im frühen Stück Music, Sweet Music für Sopran und Ensemble (1985–88) hatte Smolka das Quietschen und Ruckeln eines Jahrmarkt-Karussells nachgeahmt. Bestimmend ist dabei seine Absicht, traditionelle Kategorien des Musikalischen zu durchbrechen, um die Wahrnehmung sowohl für die Musikalität von Gebrauchsdingen zu öffnen als auch das Mechanische eine eigene berührende Expressivität und Poesie entfalten zu lassen.7 Rain, a window … vollzieht eine Art Mimikry an die nicht-musikalische Lebenswelt. Das Resultat ist ein akustisches Stillleben aus tönenden Gegenständen, deren Monotonie, Starre und Langsamkeit melancholische Belle Tristesse verbreitet. Naturalismus dient hier der Expression. Denn eigentliches Thema sind die Gefühle und Erinnerungen angesichts der nach 1989 im Zuge von Modernisierung und Renovierung zunehmend verwestlichten tschechischen Hauptstadt. Im Werkkommentar schreibt Smolka über das Stück: »Aber letztendlich handelt es von bitterem Vergnügen und ist eine absurde Nostalgie: jetzt vermisst man, was man früher gehasst hat.«
Zwischen das Quietschen mischen sich ab T. 131 sanft geschlagene Gongs und Glocken. Der akustische Blick aus der Prager Dachkammer weitet sich zum Panorama der unter Rost, Ruß und Smog erstickten ›Goldenen Stadt‹ mit ihren vielen Kirchen und Glockentürmen. Und mit erneut einsetzendem ›Regen‹ und mikrotonal versetzten Liegetönen schleicht sich auch wieder die vor 1989 herrschende quälende Lähmung des ›realexistierenden Sozialismus‹ ein. Alles scheint unverändert weiterzugehen wie bisher. Doch plötzlich bricht lauter Lärm los: Scheppern, Hupen, Pfeifen wie von dröhnenden Baggern, Baumaschinen, Schlagbohrern, Presslufthammern, Schuttkippen. Ab T. 214 wirbeln Snare Drum und Große Trommel, rasseln Metallobjekte auf den sfff angeschlagenen Klaviersaiten und hechelt das Akkordeon schnelle a-Moll-Akkorde. Die skordatierte E-Gitarre brüllt fff mit rockigen Verzerrungen auf, die Streicher betätigen lärmende Rasseln und Klöppel, und das Quietschen der Bläser steigert sich zu schrillem Kreischen. Später kommen hämmernde ff-Unterarm-Cluster auf weißen und schwarzen Tasten hinzu. Mit krachendem Aktionismus und schnellem Tempo Viertel = 200 hält eine hektische neue Zeit Einzug. Die alte Stadt – respektive das bisherige Stück – wird umgekrempelt. Erst ab T. 395 lässt das Wüten wieder nach. Dem energetischen Mittelteil folgen erneut Liegetöne der Bläser wie zu Anfang. In T. 442 spielt die Bassflöte im ruhigen Tempo Viertel = 60 erstmalig eine durchgehende Folge absteigender Vierteltöne, eine Art mikrotonal gestauchter passus duriusculus. Eine ähnlich absteigende Vierteltonmelodie der Flöte in Flying Dog für Ensemble (1990–92) nannte Smolka »ein ideales Medium für den Ausdruck einer etwas traurigen, matten Nostalgie«.8 An die Stelle transkribierter Klänge toter Gegenstände und Maschinen tritt nun der Tonfall eines mit menschlichem Atem hervorgebrachten Klagelauts. Den Schlussteil (T. 502–569) prägen schwebende Liegeklänge der Blechbläser »maestoso« mit leicht erhöhter Quinte und vierteltönig exakt zwischen Dur und Moll liegender Terz (Notenbeispiel 2). Die Forte-Signale sollen möglichst lange im Saal oder auf dem pedalisierten Saitenchor der beiden Klaviere nachhallen. Es sind Imitationen von Hupsignalen schwerer Diesellokomotiven, die im Tal oder zwischen den Häusern der Stadt widerhallen, wie sie der Titelzusatz »… and railway-bridges, too« gleichsam als Coda ergänzt. Mit abfallenden Glissandi zeichnen diese Klänge auch den Dopplereffekt vorüberfahrender oder in Tunnels verschwindender Züge nach.9 Die solenne Schönheit der majestätischen Klänge wird kurz von zwei Einbrüchen des vorherigen ›Baulärms‹ und kreischend hoher Holzbläser wie von schnelleren Nahverkehrszügen unterbrochen. Den Charakter von Abfahrt, wehmütigem Abschied und Ende, vielleicht auch Requiem, unterstreichen schließlich Röhrenglocken, die – nach dem Anschlag in Wasser getaucht – ebenso leicht abwärts glissandieren.
Notenbeispiel 2: Martin Smolka, Rain, a window, roofs, chimneys, pigeons and so … and railway-bridges, too für Kammerensemble (1991/92), T. 502–509, © Breitkopf & Härtel, Wiesbaden 2003
Smolka malt in Rain, a window … ein vielfarbiges Soundscape des alten und rasch sich transformierenden Prag von großer Plastizität, räumlicher Tiefenstaffelung, situativer Assoziations- und atmosphärischer Suggestivkraft. Die Prosa des klingenden Alltags entfaltet eine ganz eigene poetische Ausdruckskraft. Zugleich lässt sich diese Musik auch nicht-programmatisch als rein artistisch-sinnliche Klangkomposition hören, deren permanent abgewandelte, gegen- und übereinander geblendete Pattern an Stücke von Feldman erinnern. Mit der Uraufführung durch das damals junge Ensemble Musikfabrik unter Leitung von Johannes Kalitzke bei den Donaueschinger Musiktagen 1992 reihte sich Smolka in den Kreis von Komponisten und Komponistinnen ein, die regelmäßig bei internationalen Konzertreihen und Musikfestivals aufgeführt werden. Seine Musik erwies sich als eigen und zugleich im Trend sowohl der westlichen ›New Simplicity‹ von Feldman, der US-amerikanischen Minimal Music, der westdeutschen sogenannten ›Neuen Einfachheit‹ als auch vieler anderer osteuropäischer Komponisten, deren Rezeption im Westen durch das Ende des Kalten Kriegs zwar nicht ausgelöst, aber befördert wurde, und die mit teils ähnlich reduzierten und betont traditionellen Materialien eine neo-tonale, häufig auch sakrale oder spirituelle Musik schrieben, wie etwa der Ungar György Kurtág, die Polen Krzysztof Penderecki und Henryk Mikołaj Górecki, der Georgier Gija Kantscheli, der Este Arvo Pärt, der Ukrainer Valentyn Silvestrov und der Lette Pēteris Vasks.